MIA > Deutsch > Marxisten > Zetkin
Quelle: Die Neue Zeit, 15. Jahrgang 1896/97, 1. Band, Heft 25, S. 783–789.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Der Sozialistische Akademiker (jetzt: Sozialistische Monatshefte) schenkte der Frauenfrage große Beachtung. Wiederholt schon erschienen in seinen Spalten Artikel, welche einzelne Seiten derselben erörterten. Die Nummern 10, 11 und 12 des letzten Jahrgangs enthalten abermals Beiträge über das Problem. Direkt oder indirekt stehen die betreffenden Arbeiten im Zeichen des Internationalen Frauenkongresses, und zwar nicht bloß äußerlich. Die bedeutendste und anregendste von ihnen ist unstreitig Wally Zeplers Artikel: Der Internationale Frauenkongress (Nr. 10). An eine wohlwollende, aber immerhin kritische Charakterisierung des Internationalen Frauenkongresses knüpft die Verfasserin Erörterungen über die historische Bedeutung der bürgerlichen und der proletarischen Frauenbewegung. Ihr Ausgangspunkt ist die These, dass „die Bedeutung einer Bewegung identisch ist mit ihrer Bedeutung für die Fortentwicklung der Menschheit“. Die Bedeutung der Frauenbewegung überhaupt als une et indivisible aufgefasst, als Trägerin der „Wandlung der Frau als Klasse“, beruht nun nach der Verfasserin darin, dass in ihr ein ganz neuer Frauentypus, Menschentypus sich emporringt: die neue Frau. Den Beweis für das allmähliche Werden dieses Typus findet Wally Zepler in der zeitgenössischen internationalen Literatur, denn „der Dichter ist nur der mit feinerer psychologischer Erkenntnisgabe ausgestattete Zeichendeuter der Zeit“. Wodurch unterscheidet sich der neue von dem alten Frauentypus? Nach der Verfasserin „ebenso sehr durch die Höhe der geistigen Entwicklung, als durch die Verschiedenheit der sittlichen Anschauungen“. Die historische Bedeutung der bürgerlichen Frauenbewegung erblickt sie darin, dass diese den Typus der neuen Frau nach der einen Richtung hin entwickelt, das Ideal hoher Geistesbildung der Frau schafft und verwirklicht. Diesen Typus in der anderen Richtung zu zeitigen, das Ideal freier Sittlichkeit der Frau herauszuarbeiten, darin beruht dagegen der Wert der proletarischen Frauenbewegung. Denn: „So wenig aus den gänzlich zersetzten und unnatürlich geschlechtlich-sittlichen Zuständen der bürgerlichen Gesellschaft eine Umgestaltung der geschlechtlichen Beziehungen und damit eine Umwertung der sittlichen Begriffe herauswachsen konnte, vielmehr die Reaktion auf diese Zersetzung in einem Zurückgreifen auf ein vergangenes, asketisches Ideal bestand, so wenig konnte die proletarische Frau aus ihrer materiellen Not und geistigen Unbildung heraus zu einem Ideal geistiger Höhe gelangen.“ Der neue Frauentypus kann, wie die Verfasserin betont, seine Verwirklichung erst in einer sozialistischen Gesellschaft haben, denn in dieser erst sind die Vorbedingungen vorhanden für das Verschmelzen des bürgerlichen und proletarischen Frauenideals. Die treibenden Kräfte des Keimens und der Entwicklung des Ideals der einen und der anderen Bewegung sucht Wally Zeppler in dem sozialen Milieu der bürgerlichen und proletarischen Frauen. Die zunehmende Ehelosigkeit der Töchter der Mittelklasse einerseits, andererseits der Verfall der bürgerlichen Ehe, die gegensätzliche Bewertung des Geschlechtscharakters der Frau seitens des Mannes, der diesen bei der „anständigen Frau“ als einzige Vorbedingung der Schätzung gelten lässt, im Verkehr mit Prostituierten etc. verhöhnt und in den Schmutz zieht: zeitigte im Geist der bürgerlichen Frau eine Reaktion dagegen, dass sie nicht Persönlichkeit, vielmehr Geschlechtswesen und nichts als Geschlechtswesen sein sollte. Sie verlangte nach Entwicklung ihres individuellen Menschentums, nach Geistesbildung als Mittel zum Zwecke hierfür. Daher das Streben nach hoher Geistesbildung und nach dem Zurückdrängen des sinnlichen Moments als Ideale des Emanzipationskampfes der bürgerlichen Frau. Die Proletarierin ist dagegen hinsichtlich ihres Bildungsniveaus und ihrer Erwerbstätigkeit dem männlichen Klassengenossen gleichgestellt und steht als Persönlichkeit neben ihm. Daher auch in Folge der wirtschaftlichen Lage des Proletariats, die Eheschließung und Familienleben beeinflusst, den Verkehr der Geschlechter erleichtert etc. mussten sich die Sittlichkeitsbegriffe, die Beziehungen der Geschlechter betreffend, in der proletarischen Welt modifizieren. Die Wahrung des geschlechtlichen Unberührtseins des Mädchens verliert den Wert, die Liebesbeziehungen der Geschlechter werden freier, sind nicht von materiellen Rücksichten beeinflusst, nur von der gegenseitigen Neigung bedingt.
