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Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, Stuttgart, 18. November 1903.
Nach Ausgewählte Reden und Schriften, Band I, S. 238–245.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Wenn diese Nummer unserer Zeitschrift erscheint, so ist fast ein volles Vierteljahr verstrichen, seitdem in der Crimmitschauer Textilindustrie der Kampf um den Zehnstundentag entbrannte. Entbrannte lediglich kraft des Willens der Textilgewaltigen, die, vom kurzsichtigsten Profitbegehren gestachelt, die Forderung der gesamten Arbeiterschaft nach der Verkürzung des Arbeitstags, den Ausstand des Arbeitspersonals von fünf Betrieben mit der Massenaussperrung von mehr als 7.000 Lohnsklaven beantworteten. Und der nämliche Wille ist es, kraft dessen der Kampf bis heute weitertobt. Die Hartnäckigkeit, mit welcher die Crimmitschauer Textilbarone jeden ernstlichen Vorschlag zu einer Verständigung, jede Anregung neuerlicher Verhandlungen vor dem Gewerbegericht zurückgewiesen haben, kann nur bei freiwillig Blinden einen Zweifel darüber bestehen lassen, dass die Herren um jeden Preis die Machtprobe bis zu Ende durchführen wollen. Eine Machtprobe, deren Zweck es ist, jenes unbeschränkte Herrsein im eigenen Hause zu befestigen, das dem Kapitalisten ermöglicht, „seinen“ Arbeitern und Arbeiterinnen zuzurufen: „Die Industrie bin ich, der Betrieb bin ich!“ Eine Machtprobe, welche vor allem auch die verhältnismäßig noch jungen Kolonnen der gewerkschaftlich organisierten Textilarbeiter in Crimmitschau sprengen, ihren treuen Schützer, den Verband, kompromittieren, seine Kassen leeren und ihn dadurch für längere Zeit kampfunfähig machen soll. Unverhüllt tritt diese Absicht zutage, wenn man bedenkt, wie berechtigt und wie durchführbar die umstrittene Forderung ist.
Berechtigt: Denn jede Stunde weniger, die die Arbeiter und Arbeiterinnen der Maschine dienen müssen – statt sich ihrer bedienen zu können –‚ in der sie zu einem lebendigen Anhängsel des toten Räderwerkes herabgewürdigt werden, ist ein Gewinn für ihr Menschentum, bringt eine Ersparnis an Gesundheit und Lebenskraft, verleiht ein Mehr an Bildungsmöglichkeit und Lebensglück –, macht tüchtiger zur Pflichterfüllung in der Familie, im proletarischen Klassenkampfe für Freiheit und Kultur. Doppelt und dreifach berechtigt: Denn in der Mehrzahl sind es Frauen, für welche die Wohltat eines kürzeren Arbeitstages begehrt wird, Proletarierinnen, welche Mütter werden, aber auch Mütter sein sollen im höchsten Sinne des Wortes. junge Mädchen, welche für die körperlichen und geistigen Anforderungen der Mutterschaft einen unangetasteten Schatz von Lebensfrische mitbringen, ein reiches Gut an Wissen und Wollen erwerben müssten. Verheiratete Frauen, die mit der Gesundheit des eigenen Leibes die gedeihliche Entwicklung des Kindes im Mutterschoß zu schützen haben, welche der Ruhe und Kraft bedürfen, um die Kleinen pflegen, ihr zartes leibliches und geistiges Lehen behüten zu können. Bedarf es einer wuchtigeren, beredteren Begründung der erhobenen Forderung als die Zahlen über die entsetzlich hohe Kindersterblichkeit im Crimmitschauer Textilproletariat, die wir in früheren Nummern veröffentlicht haben? Sogar ein Unternehmerorgan, die „Textil- und Färberei-Zeitung“, hat gelegentlich des Crimmitschauer Kampfes geschrieben: „Namentlich hinsichtlich der Frauenarbeit können die medizinischen Akten darüber als geschlossen gelten, dass zehn Stunden das höchste Arbeitsquantum sind, das der weibliche Körper ohne ernstliche Benachteiligung ertragen kann.“ Eine ernstliche Benachteiligung des weiblichen Körpers durch zu lange Erwerbsarbeit, was besagt das gleichzeitig anderes als auch eine ernstliche Gefährdung des Geschlechtes, das von dem überanstrengten, geschwächten mütterlichen Organismus getragen und geboren wird?
