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Clara Zetkin, Wie die radikale Frauenrechtelei Chronik schreibt, Die neue Zeit, 20. Jg., Bd. 2 (1902), H. 10=36, S. 292–300.<
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Unter dem vielversprechenden Titel: Stand der deutschen Frauenbewegung im Beginn des Jahres 1902 [1] erschien kürzlich eine Broschüre, die von Else Lüders im Auftrag des „Verbandes fortschrittlicher Frauenvereine“ bearbeitet worden ist. Wir haben also mehr in ihr zu erblicken, als den ersten größeren Versuch einer jungen Vorkämpferin für die Frauenemanzipation im bürgerlichen Sinne. Wir müssen sie als ein offizielles Dokument der radikalen Frauenrechtelei bewerten, deren Zentralorganisation und geistiges Haupt der genannte Verband ist. Die Verfasserin selbst erklärt in einem kurzen Vorwort, dass ihr nicht die Aufgabe gestellt war, „eine Geschichte der Frauenbewegung zu schreiben, sondern gewissermaßen eine Chronik der Gegenwart, die in späterer Zeit einer Geschichtsschreibung Stützpunkte bieten soll.“ In knapper Form will sie deshalb „eine Übersicht des gegenwärtigen Standes der Frauenbewegung“ geben. Und dies offenbar nicht bloß zu dem Zwecke, das Gedächtnis der Orientierten zu schärfen, ihnen einen klaren und doch umfassenden Gesamtblick über die Entwicklung der deutschen Frauenbewegung zu bieten, vielmehr auch und zwar vor Allem zu dem anderen, die „weiteren Kreise“ zu belehren, welche nach dem Vorwort „mit der Frauenbewegung rechnen und sie kennen zu lernen suchen müssen“.
Erreicht die Broschüre das gesteckte lobenswerte Ziel? Keineswegs. Das Schriftchen enthält eine ziemliche Menge von Material über die Forderungen und Leistungen – zum großen Teile Petitionen an alle möglichen und unmöglichen Instanzen – auf den verschiedenen Gebieten frauenrechtlerischer Betätigung, welche die einzelnen Kapitel behandeln. Die Tatsachen sind offensichtlich mit viel Eifer und gutem Willen zusammengetragen worden. Sie lassen sicherlich auch die Richtung erkennen, in welcher die deutsche Frauenbewegung vorwärtsschreitet, sowie die Fortschritte der letzten Jahre. Allein die betriebsame Zusammenstellung führt weder tiefer in das Wesen der deutschen Frauenbewegung ein, noch macht sie mit den verschiedenen Richtungen und Strömungen in derselben bekannt, mit ihren Unterschieden, ihrer Stärke, ihren Organisationen etc., noch aber gibt sie ein klares, scharf umrissenes Gesamtbild der einschlägigen Erscheinungen. So kann die Broschüre wohl dem, der die deutsche Frauenbewegung schon kennt und verfolgt, innerhalb sehr enger Grenzen ein nützliches Hilfsmittel sein. Sie versagt jedoch in den wichtigsten Punkten als Mittel der Belehrung für die, welche die deutsche Frauenbewegung und ihre Entwicklung erst kennenlernen wollen. Als wesenlose Schemen spuken für diese zum Beispiel die Bezeichnungen „fortschrittliche Frauenrechtlerinnen“, „sozialistische Frauen“ etc. durch das Schriftchen.