Dies der Gedankengang des anregenden Artikels. Seine These scheint bei oberflächlicher Betrachtung recht plausibel. Aber auch nur bei oberflächlicher Betrachtung, der über einem Körnchen Wahrheit die nahe liegende irreleitende Schematisierung und die schiefen Schlussfolgerungen übersieht. Meines Erachtens lässt sich das Ideal wirklich hoher Geistigkeit von dem freier, selbstständiger Sittlichkeit nicht trennen. Ein vielseitig, harmonisch entwickeltes selbständiges Geistesleben – nicht etwa zünftige Gelehrsamkeit, tüchtiges Berufswissen – führt entgegen der Konvention zur freien Wertung, zur Neuwertung der sittlichen Begriffe. Und umgekehrt, eine hoch entwickelte Sittlichkeit begreift in sich das Streben nach höchstmöglicher geistiger Entfaltung. Gewiss: die Aneignung geistiger Bildung ist für die bürgerliche Frau verhältnismäßig leicht, für die Proletarierin äußerst schwer, wenn nicht unmöglich. Gewiss: die Letztere gelangt leichter als die erstere zu neuen Sittlichkeitsbegriffen über die Beziehungen der Geschlechter. Aber aus der einen und der anderen Tatsache lassen sich meiner Ansicht nach nicht die von der Verfasserin formulierten allgemeinen geschichtlichen Schlussfolgerungen ziehen. Dem angenommenen Schema zu Liebe – hier hohe Geistigkeit, da freie Sittlichkeit – presst Wally Zepler den einen und den anderen Begriff in ein Prokrustesbett und lässt als Resultat der respektiven Bewegungen allein gelten, was, wie sie selbst nachweist, das Produkt eines Zusammenwirkens verschiedener Faktoren ist. Sie setzt höhere Berufsbildung und Berufstätigkeit als gleichbedeutend mit hoher Entfaltung der geistigen Individualität; freie Auffassung betreffs der geschlechtlichen Sittlichkeitsbegriffe als gleichbedeutend mit freier Sittlichkeit überhaupt. Die von der bürgerlichen Frauenbewegung erstrebte Geistesbildung des weiblichen Geschlechts schrumpft im Allgemeinen zu höherer Berufsbildung zusammen als der Voraussetzung einer liberalen Berufstätigkeit. Wie wenig aber eine solche Bildung und Tätigkeit das Aufblühen einer freien, bedeutenden geistigen Individualität bedingt, bezeugt zur Genüge das öde Banausentum der erdrückenden Masse der studierten Männerwelt. Für das Streben selbst ist in der Mehrzahl der Fälle die Rücksicht auf die materielle Versorgung maßgebender als der Drang nach Ausgestaltung der Persönlichkeit. Tatsächlich entwickeln sich auch die wenigsten der Frauen, die dank dieser Art der errungenen „höheren Geistigkeit“ den „Kampf mit dem Manne auf seinem ureigensten Gebiet aufnehmen“ können, zu wirklich bedeutenden selbständigen geistigen Individualitäten. Die weitaus meisten von ihnen kommen über das sehr fleißige schulmäßige Erlernen eines bestimmten beruflichen Wissensquantums und die sehr gewissenhafte handwerksmäßige Ausübung eines liberalen Berufs nicht hinaus. Sie stehen unter der Herrschaft, ja unter dem Banne der Schul- und Zunftgelahrtheit, aber sind nicht freie Wissende, welche dank der erworbenen Erkenntnis ihre Persönlichkeit zur geistigen Freiheit emporläutern und mit kühnem Geiste die Erscheinungen und Formen des Lebens in ihrer Wesenheit, ihren Zusammenhängen und Verknüpfungen erfassen. Wie wenige der vielen studierten Frauen dürfen sich neben eine Sofia Kowalewski stellen. So ist das Fazit der von der bürgerlichen Frauenbewegung erstrebten „Geistigkeit“ im großen Ganzen nicht mehr als eine etwas veränderte Spielart