Und nichts weniger als eine Utopie, eine von heute auf morgen durchführbare bescheidene Reform ist es, gegen welche die Crimmitschauer Spinner- und Weberfürsten sich sträuben. In vielen Zweigen der deutschen Industrie ist dank der gewerkschaftlichen Organisation allgemein oder örtlich die Arbeitszeit schon seit Jahren auf 10, 9½ und 9 Stunden, ja, hier und da noch darunter festgesetzt worden. In der englischen Textilindustrie wurde um die Mitte des vorigen Jahrhunderts der Zehnstundentag eingeführt, für die Arbeiterinnen durch den Zwang des Gesetzes, für die Arbeiter durch das Gebot praktischer Notwendigkeit, angesichts des Handinhandarbeitens der weiblichen und der männlichen Arbeitskräfte. Die letzte Erhebung über die Arbeitszeit der verheirateten Fabrikarbeiterinnen erweist, dass rheinisch-westfälische Textilfabriken sehr gut mit der zehnstündigen Arbeitszeit auskommen. Der Zehnstundentag ist in Forst und Cottbus in Betrieben eingeführt, welche die gleichen Waren erzeugen, die in Crimmitschau fabriziert werden. Die Meraner Textilindustrie hat sich seit vorigem Jahre mit der zehnstündigen Arbeitszeit abgefunden. Warum sollte gerade in Crimmitschau nicht durchführbar sein, was sich so vielfach schon als Gewinn für die Arbeiterschaft, als Vorteil für die Industrie bewährt hat?
Jedoch trotz alledem haben die Fabrikanten der Stadt für die Forderung der Arbeiter nur ein kaltes, protziges „Nein!“ Wohl wäre der eine oder andere von ihnen zu einem Zugeständnis geneigt, sei es, weil er die Berechtigung und Durchführbarkeit der geheischten Reform einsieht, sei es, weil ihm die weitere Dauer des Kampfes mit dem Verlust der Kundschaft, mit dem wirtschaftlichen Ruin droht. Aber über seinem persönlichen Willen steht der machtvollere gemeinsame Wille des örtlichen Fabrikantenvereins, des Verbandes der sächsischen Textilindustriellen, mit einem Worte: die Unternehmerorganisation. Mit starker Hand sorgt diese durch hohe Konventionalstrafen und erbarmungslose Niederkonkurrierung dafür, dass auch nicht einer der Kapitalisten aus der Reihe tanze, nicht einmal der Inhaber des Betriebs, für welchen der Kampf sachlich völlig gegenstandslos ist, da bei ihm der Zehnstundentag bereits besteht. Nicht der Nutzen oder Schaden des einzelnen Fabrikanten ist für sie ausschlaggebend, sie hat vor allem das kapitalistische Klasseninteresse zu wahren. Im Hinblick auf den heiß begehrten Profit mag dieses sich mit der Verkürzung der Arbeitszeit abfinden. Im Hinblick auf die mit ihr verbundene Einschränkung der kapitalistischen Verfügungs- und Ausbeutungsmacht über die Person des Arbeitenden muss sie ihm ein Gräuel und Scheuel sein.
Was alles haben nicht die organisierten Textilfabrikanten um des kapitalistischen Klasseninteresses willen getan? Sie überlieferten gegen 8.000 Arbeiter und Arbeiterinnen samt ihren Angehörigen den bittersten Entbehrungen. Sie legten damit das wirtschaftliche Leben der Stadt lahm, denn ein Drittel ihrer Bevölkerung ist zum Feiern gezwungen, ist in seiner Kaufkraft aufs äußerste beschränkt und trägt die eigene Not in die Kreise der Kleinkaufleute, Handwerker usw. hinein. Sie setzen die Kundschaft der Crimmitschauer Textilindustrie aufs Spiel und züchten geradezu in anderen Textilzentren eine gefährliche Konkurrenz für die Erzeugnisse der Crimmitschauer Spinnerei und Weberei.