Nicht klar ersichtlich ist, ob die Verfasserin sich bloß mit dem Stand der bürgerlichen Frauenbewegung beschäftigen oder ihren Überblick auch auf die sozialistische Frauenbewegung ausdehnen wollte. Aus dem allgemein gehaltenen Titel der Broschüre und einzelnen Angaben in den Abschnitten Arbeiterinnenfrage, Weibliche Gewerbeaufsicht, Politik etc. lässt sich das Letztere schließen. War aber die entsprechende Absicht vorhanden, dann ist zu den betreffenden Einzelabschnitten das Material im höchsten Grad unvollständig und lückenhaft beigebracht worden. Ganz allgemeine Hinweise und Redensarten stehen nur zu oft an Stelle präziser Angaben über bestimmte Tatsachen und Leistungen, und es fehlt auch nicht an groben Irrtümern. Doch schlimmer noch. Die Arbeiterinnenfrage selbst ist mit einer durchaus ungeschichtlichen Beschränkung und Einseitigkeit erfasst. Nach den Zusammenstellungen Else Lüders' scheint es, als ob Arbeitsnachweis, gesetzlicher Arbeiterinnenschutz mitsamt der Gewerbeaufsicht durch Frauen und gewerkschaftliche Organisation das Wesen der Arbeiterinnenfrage, bezw. den Inhalt und das Ziel der sozialistischen Frauenbewegung erschöpfen. Die Arbeiterinnen: frage ist nicht als integrierender Teil der Arbeiterfrage, der sozialen Frage in ihrer vollen Tiefe und Größe gewürdigt, vielmehr lediglich in kleinbürgerlicher Sentimentalität als Reaktion gegen „den allzu starken Druck“ des Unternehmertums auf den Abschluss des Arbeitsvertrags und die Gestaltung der Arbeitsbedingungen. Auch nicht der leiseste Hinweis deutet an, dass der Kern der Arbeiterinnenfrage ein Höheres ist, als das Streben nach Besserung der Arbeitsverhältnisse: der Kampf um Aufhebung des Gegensatzes zwischen Kapitalistenklasse und Proletariat. Kein Satz lässt darauf schließen, dass die sozialistische Frauenbewegung sich grundsätzlich von der bürgerlichen Frauenrechtelei unterscheidet und dann doch noch etwas Anderes erstrebt, als Arbeiterinnenschutzgesetze, gewerkschaftliche Organisirung der Arbeiterinnen, freies Vereins- und Versammlungsrecht und unbehinderte, gleichberechtigte Anteilnahme der Frauen am politischen und sozialen Leben. Kurz, wie die Leistungen der sozialistischen Frauenbewegung nur insoweit und so unvollständig verzeichnet worden find, als die frauenrechtlerische Presse von ihnen Notiz zu nehmen geruhte, so findet auch die Arbeiterinnenfrage, die sozialistische Frauenbewegung nur insoweit Berücksichtigung, als Frauenrechtlerinnen und bürgerliche Reformler den „berechtigten Kern“ zu begönnern sich herabgelassen haben; soweit sie Reformbewegung und nicht revolutionäre Bewegung ist; soweit Gebiete in Frage kommen, auf denen die bürgerliche Frauenbewegung – zumal ihr radikaler Flügel – in „positiver Mitarbeit“ dilettiert. Nur durch den Einfluss des letzteren Umstandes erklärt es sich, dass der Überblick nicht einmal vom Standpunkt bürgerlicher Reformgönnerschaft aus vollständig ist. Es fehlt zum Beispiel ein Kapitel über die Beteiligung der Frauen an der Genossenschaftsbewegung. Und doch sind mehrere Sozialistinnen: Adele Gerhard, Helma Steinbach, Fanny Imle, Gertrud David etc. hervorragend für sie tätig, und die Genossenschaftsleitungen legen der Mitarbeit der Frauen, der Agitation unter den Frauen immer mehr Bedeutung bei, wie die Gründung des Frauengenossenschaftsblattes beweist.
Die Leistungen der Frauen auf dem Gebiet der „Wohltätigkeitsbestrebungen“ hat die Verfasserin von vornherein aus der Übersicht ausgeschieden und nur die „gemeinnützigen Arbeiten“ in ihren Bericht einbezogen. Welches Kriterium für die Scheidung maßgebend gewesen, dafür bleibt sie uns jedoch die Auskunft schuldig. Dass ein Berliner Frauenverein dazu aufforderte, die Konsumentinnen möchten durch einen Druck auf die Konfektionäre die Erstellung von Betriebswerkstätten herbeiführen, ist zum Beispiel verzeichnet, offenbar als eine „gemeinnützige“ Aktion. Die sehr anerkennenswerten Bestrebungen der gemäßigten Frauenrechtlerinnen, insbesondere aber von Frau Förster-Nürnberg, für Reform des Kostkinderwesens find mit keinem Worte erwähnt. Ebenso wenig wird der Gründung von Arbeiterinnen: heimen etc. gedacht, und über die Tätigkeit der Frauengruppe für soziale Hilfsarbeit in Berlin fällt nur gelegentlich eine kurze Bemerkung ab. Warum ist das Eine als „gemeinnützige Arbeit“ vermeldet, so