Clara Zetkin

 

Ein unernster Vorschlag zu einer ernsten Sache

(16. Februar 1898)


Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, Nr. 4, Stuttgart, 16. Februar 1898.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
Transkription und HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Mit der Frage der Erringung des Wahlrechts der Frauen zu den Gewerbegerichten beschäftigt sich Fräulein Dr. Juris Augspurg in einem Artikel der „Frauenbewegung“, der offenbar ebenso gut gemeint als in seinen Schlussfolgerungen, milde gesagt, unernst ist. Frl. Augspurg wendet sich dagegen, dass die sozialdemokratische Reichstagsfraktion für das aktive und passive Wahlrecht zu der Arbeiterinnen zu den Gewerbegerichten eintreten soll. Sie gelangt zu dem Schlusse, „dass die von den Arbeiterinnen eingeschlagene Taktik nicht die richtige ist, sondern gewissermaßen eine freiwillige Selbstentäußerung von Rechten bedeutet, welche ihnen die bisherige Gesetzgebung zuerkannt hat“. Ihre Auffassung gründet sie auf die Bestimmungen der Gewerbeordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes, auf welche das Gesetz über die Gewerbegerichte Bezug nimmt. Aus der Textfassung der einschlägigen Paragraphen der Gewerbeordnung ist nach Frl. Augspurg nicht die Absicht des Ausschlusses der Arbeiterinnen ersichtlich, die Vorschriften gelten – soweit nicht ausdrücklich von männlichen Arbeitern die Rede ist – für Arbeiter und Arbeiterinnen. Den Arbeiterinnen soll deshalb eo ipso das echt zustehen, zu den Gewerbegerichten zu wählen. Das Recht der Wählbarkeit aber findet Frl. Augspurg in der folgenden Fassung des § 10 des Gewerbegerichtsgesetzes enthalten: „Zum Mitglied eines Gewerbegerichts soll nur berufen werden, wer das 30. Lebensjahr vollendet hat.“ Ebenso in dem Texte des angezogenen Gerichtsvergasungsgesetzes, das Bezüglich der Nichtwählbarkeit für das Schöffenamt von Personen spricht. Kurz, das Recht der Wählbarkeit der Arbeiterinnen zum Gewerbegericht soll darin begründet sein, dass das Gesetz die unbestimmten Bezeichnungen wer und Personen statt Männer gebraucht. Frl. Augspurg fordert deshalb die Arbeiterinnen auf, „kurzweg den Weg der praktischen Geltendmachung auf Grund des Wortlauts der Gesetz zu beschreiten und bei den nächsten Gewerbegerichtswahlen, wo immer eine Gelegenheit sich dazu bietet, zahlreich auf dem Platz zu erscheinen und mit zu wählen“. Ihrer Ansicht nach müssen die behufs der Entscheidung über das Vorgehen der Arbeiterinnen angerufenen Gerichte zu deren Gunsten urteilen. Die „grammatische und logische Interpretation“ der Gesetzestexte muss ihrer Überzeugung nach ausschlaggebend für die Entscheidung sein. Diese Auslegung fällt nach ihr schwerer ins Gewicht als der klipp und klar ausgedrückte Wille der gesetzgebenden Mehrheit, den Arbeiterinnen das Wahlrecht zu versagen. Über diesen Willen kann kein Zweifel bestehen. Der Antrag Eberty, der für die Arbeiterinnen das Wahlrecht forderte – für das die Sozialdemokraten sehr energisch eingetreten sind – wurde mit großer Majorität abgelehnt.

Im Gegensatz zu Frl. Augspurg sind wir der Ansicht, dass schon mit Rücksicht auf den angeführten Tatbestand die Entscheidung der Richter gar nicht zweifelhaft sein kann, falls tatsächlich Arbeiterinnen so überaus naiv sein sollten, auf den angepriesenen Vorschlag hineinzufallen. Wir erinnern an Entscheidungen und Erklärungen, die Frl. Augspurg in ihrer Eigenschaft als Juristin und Frauenrechtlerin wohl bekannt sein sollten. Der Text des noch geltenden bayrischen Vereinsgesetzes schließt die Frauen keineswegs von öffentlichen politischen Versammlungen aus. Aller „grammatischen und logischen Interpretation“ ohngeachtet aber werden in Bayern die Proletarierinnen von allen öffentlichen Versammlungen ausgeschlossen, auch wenn sie einen durchaus gewerkschaftlichen Charakter tragen. Herr v. Fellitzsch, Minister des Innern, berief sich für die Praxis der Polizei und der Gerichte auf die „Absichten der Gesetzgeber“, obgleich er für diese „Absichten“ keine Gründe angeführt hat, und dieselben wahrscheinlich lediglich in seiner höchst unmaßgeblichen persönlichen Auffassung als klassenstaatlicher Minister zu suchen sein dürften. Mit welch unfehlbarer Sicherheit werden da erst die Gerichte zu Ungunsten der Arbeiterinnen in dem vorliegenden Falle entscheiden, wo, wie angeführt, die Absicht der Majorität der Gesetzgeber in einem unzweideutigen Votum vorliegt.