Wie das kapitalistische Klasseninteresse auf der einen Seite die Unternehmer zusammenhält, so erweist sich das proletarische Klasseninteresse auf der Seite der Ausgebeuteten als ein ehern umklammernder Reif. Skrupellos hat das Kapital Organisierte und Unorganisierte, Männer und Frauen, Alte und Junge, Sozialdemokraten und Kriegervereinler brotlos aufs Pflaster geworfen. Treu und gewissenhaft stehen sie alle im Bewusstsein proletarischer Interessensolidarität im Kampfe für ihr gutes Recht gegen die Ausbeuter zusammen. Die Not hat bisher ihren unbeugsamen Willen nicht gebrochen; falsche Vorspiegelungen und Verdächtigungen waren ohnmächtig, Misstrauen unter sie zu säen und die Bande des Zusammenhaltens zu lockern; der gleißende Zauber des Goldes vermochte sie nicht zu kirren. An ihrer fest geschlossenen Phalanx prallten alle kapitalistischen Machtmittel ab. Nicht zwingend, wohl aber beratend und stützend steht hinter ihnen der Verband, die gewerkschaftliche Organisation ihrer Berufsgenossen, die zuverlässige Verteidigerin ihrer proletarischen Klasseninteressen.
Es ist ein scharfer, erbitterter Klassenkampf, der sich in Crimmitschau abspielt. Wie unversöhnlich, unüberbrückbar der Klassengegensatz zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten ist, der ihm zugrunde liegt, das beleuchtet eine Tatsache: dass er so heftig, so lange um die maßvolle Forderung des Zehnstundentags geführt wird. Eindringlichst führt er den Frauen und Männern des werktätigen Volkes zu Gemüt, dass es eine kapitalistische Klassenmacht gibt, die nicht überredet, nicht überzeugt werden kann, die gebrochen werden muss – auf dem Gebiet des Wirtschaftslebens wie auf dem Gebiet des Staatslebens. Hat sich denn nicht zur Niederzwingung des Crimmitschauer Textilproletariats die politische Macht des Kapitalistenstaates zu der wirtschaftlichen Macht des Unternehmertums gesellt? Den „meuternden“ Lohnsklaven fallen die lokalen Straßenpolizeiverordnungen in den Arm, welche das Streikpostenstehen meucheln sollen; die Entscheidungen der Gerichtshöfe, welche in diesen Verordnungen keinen hohnvollen Gegensatz zu der reichsgesetzlichen Koalitionsfreiheit, zu dem Urteil des Reichsgerichts über die Zulässigkeit der Streikposten finden und sie als rechtens erklären; die Ministertelegramme, welche Beschwerden über gesetzwidrige Nücken und Tücken der Polizei nicht Gerechtigkeit widerfahren lassen, sondern von Pontius an Pilatus verweisen. Streikposten werden schikaniert, fort gewiesen, verhaftet, bestraft, Versammlungen aufgelöst, Flugblätter konfisziert. Ein außerordentliches Gendarmerieaufgebot kampiert in der Stadt, Gendarmen patrouillieren in den Straßen und stehen vor den Fabriktoren Posten. Crimmitschau gleicht einer Stadt im Belagerungszustand, und dies, obgleich die kämpfenden Arbeiter und Arbeiterinnen die musterhafteste Ruhe und Disziplin bewahren und nicht ein einziger Fall von Ausschreitung vorliegt. Der Kapitalist ist nicht bloß Herr im Hause seines Betriebes, er ist auch Herr im Hause der Gemeinde, des Staates.