vieles Andere als „Wohltätigkeitsbestrebung“ bei Seite geschoben? Geheimnis und radikale Frauenrechtelei! Mich will bedünken, dass von „gemeinnütziger Arbeit“ und „Wohlfahrtsbestrebungen“ gilt, was die Verfasserin von ersterer und der Frauenbewegung sagt: die Grenzen fließen oft ineinander, und auch die „gemeinnützigen Arbeiten“ können wie die Wohlfahrtsbestrebungen „bestehen, ohne dass die Ideen der Frauenbewegung in ihnen zum Ausdruck zu gelangen brauchen“. Die Einen wie die Anderen stehen mit der Frauenbewegung nur in einem mittelbaren Zusammenhang. Sie kommen für sie als Beweise dafür in Betracht, dass die Frau sich mit Gefühl, Gedanken und Tat über die engen Schranken ihrer Häuslichkeit, ihrer Familie zu erheben vermag, dass sie willig und fähig ist, für weitere Kreise zu wirken, am Leben der Allgemeinheit teilzunehmen und den hier auftauchenden Aufgaben gerecht zu werden. Als Äußerungen weiblichen Bürgersinns und weiblicher Bürgertugend sollen sie mit dazu beitragen, die Forderung der Bürgerrechte des weiblichen Geschlechtes zu begründen. Und eine ganze Reihe frauenrechtlerischer Wohlfahrtsbestrebungen, die über das Almosengeben hinausgehen, dürfen mit dem gleichen Rechte wie „gemeinnützige Arbeiten“ als erste schüchterne Versuche und Anläufe der Frauenrechtlerinnen auf dem Gebiet sozialer Reformarbeit angesprochen werden, als Anläufe, die gewiss oft herzlich unbeholfen sind und wenig Einsicht genug verraten, denen aber doch eine gewisse symptomatische Bedeutung zukommt.
Die Materien Eheschließung, Ehescheidung, Stellung der Frau im Familienrecht, Stellung der ledigen Mutter und des unehelichen Kindes sind in der Broschüre nicht behandelt worden. Jedenfalls weil die bürgerliche Frauenbewegung seit dem Inkrafttreten des neuen Bürgerlichen Gesetzbuchs keine größere Aktion für einschlägige Reformen entfaltet hat. Immerhin musste auch auf diesem Gebiet die Sachlage und die Größe der vorliegenden Aufgaben gezeigt werden. Auch die Bestrebungen, die Frauen durch Wort und Schrift über die Rechtsstellung zu belehren, welche das Bürgerliche Gesetzbuch ihnen anweist, hätten Erwähnung verdient, ebenso die Leistungen der frauenrechtlerischen Rechtsschutzvereine. Von dem Rechtsschutz ist allerdings einmal die Rede, aber nur ganz beiläufig, gelegentlich gewissenhafter Vermerkung der welterschütternden Tatsache, dass es in Deutschland zwei leibhaftige, in der Schweiz geprüfte Juristinnen gibt.
Was die Gliederung des verarbeiteten Materials in einzelne Kapitel anbelangt, so ist sie eine rein äußerliche und lässt die Berücksichtigung des inneren Zusammenhangs vermissen. So gehört doch unstreitig der Überblick über den „Arbeitsnachweis“ zur Arbeiterinnenfrage, ist aber nicht in Verbindung mit dieser behandelt, sondern als besonderer Abschnitt zwischen „Waisenpflege und Vormundschaft“ und „Fürsorge-Erziehungsgesetz“. Die Gewerbeaufsicht gehört für jeden Sachkundigen zur Arbeiterschutzgesetzgebung, die Verfasserin beschäftigt sich aber nicht im Anschluß an diese mit ihr, vielmehr in einem besonderen Kapitel, das nach der Übersicht über die Arbeiterinnenorganisation steht. Die Chronik über die letztgenannte Materie enthält einen Absatz, welcher von dem Berliner Ortsstatut über die Krankenversicherung der Heimarbeiter handelt, also der Zusammenstellung über den Arbeiterinnenschutz angegliedert sein müsste. Die weiter folgende Mitteilung über die bereits erwähnte Aktion eines Berliner Frauenvereins zu Gunsten der Einführung von Betriebswerkstätten hat weder mit der Arbeiterschutzgesetzgebung noch mit der Arbeiterinnenorganisation etwas zu tun, es geht aber mit ihr wie mit der Liebe: „sie kommt, und sie ist da“. Der Abschnitt über das „Frauenstudium“ fügt sich, so sollte man meinen, in innerer Zusammengehörigkeit an denjenigen über die „Mädchenbildung“ an, welcher in der Hauptsache einen Überblick über erhobene Forderungen und erzielte Resultate auf dem Gebiet der Gymnasial- und Realbildung gibt. Die Verfasserin hat jedoch beide durch das Kapitel über „Fach- und Fortbildungsschulwesen“ getrennt. So weist schon ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis und ein flüchtiges Durchblättern der Seiten aus, dass der Stoff in einem bunten Neben- und Nachzusammengewürfelt und nicht zu einem organischen Ganzen verarbeitet worden ist.