Dazu muss bezüglich der Entscheidung der Gerichte ein Umstand festgehalten werden, der den Proletarierinnen sehr gut aus eigener bitterer Erfahrung bekannt ist, der aber politisch unschuldsvolle und harmlose Frauenrechtlerinnen nicht kümmert: es kommt nicht bloß darauf an, was in Gesetzen steht, sondern wer Gesetzestexte handhabt. Frl. Augspurg mag sich an der Überzeugung berauschen, kapitalistenstaatliche Gerichte könnten sich durch juristische Haarspaltereien zu einem arbeiterinnenfreundlichen Urteil bewegen lassen. In unserer Zeit des Arbeitertrutzes und der Möchtegern-Entrechtung der proletarischen Massen fehlt dagegen den Arbeiterinnen jede Spur gläubiger Wahnseligkeit, es könnte irgend ein Gericht in irgend einer Frage zu Gunsten der Erweiterung der Arbeiterinnenrechte entscheiden. Die „grammatische und logische Interpretation“, zu kunstsinniger Deutelei zugespitzt, betätigt sich in unseren Tagen nie für, wohl aber stets gegen Arbeiterinnenrecht.

Fräulein Augspurgs Vorschlag gründet in der völligen Nichtbeachtung der allgemeinen politischen Situation, in dem Aberglauben an die Allmacht juristischer Silbenstecherei, in der kritischen Nachäffung der Taktik englischer Frauenrechtlerinnen. Diese haben bekanntlich versucht, gestützt auf unklare, deutungsfähige Gesetzestexte das Wahlrecht durch die „praktische Geltendmachung des Rechts“ zu erringen. Ohne Erfolg, wie Frl. Augspurg aus der Geschichte der englischen Frauenbewegung ersehen und in Genossin Brauns trefflicher Arbeit nachlesen kann: Das Frauenstimmrecht in England (Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik, 10. Band, 3. Heft). Übrigens hat die Aufforderung zur praktischen Geltendmachung des Rechts“ einen höchst ergötzlichen Beigeschmack. Fräulein Augspurg beruft sich auf den Text des Gesetzes, die Schöffengerichte betreffend. Nun hat erst kürzlich zusammen mit Frau Cauer und Frl. Raschke auch ein gewissen Frl. Dr. Jur. Augspurg an den Reichstag um das Recht der Frauen petitioniert, als Schöffen fungieren zu können. Warum hat Frl. Augspurg nicht auch für die Erringung dieses Rechts auf den Weg der „praktischen Geltendmachung“ verwiesen, sondern den alten ausgegangenen Pfad des Petitionierens betreten? In der Begründung der Petition fehlt jeder Hinweis auf das im einschlägigen Gesetzestext enthaltene Wort „Personen“, dessen alleinseligmachende Kraft Frl. Augspurg den Arbeiterinnen anpreist.

In Nichtbeachtung der verschiedenen geschichtlichen Entwicklung von Deutschland und England gucken unsere deutschen Frauenrechtlerinnen sehr gern den Engländerinnen ab, wie sie sich räuspern und wie sie spucken, vorausgesetzt allerdings, dass in der Folge keine hohen Anforderungen an die Energie und an den Mut der frauenrechtelnden deutschen Bourgeoisdamen gestellt werden. Ist dies der Fall, so tritt sofort der Hinweis auf das „lehrreiche Beispiel der englischen Schwestern“ zurück hinter „die nötige Rücksicht auf die Eigenart der deutschen Frau“, die eine Taktik der Halbheit und Feigheit erforderlich erscheinen lässt. Sollte, natürlich unbewusst, die deutsche Arbeiterin etwa für würdig befunden werden, in der Frage des Gewerbegerichtswahlrechts als „Versuchstierchen“ die Demonstrationspolitik englischer Frauenrechtlerinnen den deutschen Bourgeoisdamen plausibel zu machen, deren zage Ängstlichkeit und Lauheit durch das Beispiel der praktischen Geltendmachung des Rechts zu kraftvoller Aktion zu stärken?

Die deutschen Arbeiterinnen, soweit sie aufgeklärt, geschult und diszipliniert sind, würdigen die hohe Bedeutung des aktiven und passiven Wahlrechts zu den Gewerbegerichten. Sie verlassen sich deshalb für die Erringung dieser Rechte nicht auf eine völlig verfehlte Demonstrationspolitik, nicht auf die Zufälligkeiten juristischer Tüfteleien. Sie fordern die Zuerkennung des Rechts durch einen Gesetzestext, der jedes Drehen und Wenden ausschließt. Ihr Recht erwarten sie nicht von frauenrechtlerischen Schnurrpfeifereien, vielmehr von der Macht der sozialdemokratischen Agitation unter den Massen und der sozialdemokratischen Aktion im Parlament. Frl. Augspurg hat es für gut befunden, sich den Kopf über die Taktik der Arbeiterinnen zu zerbrechen. Wir würden es für besser befinden, wenn sie einmal die frauenrechtlerische Taktik der Bittgänge, der Halbheit und Feigheit einer gründlichen Kritik unterziehen würde. Hic Rhodus, hic salta!

 


Last updated 15 August 2023