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Quelle: Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.
Abgehalten zu Hamburg vom 3. bis 9. Oktober 1897, Berlin 1897, S. 188–191.
Nach Ausgewählte Reden und Schriften, Band I, S. 121–125.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Ich gehöre mit zu denen, die darauf hinwirken möchten, dass sich unsere Partei bei den preußischen Landtagswahlen auf die Ebene begibt, die als schiefe bezeichnet worden ist. Mir erscheint sie allerdings als ein ausgedehntes Blachfeld für den Klassenkampf (Rufe: Oho!), wo wir neue proletarische Massen in die Gefechtslinie führen können. Wie lagen die Verhältnisse für uns [auf dem Parteitag] in Köln [1893]? Sie lagen so, dass wir die Frage formulierten: Können wir uns mit Vorteil an den Landtagswahlen beteiligen? Unter Vorteil verstanden wir besonders die Eroberung von Mandaten. Anders liegen die Dinge heute. Heute haben sich die Verhältnisse derart geändert, dass ihr Gebot lautet: Wir müssen uns an den Wahlen zum Preußischen Landtage beteiligen, um schwerwiegende Nachteile zu verhindern. Treffend hat Genosse Auer nachgewiesen, wie zahlreich und vielgestaltig die Verhältnisse sind, auf welche der Preußische Landtag einen bestimmenden Einfluss ausübt, und wie tief er mit seiner Macht eingreift in das alltägliche Leben einer großen Anzahl von Staatsbürgern. Wir stehen jedoch noch einer anderen Erscheinung gegenüber. Je mehr die Sozialdemokratie bei den Reichstagswahlen auf Grund des allgemeinen, gleichen, direkten Wahlrechts vorwärts schreitet von Sieg zu Sieg, je mehr ihr Einfluss steigt, um so größer wird auch die Neigung der Gegner, wichtige, entscheidende Materien aus dem Reichstag abzuschieben in die Einzellandtage (Sehr richtig!), weil es dieselben reaktionären Mächte sind, die zusammengesetzt werden auf Grund von Wahlsystemen, die den Schwerpunkt der Macht in die Hände der Besitzenden legen. Ganz besonders gilt das von dem Preußischen Landtag, der unter der Vorherrschaft des Junkertums steht. Ich bin der Ansicht: Macht kann nur durch Macht bezwungen werden. (Beifall.) Eine Macht aber, die dem Junkertum erfolgreich entgegentritt, kann heute nur dadurch geschaffen werden, dass das Proletariat kämpfend auf der Bühne erscheint.
Und noch in anderer Beziehung hat sich die Situation geändert. Wir haben heute tatsächlich die Erscheinung, dass das Bürgertum ernste oppositionelle Anwandlungen hat. Ich trete durchaus nicht der Wertschätzung der bürgerlichen Demokratie seitens meines Freundes Bernstein bei. Ich vergesse nicht, dass wir nicht eine Bourgeoisie haben, die eine „glorreiche Revolution“ durchgemacht hat wie ihre englische oder eine große Revolution wie ihre französische Schwester. Ich bin eingedenk, dass unsere Bourgeoisie nur ihr 1848 gehabt hat, wo sie aus Furcht vor den ersten instinktiven Zuckungen des Proletariats mit Junkertum und Absolutismus paktiert hat, und ich vergesse nicht über der Opposition von heute den Verrat von gestern. Aber wenn es mir auch nicht einfällt, ihre heutige Opposition etwa einzuschätzen als die Tage eines sonnenkräftigen, Knospen sprengenden demokratischen Lenzes, sondern vielmehr als den bleichen Altweibersommer – und der dauert nicht lange –, übersehe ich doch nicht, dass tatsächlich gegenwärtig die Bourgeoisie der Regierung und dem Junkertum gegenüber ernstlicher als seit langem in der Opposition steht. Bourgeoisie und Junkertum haben vielfach entgegengesetzte wirtschaftliche Interessen, antagonistische politische und soziale Interessen. Heißer ist gegenwärtig der Kampf zwischen ihnen entbrannt, der Kampf zwischen befriedigten und unbefriedigten Appetiten. Und dieser Kampf wird verschärft durch den Zickzackkurs, durch absolutistische Neigungen, die eine moderne Bourgeoisie nicht ertragen kann. Denn die Bourgeoisie – wenn wir absehen von Kapitalmagnaten wie Krupp und Stumm, die sich auch bei feudalen Zuständen wohl befinden und sich zu feudaler Beschränktheit zurückentwickelt haben – braucht ein gewisses Mindestmaß an politischer Freiheit, um ausbeuten zu können. Es ist Pflicht der Sozialdemokratie, dieses Mindestmaß an Freiheit mit erringen zu helfen, nicht der Bourgeoisie zuliebe, sondern im eigenen Klasseninteresse. (Beifall.) Ich bin überzeugt, dass die bürgerlichen Oppositionsanwandlungen schwächer werden in dem Maße, als der Klassenkampf sich zuspitzt. Aber gerade wenn dem so ist, so sage ich: Es ist eine Notwendigkeit, dass das Proletariat in den preußischen Landtagswahlen aktiv auf die Bühne tritt und die Opposition stärkt, bis es schließlich die endgültige Führung im Kampfe gegen die Reaktion übernimmt. Denn vergleichen Sie doch die Haltung der bürgerlichen Opposition im Preußischen Landtag und im Reichstag. Sie werden finden, dass im Reichstag die bürgerliche Opposition, die bei den Wahlen mit der Abrechnung der Massen zu rechnen hat, eine weit schärfere ist als im Preußischen Landtag, wo die Herren hübsch unter sich bleiben. Beteiligen wir uns an den Wahlen zum Preußischen Landtag, so haben wir die beste Gelegenheit zur öffentlichen Abrechnung mit der Politik der Regierung und der Politik aller bürgerlichen Parteien. Auch bezüglich der vom Landtage zu entscheidenden Fragen erscheint dann die Sozialdemokratie klar als die vornehmste Vorkämpferin für die Interessen der Massen.