Die Kapitel Armenpflege, Waisenpflege und Vormundschaft, Fürsorgeerziehungsgesetz, „Gefängniswesen sind wohl im Allgemeinen trotz mancher schiefen, unzutreffenden Einzelausführung und mancher Lücke am einwandfreiesten. Im Abschnitt Arbeitsnachweis macht es sich unangenehm fühlbar, dass jeder Hinweis auf die Arbeitsnachweise fehlt, die sich in den Händen der Gewerkschaften befinden oder im Wesentlichen ihrer Initiative mit zu verdanken sind. Und doch gibt es unter ihnen solche, die in der Hauptsache „Frauenwerk“ sind. So der paritätische Arbeitsnachweis der Altplätterinnen und -Wäscherinnen in Berlin, der Arbeitsnachweis der Buchdruckereihilfsarbeiter und -Arbeiterinnen zu Berlin, deren Gründung in erster Reihe das Verdienst der Genossinnen Ihrer, Hofmann, Thiede etc. und der von ihnen in die Wege geleiteten gewerkschaftlichen Aktion der betreffenden Arbeiterinnenkategorien ist. Dass auf der Arbeitsnachweiskonferenz zu Köln 1900 Genossin Ihrer als Vertreterin des „Komitees zur Verbesserung der Lage der Kellnerinnen“ befürwortete, bei den kommunalen Arbeitsnachweisen für Arbeiterinnen besondere Abteilungen für das weibliche Gastwirtspersonal zu errichten, musste gleichfalls angeführt werden.
Der Abschnitt über die Sittlichkeitsfrage gibt ein Resumé des Standpunktes bürgerlicher Reformbewegungen, die sozialistische Auffassung skizziert er dagegen nicht. Es ist dies entschieden ein Fehler. Wenn der sozialistische Standpunkt sich auch in gewissen Grenzen und Einzelfragen mit dem der Abolitionisten berührt, so ist er doch nicht mit ihm identisch. Die allgemeinen Ausführungen der Broschüre zur Frage selbst tragen allzu sehr den Stempel der Flüchtigkeit und frauenrechtlerischen Seichtheit. Wenn Fräulein Lüders neben der wirtschaftlichen Noth die „Vererbung“ als Hauptursache der Prostitution aufmarschieren lässt, so setzt sie sich in Widerspruch zu der autoritativsten wissenschaftlichen Fachliteratur. Diese hat sich längst mit aller Bestimmtheit gegen die Auffassung von der Bedeutung der „geborenen Dirne“ für die gewerbsmäßige Prostitution gewendet, gegen jene Auffassung, wie sie besonders von Lombroso und Dr. P. Tarnowski vertreten worden ist. Die „geborene Dirne“ ist sicher unter den „Hausehren“ der oberen Zehntausend so zahlreich anzutreffen, wie unter den gewerbsmäßigen Prostituierten, nur steht sie dort nicht unter sittenpolizeilicher Kontrolle und ist nicht „lasterhaft“, sondern „interessant“. Statt der Vererbung hätte die Verfasserin einen anderen Umstand hervorheben müssen, denn er ist für die moderne Prostitution charakteristisch und unterscheidet sie von demjenigen früheren Zeiten, ist aber nichtsdestoweniger unerwähnt geblieben. Es ist die Tatsache, dass heutzutage neben den reglementierten Dirnen eine unendlich größere Zahl unglückseliger Frauen vorhanden sind, welche die Prostitution ständig neben oder zeitweilig an Stelle ihrer sonstigen Erwerbsarbeit treiben müssen, weil diese sie nicht genügend oder nicht dauernd zu ernähren vermag. Nicht bloß das Lumpenproletariat ist es mithin, welches das Heer der Prostituierten stellt, vielmehr zum überwiegenden Teil das Lohnproletariat. Wie die Würdigung dieses Umstandes, welcher der kapitalistischen Ausbeutung ein Brandmal mehr aufdrückt, so fehlt auch der Hinweis auf die Bedeutung sozialer Reformen für die Eindämmung der Prostitution.