der wenig anmutenden Spezies „höhere Tochter“. [1] Die sehr vereinzelten bürgerlichen Frauen, welche sich über dieses Niveau hinaus zu tatsächlichen freien, vertieften geistigen Persönlichkeiten entfalten, ringen sich in der Regel auch zu neuen Sittlichkeitsbegriffen durch. Allerdings schwenken sie dann gewöhnlich aus dem frauenrechtlerischen in das sozialistische Lager ab. Das treibende Moment ihrer Entwicklung ist jedoch meiner Ansicht nach nicht die durch höhere Berufsbildung vermittelte „Geistigkeit“, als vielmehr der Kampf für dieselbe. Das von der bürgerlichen Frauenbewegung so stark betonte „Zurückdrängen des sinnlichen Moments“, so will mich bedünken, ist mehr aus der Not als aus der Tugend geboren und kein Anzeichen für die Entwicklung eines höheren geistigen Frauentypus. Im Interesse der Gesellschaft liegt wohl weniger das Zurückdrängen als das Verfeinern der Sinnlichkeit. Man denke z. B. nur an die Rolle, welche die Erotik in der Kunst spielt.
Ich kann aber der Verfasserin auch nicht in ihrer Bewertung der proletarischen Frauenbewegung beipflichten. Bestände deren Bedeutung tatsächlich in dem Entfalten des Ideals freier geschlechtlicher Sittlichkeit, so wäre der ganze bisherige Entwicklungsgang der proletarischen Frauenbewegung ein einziger großer Irrtum. Eine bewusste Führung und Leitung derselben müsste schleunigst eins tun: alle Kräfte der proletarischen Frauenwelt konzentrieren auf eine energische Agitation – für die freie Ehe. Man braucht die freie Ehe noch lange nicht durch die Bordellbrille zu betrachten, wie es der in praxi an die Karnickelwirtschaft gewöhnte Bourgeois tut – und auch philisterhafte Sentimentalität in den Reihen der Sozialdemokratie –, um zu dem Schluss zu gelangen, dass eine solche Agitation die denkbar größte Eselei wäre. Nicht etwa mit Rücksicht auf die erschreckte Spießermoral, sondern mit Rücksicht auf die mangelnde wirtschaftliche und soziale Basis. Wally Zepler hat ganz richtig verschiedene wirtschaftliche und soziale Momente angeführt, welche – nicht aber die proletarische Frauenbewegung – in der proletarischen Welt diese Basis schaffen und damit auch neue geschlechtliche Sittlichkeitsbegriffe. Dagegen hat sie ganz übersehen, dass neben diesen Momenten die Klassenlage des Proletariats andere erzeugt, welche ebenfalls für die Frau der Masse neue sittliche Werte entwickeln: Solidaritätsgefühl, Klassenbewusstsein, Gemeinsinn, Interesse für das wirtschaftliche und soziale Leben der Gesellschaft etc. Sie wandeln die Proletarierin aus der Nichts-als-Hausfrau in die Gesellschaftsbürgerin um. Durch diesen Umwandlungsprozess wird gleichzeitig das Streben nach dem Ideal höherer geistiger Bildung angeregt, nicht zu dem Zwecke des Konkurrenzkampfes gegen den Mann, sondern zur wirksameren Führung des Klassenkampfes gegen die kapitalistische Gesellschaft. Die Tendenz nach „höherer Geistigkeit“ ist in der proletarischen Frauenwelt mindestens in der gleichen Stärke vorhanden als in den bürgerlichen Frauenschichten. Aber sie ist dem weiter reichenden Kampfesgeist entsprechend vielseitiger als dort. Man darf das Vorhandensein und die Wirkung dieser Tendenz nicht über den Umstand übersehen, dass den von der Idee des Klassenkampfes ergriffenen Proletarierinnen meist jede größere formelle Bildung fehlt. Sehen wir von dieser ab, so repräsentiert die klassenbewusste kämpfende Proletarierin unserer Tage eine