Es wird behauptet, dass wir nicht imstande sind, die Massen für diesen Kampf zu interessieren; man hat gegen unsere Beteiligung die Schwierigkeiten angeführt, welche der überzeugungstreuen Abstimmung der Arbeiter entgegenstehen. Ja, Genossen, ich frage Sie, wann sind denn je die Schwierigkeiten ein Grund gewesen, um Sozialdemokraten vom Kampfe zurückzuhalten? (Lebhafter Beifall.) Haben uns die Schwierigkeiten in der Gewerkschaftsbewegung abgeschreckt? Haben nicht unsere österreichischen Genossen, die unter ähnlichen Verhältnissen indirekt und mit öffentlicher Abstimmung zu wählen haben, den Kampf aufgenommen? Wann, frage ich Sie weiter, haben wir den Schwerpunkt unserer Beteiligung an den politischen Wahlen allein auf die Eroberung von Mandaten gelegt? Bei aller Wertschätzung der Mandate haben wir doch allzeit betont, dass wir den Schwerpunkt unserer Wahlbeteiligung in ihrer agitatorischen Wirkung auf die Massen erblicken. Bedeutsam sicher ist die positive Arbeit in den Parlamenten, aber als positivste aller Arbeiten haben wir noch stets erachtet, das Denken, die Auffassung der Massen zu revolutionieren. (Lebhafter Beifall.) Die Landtagswahlen bieten uns reichliche Gelegenheit dazu, denn die Agitation muss dann an eine Reihe von Fragen anknüpfen, die von unmittelbarem Lebensinteresse für die Massen sind und die bei der Agitation zu den Reichstagswahlen nicht gründlich erörtert werden können. Mit dem neuen Agitationsstoff packen wir neue Massen. Von dem Augenblick an, wo wir uns an den Landtagswahlen beteiligen, gewinnt das ganze politische Leben Preußens eine ganz andere Perspektive, einen ganz anderen Hintergrund. Es wird aus einem halbfeudalen ein modernes politisches Leben, es tritt in das Zeichen des Klassenkampfes, in dem das Proletariat eine aktive Rolle spielt, und aus diesem Grunde halte ich unsere Beteiligung an den Landtagswahlen für notwendig. Und weiter auch mit Rücksicht auf die Beseitigung des Dreiklassen-Wahlsystems. Kommen Sie nicht damit, wir werden dieses Wahlsystem vermittels des Reichstages beseitigen. Ich bin überzeugt, dass vielmehr die Tendenz der politischen Entwicklung Deutschlands den anderen Weg gehen wird: Bedrohung des allgemeinen, gleichen Wahlrechts zum Reichstag durch die Einzellandtage. Der Vorstoß gegen das Vereins- und Versammlungsrecht spricht sehr dafür. (Lebhafte Zustimmung.) Außerdem ist die Wahlenthaltung die schwächlichste jeder Protestaktion. (Sehr richtig!) Wenn wir den bloßen Protest beschließen, werden unsere Gegner sich ins Fäustchen lachen. Sie werden sagen, wir lassen euch sehr gern das billige Vergnügen, gegen uns zu protestieren, wir behalten die Macht, euch zu diktieren. (Lebhafter Beifall.) Und, Genossen, eine äußerliche Demonstrationspolitik ist bei uns undurchführbar bei dem Charakter der Deutschen und unserer gesamten geschichtlichen Entwicklung. Das zeigt auch die Geschichte und der Charakter der Maifeier. Ich versichere Ihnen eins: So bereit ich jederzeit bin, meine Person einzusetzen in den Klassenkampf, möchte ich nicht die Verantwortung übernehmen, angesichts der gegenwärtigen hysterischen Nervosität der Herrschenden zu einer rein äußerlichen Demonstrationspolitik zu drängen. Der wichtigste Protest bleibt die Wahlaktion, die Wahlbeteiligung. (Beifall.)
Wenn wir nicht Erfolge erringen in Gestalt von Mandaten, so bin ich doch überzeugt, dass die Saat, die wir ausstreuen, üppig in die Halme schießt und dass wir sie einernten werden bei den Reichstagswahlen. (Beifall.) Auch was Liebknecht aus Bosheit, aber mit ganzer Opferfreudigkeit in Sachsen gesät hat, er wird es bei den nächsten Reichstagswahlen für die Ernte reif finden. (Beifall.)
Wenn wir uns in Preußen an den Landtagswahlen beteiligen, so wird auch hier das Wort gelten, des bin ich überzeugt: Heute wagen wir, über ein Weilchen schlagen wir! (Stürmischer Beifall und Händeklatschen.)
Zuletzt aktualisiert am 13. August 2024