Die Abschnitte über das Bildungswesen stehen unzweideutig im Zeichen der „Damenfrage“. Am Schluss des einen Abschnitts kniet allerdings Else Lüders gar artig vor der Auffassung, dass jugendliche Geschöpfe weiblichen Geschlechtes, die nicht Dank dem Geldbeutel oder der Position der Eltern zur Spielart der „höheren Töchter“ gehören, immerhin doch noch Mädchen und bildungsbedürftig seien. Sie erklärt, dass „Ideal“ aller „sozial denkenden Menschen“ müsse die Einheitsschule sein. Allein dieses Ideal, so muss die Verfasserin kleinlaut eingestehen, ist bisher ohne Einfluss auf das praktische Tun der Frauenrechtlerinnen gewesen. „Vorläufig ist allerdings mehr für die sogenannte höhere Mädchenbildung, als die am meisten im Argen liegende, gearbeitet worden“, mit diesen Worten umschreibt Else Lüders euphemistisch die erklärliche, aber gar nicht „sozialgedachte“ Tatsache, dass die Frauenrechtelei noch nichts für die Einheitsschule getan hat. Nebenbei: die Behauptung, dass die höhere Mädchenbildung „am meisten im Argen liege“, ist ebenso kühn als naiv. Es scheint, die Verfasserin ist soeben vom Monde gefallen und hat nie etwas von einstürzenden preußischen Volksschulhäusern, von überfüllten Gemeindeschulklassen, von mangelndem und überbürdetem Lehrpersonal an Volksschulen, kurz, von der ganzen Misere des Volksschulwesens – zumal in Preußen – gehört. Nicht einmal aus den Witzblättern hat sie die ständige Figur des verhungernden preußischen Volksschullehrers kennen gelernt. Einen vergleichenden Blick auf die staatlichen und kommunalen Budgets für die Gemeinde- und Volksschulen und die höheren Bildungsanstalten für Mädchen scheint sie ihr Lebtag nicht getan zu haben. Wäre es der Fall, sie würde wissen, wo die Dinge „am meisten im Argen“ liegen. Dass die Frauenrechtlerinnen in erster Linie und mit größtem Nachdruck für die Bildung der bürgerlichen Frauen kämpfen, ist geschichtlich bedingt und berechtigt. Niemand wird ihnen daraus einen Vorwurf machen. Wohl aber fordert der Gegensatz die Kritik heraus, der zwischen der einseitigen Vertretung von Klasseninteressen und dem phrasenreichen Gehabe von der „allgemeinen Schwesternschaft“ besteht; wohl aber heischt die Unklarheit Abwehr, welche die Zulassung der Frauen zu den höheren Bildungsanstalten als gleichbedeutend setzt mit der Lösung der Bildungsfrage für das gesamte weibliche Geschlecht.
Der Überblick über die frauenrechtlerischen Aktionen zu Gunsten höherer Frauenbildung zeigt übrigens sinnfällig, wie beschränkt und kurzsichtig die Frauenrechtelei die auf dem Bildungsgebiet vorliegenden Aufgaben erfasst. In der Tat: der Kampf um die Zulassung der Frau zur höheren Bildung begreift mit Notwendigkeit Elemente in sich, die ihn zu einem bedeutsamen, tiefreichenden Kampfe um die gründliche Reform des höheren Bildungswesens überhaupt machen können, ja meines Erachtens machen müssen. Sehr viele und sehr wichtige von den Gründen, die vom hygienischen, wissenschaftlichen etc. etc. Gesichtspunkt aus gegen die höhere Mädchenbildung geltend gemacht werden, wurzeln in Wirklichkeit weder in der Natur der zu verarbeitenden Bildungsstoffe, noch in der Natur der zu bildenden Mädchen, vielmehr in der mangelhaften, unhygienischen, unpädagogischen Gestaltung des höheren Bildungswesens. Man kann dessen Reform zu Gunsten des Frauenrechts auf Bildung nicht fordern, ohne dass man gleichzeitig in einen Kampf eintritt für die dringende Reform des höheren Unterrichts überhaupt. Was tun die Frauenrechtelei? Sie fleht vor jedem ministeriellen Krethi und Plethi um die Gnade, den höheren Bildungsgang der Frauen mit allem Ballast, allem todten Schnickschnack beschweren zu dürfen. Dagegen tritt sie nicht mit dem zehnten Teil von Nachdruck dafür ein, dass der höhere Unterricht befreit werde von der „Urväter Hausrat dreingepfropft“, der weder im Interesse einer wohlverstandenen humanistischen Allgemeinbildung liegt, noch in dem einer besonderen praktischen Berufsbildung; dass eine gründliche Reform des Lehrplans, der Methode etc. etc. Platz greife. Vom Standpunkt zwingender praktischer Notwendigkeiten und des Augenblicksnutzens für die bürgerlichen Frauen ist das erklärlich. Von einer höheren Warte aus betrachtet ist es nichtsdestoweniger sehr kleinlich, sehr kurzsichtig und sehr bedauerlich. Diese engherzige, beschränkte Auffassung der Bildungsfrage wurde übrigens in den letzten Monaten drastisch illustriert durch das Vorgehen deutscher Studentinnen der Medizin in Halle gegen russische Studentinnen. Nicht ein einziges frauenrechtlerisches Organ hat Kritik daran geübt.