Der Klassenkampf in Crimmitschau um den Zehnstundentag ist von hoher Wichtigkeit für das gesamte deutsche Proletariat. Die ausgemergelten tapferen Spinner und Spinnerinnen, Weber und Weberinnen kämpfen nicht bloß für Milderung der eigenen Pein durch Herabsetzung der Arbeitszeit, sie schlagen vielmehr eine bedeutungsreiche Schlacht für die allgemeine Verkürzung des Arbeitstages durch den Zwang des Gesetzes und die Macht der gewerkschaftlichen Organisation. Ihr Kampf beweist, dass das Bedürfnis nach der Verminderung dem täglichen Arbeitsfron – ausgelöst von den Fortschritten der Produktionstechnik und der damit verbundenen intensiveren Anspannung und Ausbeutung der Arbeitskraft, ausgelöst vor allem auch durch den kulturellen Emporstieg des Proletariats – mit elementarer Gewalt auch aus den jämmerlichst gestellten Arbeiterschichten hervorbricht. Heute mit brutalen wirtschaftlichen und politischen Machtmitteln der Kapitalistensippe zurückgedämmt, muss es morgen schon da und dort um so höher emporlodern. Und wo von den Proletariern die Notwendigkeit des gewerkschaftlichen Zusammenschlusses noch nicht genügend gewertet wurde, werden die Flammenzeichen der entfesselten Kämpfe sie eindrucksvoll beleuchten. Die Crimmitschauer Zehnstundenbewegung ist des Weiteren die denkbar schärfste Brandmarkung der rückständigen, schwächlichen deutschen Sozialreform. Scharf umrissen wie die Gemeingefährlichkeit des kapitalistischen Herrenrechts lässt sie die Gewissenlosigkeit der gesetzgebenden Gewalten in Erscheinung treten, dieses Herrenrecht nicht wirksam etwas gezügelt zu haben. Weil es einem Händchen voll Textiljunkern gefällt, sich gegen eine Reform zu wehren, die halbwegs einsichtsvolle Gesetzgeber schon längst geschaffen haben sollten, müssen Tausende von Männern und Frauen die fleißigen Hände ruhen lassen, müssen mit den Ihrigen leiden, wird das Wirtschaftsleben einer ganzen Stadt aufs tiefste erschüttert. Welche Versündigung an dem Wohl und Wehe einer breiten Bevölkerungsschicht, ja, an den Interessen der ganzen Nation!
Möglich, dass die Ausbeutenden und Herrschenden taub bleiben für diese Lehren. Das Proletariat dagegen wird sie um so klarer erfassen und um so zielbewusster für seinen gewerkschaftlichen und politischen Kampf verwerten. Welches auch immer der Ausgang der Zehnstundenbewegung sein sollte, sie selbst wird unmittelbar und mittelbar ein mächtiger Ansporn zum Ringen des Proletariats um Verkürzung des Arbeitstages sein. Ein Sieg aber in Crimmitschau wird der deutschen Arbeiterklasse in nächster Zukunft greifbare Erfolge bescheren. Er bricht das Rückgrat des kapitalistischen Widerstandes gegen die gesetzliche Einführung des Zehnstundentages für die Arbeiterinnen; er beschleunigt und erleichtert den Kampf um den allgemeinen gesetzlichen Maximalarbeitstag; er setzt damit die Kräfte der Gewerkschaften frei, für eine weitere Herabsetzung der täglichen Arbeitszeit zu ringen und die Sozialreform in der gleichen Richtung vorwärts zu treiben. Nicht als demütig Wohltaten Heischende rufen daher die Crimmitschauer Kämpfer ihre Schwestern und Brüder zu tatkräftiger Solidarität auf vielmehr als Mahner an das allgemeine proletarische Interesse, als Empfangende und Gebende zugleich.
Das Crimmitschauer Textilproletariat steht im Kampfe um den Zehnstundentag, der nur eine Etappe zum Achtstundentag ist, auf vorgeschobenem Posten. Im Interesse der deutschen Arbeiterklasse, dank der Solidarität der deutschen Arbeiterklasse darf er kein verlorener sein.
Zuletzt aktualisiert am 28. August 2024