Die Ausführungen über die „Arbeiterinnenfrage“ enthalten trotz schwerer Mängel im Allgemeinen und im Einzelnen auch ein sehr erfreuliches Moment. Eine energische Absage an das öde Manchestertum, dem früher auch die deutschen Frauenrechtlerinnen huldigten. Mit der gleichen Wärme wie die gewerkschaftliche Organisation der Arbeiterinnen befürwortet die Verfasserin den gesetzlichen Arbeiterinnenschutz. Unangenehm macht sich aber neben der einsichtsvollen Auffassung die Ungenauigkeit und Dürftigkeit des Berichtes über die sozialistischen Bestrebungen für Erweiterung des gesetzlichen Arbeiterinnenschutzes geltend. Die einschlägigen Beschlüsse der internationalen sozialistischen Kongresse, der sozialdemokratischen Parteitage – insbesondere des zu Hannover –, der sozialistischen Frauenkonferenz zu Mainz sind nicht erwähnt. Kein Satz weist auf die planmäßige und sehr umfangreiche Agitation der Genossinnen in Hunderten von Versammlungen hin. Ihre Eingabe an den Reichstag ist so mangelhaft wiedergegeben, dass nicht einmal die Hauptforderung verzeichnet ist: der Achtstundentag, von anderen geheischten Maßregeln zu schweigen. Des Kampfes, den die sozialdemokratische Reichstagsfraktion bei der Beratung der Gewerbeordnungsnovelle und anderer Gelegenheiten für den gesetzlichen Schutz der Heimarbeit geführt hat, ist nicht gedacht. Dafür wird der gänzlich unzulängliche Antrag Heyl von Herrnsheim, die Mitgabe von Arbeit nach Hause betreffend, in extenso zitiert. Recht sonderbar mutet die Entschuldigung der Verfasserin ob der Freiheit an, die bundesrätliche Verfügung über die Sitzgelegenheit für das Personal von Ladengeschäften anzuführen, „die nicht in das Gebiet der Arbeiterinnenschutzgesetzgebung gehört“. Das sachlich nicht begründete Stoßgebet ist jedenfalls von der irrigen Auffassung diktiert, dass die Handelsangestellten „Damen“ und keine Proletarierinnen seien.
Die Angaben der Schrift über die weibliche Gewerbeaufsicht sind recht ergänzungs- und korrekturbedürftig. Das wiederholte und entschiedene Eintreten für die Neuerung von Seiten der Sozialdemokratie im Reichstag und in Einzellandtagen ist mit Stillschweigen übergangen. Eine allgemeine anerkennende Redensart von dem Verdienst, welches die Agitation in sozialistischen und bürgerlichen Frauenkreisen au der Reform beanspruchen darf, vermag nicht die genaue Anführung der in Betracht kommenden Daten zu ersetzen.
Was die Verfasserin zur Charakterisierung der verschiedenen Richtungen gewerkschaftlicher Organisationen sagt, haftet allzu sehr an der Oberfläche und wird den Wesensunterschieden zwischen ihnen – der Stellung zum Klassenkampf – nicht gerecht. Irrtümlich ist die Behauptung, dass die sozialistischen Frauen sich erst seit der Konferenz zu Mainz die gewerkschaftliche Organisierung der Arbeiterinnen besonders angelegen sein lassen. Sie steht im Widerspruch zu den zahllosen Versammlungen, den vielen Flugblättern etc., durch welche die Genossinnen schon längst für die gewerkschaftliche Organisierung der Arbeiterinnen gewirkt haben. Dass der zweite Gewerkschaftskongress zu Halberstadt eine Statutenänderung der Zentralverbände beschloss, welche den Beitritt weiblicher Mitglieder ermöglichte, ist ganz wesentlich mit dem Verdienst der Tätigkeit, welche die Genossinnen Ihrer, Steinbach, Wabnitz, Rohrlack, Kähler etc. entfaltet haben. Was die Frauenkonferenz zu Mainz für die gewerkschaftliche Arbeiterinnenorganisation angeregt hat, ist eine methodisch betriebene und ausgestaltete Werkstubenagitation neben der Agitation in öffentlichen Versammlungen.
Auch das Kapitel Politik fordert in wesentlichen Punkten die Kritik heraus. Die Bedeutung der politischen Rechte für den Emanzipationskampf des weiblichen Geschlechtes ist nicht genügend gewürdigt. Es fehlt die Angabe der Staaten, in denen Grundbesitzerinnen das Gemeindewahlrecht besitzen, sowie der genauen Bedingungen, an welche die Ausübung des Rechtes geknüpft ist. Der Bericht verzeichnet nicht, dass die Frauen das Wahlrecht zu den Orts Krankenkassen besitzen. Er meldet nichts davon, dass die Sozialdemokratie das Frauenwahlrecht zu allen Einzellandtagen im Reichstag forderte, dass sie es im sächsischen Landtag beantragte, dass sie es wiederholt in verschiedenen gesetzgebenden Körperschaften grundfüglich und nachdrücklich verteidigte. Wohl aber verzeichnet die Broschüre, dass die radikalen Berliner Frauenrechtlerinnen beim preußischen Landtag um die Einführung des allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlrechts für beide Geschlechter zu den Gemeindevertretungen petitionierten. Allerdings verschweigt die Sängerin Höflichkeit dabei schamhaft das Eine Charakteristische: dass die „radikalen“ Damen den Besitz des Wahlrechts von der Entrichtung einer Steuer abhängig gemacht haben wollten. Mit anderen Worten: dass sie von dem stolzen Renner der alten demokratischen Forderung auf den erbärmlichen Köter des Berliner Kommunalfreisinns und der Sonnemannschen Demokratie gekommen sind.
Was das Vereins⸗ und Versammlungsrecht anbelangt, so sündigt die Broschüre ebenfalls durch den Mangel einer Übersicht über die einschlägigen Bestimmungen in den einzelnen Bundesstaaten, nur für Preußen sind sie angegeben. Nirgends ist die skandalöse Praxis des zweierlei Rechtes für Proletarierinnen und Bourgeoisdamen verzeichnet, geschweige denn gebrandmarkt; nirgends das Ausspielen der einzelstaatlichen Gesetzesvorschriften, das Vereinsrecht der Frauen betreffend, gegen die Gewerkschaftsorganisationen, die Koalitionsfreiheit; nirgends die überkühnen Gesetzesdeutungen, kraft deren Kommissionen und Komitees zu „politischen Vereinen“ gestempelt worden sind. Dass „die Widersinnigkeit der beschränkenden Vereinsgesetze“ im letzten Jahre „besonders krass zu Tage getreten“ sein soll, weil die „Gesellschaft für soziale Reform“ im Hinblick darauf die Aufnahme weiblicher Mitglieder ablehnte; weil die Polizei dem Verbandstag fortschrittlicher Frauenvereine einmal recht fein ließ, was ihrerseits den Proletarierinnen gegenüber schon seit langen Jahren billig war: diese Meinung offenbart außer einer ungenügenden Beherrschung des fraglichen Tatsachenmaterials eine einseitige frauenrechtlerische Auffassung, für welche das weibliche Geschlecht erst bei der „höheren Tochter“ und „besseren Frau“ beginnt, für welche die Bourgeoisdame mit ihren Interessen den Nabel des Weltalls bildet. Trägt für Else Lüders vielleicht die behördliche Entscheidung nicht ausgeprägt genug das Brandmal der „Widersinnigkeit“, laut deren der Breslauer Arbeiterinnenverein als „politisch“ aufgelöst wurde, weil in einer Versammlung ein Artikel der Gleichheit verlesen ward, der zur – Sammlung von Arbeitsordnungen aufforderte? Dass in Frankfurt a. M. die Organisation der proletarischen Frauen dem gleichen Schicksal verfiel, weil sie – für die Errichtung einer kommunalen Stellenvermittlung für Dienstboten eingetreten war? Aus der überreichen Fülle der Tatsachen, welche die Handhabung des Vereins⸗ und Versammlungsrechtes als gehässigste, kleinlichste Klassenjustiz erweisen, hat die Verfasserin einen einzigen armseligen Fall herausgegriffen: die Schließung des Frauenbildungsvereins zu Kiel, die obendrein durch richterlichen Entscheid aufgehoben worden ist. Dem zähen Kampfe der Sozialdemokraten für ein freies, einheitliches Vereins⸗ und Versammlungsrecht für beide Geschlechter im Reichstag, in Einzellandtagen, in der Presse, in Hunderten von Versammlungen geht es in der Broschüre „dem kleinen Veilchen gleich, das im Verborgenen blüht“. Nicht das Nämliche gilt dagegen von frauenrechtlerischen und reformlerischen Petitionen etc., die der staunenden Mit- und Nachwelt zu dankbarer Kenntnisnahme überliefert werden. Umso eigentümlicher berührt es, dass das entschiedenste und bedeutsamste Eintreten bürgerlicher Frauenrechtlerinnen für freies Vereins- und Versammlungsrecht nicht erwähnt ist: der Kampf der Dresdener Frauenrechtlerinnen unter Frau Stritt gegen die Verschlechterung des sächsischen Vereins- und Versammlungsrechtes.
Dass die Broschüre lediglich die Stellungnahme der Sozialistinnen zu der Zollfrage verzeichnet, nicht aber zu anderen politischen Erscheinungen; dass sie die Beteiligung der bürgerlichen Frauen an den Friedensdemonstrationen und Kundgebungen zu Gunsten der Burenfrauen und -Kinder als Ansätze zur Beschäftigung mit „internationaler Politik“ feiert, die Beteiligung der Sozialistinnen an den internationalen Kongressen, der Maifeier etc. nicht einmal beiläufig streift: sei als weiteres typisches Beispiel dafür angeführt, wie eine Chronik nicht sein darf, welche der „Geschichtsschreibung Stützpunkte liefern“ soll. Eine sehr sorgfältige und gewissenhafte Durcharbeitung und Ergänzung des Materials, eine sachgemäße Einteilung und Gliederung des Stoffes, eine genaue Präzisierung der einzelnen Tatsachen ist bei einer Neuauflage der Broschüre dringend nötig. Ebenso aber auch eine weniger trockene, reizlose Darstellung, eine weniger saloppe, hier und da unkorrekte Sprache.
Nicht bloß in ihrer allgemeinen Auffassung, in der Bewertung der und jener Erscheinung charakterisiert sich die Broschüre als ein unverfälschtes Produkt radikaler Frauenrechtelei. Vor Allem auch in ausgesprochener Weise in den hervorgehobenen Mängeln. Hier wie da das gleiche Obenhin und Ungefähr des Abfindens mit Problemen und Tatsachen, anders gesagt: der gleiche Mangel an Vertiefung, Genauigkeit, Klarheit. Und so wird es begreiflich, dass im Auftrag des Verbandes fortschrittlicher Frauenvereine, mithin doch auch mit Billigung und unter moralischer Verantwortung des Verbandsvorstandes ein Schriftchen veröffentlicht werden konnte, welches das Gepräge des Unausgereiften, des hastig Zusammengestoppelten, des Unzulänglichen fast auf jeder Seite trägt. Über die Verfasserin hinaus und weit schärfer als gegen sie muss sich deshalb die Kritik gegen die Damen des Vorstandes richten. Dass die Annefleur der radikalen Frauenrechtelei ein quasi offizielles Dokument in die Welt hinausschickt, das der gestellten Aufgabe so unendlich viel schuldig bleibt: beweist einen bedenklichen Mangel an Urteil und einen fast noch bedenklicheren Mangel an Verantwortlichkeitsgefühl. Einen Mangel an Verantwortlichkeitsgefühl, das sei nachdrücklich betont, gegenüber dem Publikum, der Frauenbewegung, und last not least gegenüber der Verfasserin. In diesem Zusammenhang betrachtet, rückt die Broschüre eine der Ursachen jener bemerkenswerten Erscheinung in helles Licht, dass die radikalen Frauenrechtlerinnen bis jetzt auch nicht eine einzige Kraft entwickelt und geschult haben, die auf dem Gebiet der sozialwissenschaftlichen Literatur Reifes, Achtunggebietendes leistet. Die gemäßigten Frauenrechtlerinnen können auf Helene Lange, Gertrud Bäumer etc. verweisen; die christlichen Richtungen auf Elisabeth Gnauck-Kühne und Gertrud Dyhrenfurth. Aus dem Lager der radikalen Frauenrechtlerinnen kann sich niemand den Genannten und Anderen noch als ebenbürtig zur Seite stellen. Das sei nicht bloß konstatiert, sondern im Interesse einer kraftvollen Entwicklung der bürgerlichen Frauenbewegung aufrichtig bedauert.
1. Stand der deutschen Frauenbewegung im Beginn des Jahres 1902. Im Auftrag des Verbandes fortschrittlicher Frauenvereine bearbeitet von Else Lüders. Th. Schröter, Verlag, Zürich (Leipzig, Thalstr.) 1902, 64 .
Zuletzt aktualisiert am 18. Januar 2025