selbständigere und reichere geistige Persönlichkeit – im Keime natürlich – als die bürgerliche Frau. Die proletarische Frauenbewegung knüpft nicht an die modifizierten geschlechtlichen Sittlichkeitswertungen der Proletarierin an, vielmehr an ihre neuen sozialen Begriffe und Tugenden und entwickelt sie weiter. Ihre Bedeutung beruht meines Erachtens darin, dass sie die proletarische Frau aus einer indifferenten oder hindernden zu einer treibenden Kraft des proletarischen Klassenkampfes umwandelt, sie aufklärt, organisiert und schult, damit sie als subjektive geschichtliche Macht eingreift in den von wirtschaftlichen Verhältnissen in erster Linie vorwärts geschobenen objektiven geschichtlichen Entwicklungsgang zur sozialistischen Gesellschaft. Ihre Aufgabe ist es, mitzuarbeiten an der Schleifung aller Schranken, welche das Proletariat als Klasse zu sozialer Unterbürtigkeit verurteilen. Die geschichtliche Bedeutung der bürgerlichen Frauenbewegung beruht dagegen darin, dass sie alle gesellschaftlichen Hindernisse beseitigt, welche der Frau als Geschlechtswesen eine inferiore Stellung anweisen. Die große Tragweite dieser geschichtlichen Aufgabe hat die Sozialdemokratie – die proletarische Frauenbewegung inbegriffen – nie verkannt und unterschätzt. Dagegen ist von dieser Seite her mit Recht der deutschen Frauenrechtelei zum Vorwurf gemacht, in welch unklarer und hohnvoll schwächlicher Weise sie bisher für die Erfüllung ihrer geschichtlichen Aufgabe wirkte. Wir erinnern nur daran, dass der Kampf für die politische Gleichberechtigung der Geschlechter in Deutschland bis zur Stunde noch nicht von den Frauenrechtlerinnen kraftvoll und einheitlich aufgenommen worden ist, sondern so gut wie ausschließlich allein von der Sozialdemokratie geführt wird. Es würde zu weit führen, an dieser Stelle die Vorbedingungen für die Entwicklung der „neuen Frau“ zu erörtern, und ihres Gegenstücks, des „neuen Mannes“.
Nicht über das Niveau der seichten Alltagserörterungen, welche bürgerlicherseits in Fülle an den Internationalen Frauenkongress anknüpften, erhebt sich der Artikel von Gertrud David: Frauenkonferenz und Frauenbewegung (Nr. 11). Die Verfasserin betrachtet die bürgerliche Frauenbewegung und ihre Lebensäußerungen durch das Prisma eines völlig unkritischen Wohlwollens und erblickt deshalb alles in schimmernder Farbenpracht. Aus dem ganz richtigen Vordersatz heraus, dass in der bürgerlichen Gesellschaft die Frauenfrage nicht endgültig gelöst werden könne und die bürgerliche Frauenbewegung ihrer Bankrott erklären müsse, prophezeit Gertrud David nicht mehr und nicht weniger als die Umwandlung der bürgerlichen Frauenbewegung in „eine große sozialistische Kampfespartei, die eine wackere Mitstreiterin sein wird in dem Kampfe um eine bessere Gesellschaftsordnung, in der es keine Ausbeuter und keine Ausgebeuteten, keine Unterdrückten und keine Unterdrücker mehr geben wird“. Denn: „Die theoretische und praktische Beschäftigung mit den großen sozialen Problemen, die Erkenntnis der Triebkräfte, die in unserem Gesellschaftskörper tätig sind, werden jene ehrlichen und mutigen Frauen, die in Berlin so warm für das Wohl der Arbeiterinnen eintraten, mit unweigerlicher Konsequenz zum Sozialismus führen.“ Die Anfänge zu diesem Entwicklungsprozess findet die Verfasserin in der „ungemein starken Strömung nach links“, die sich nach ihr in der modernen bürgerlichen Frauenbewegung seit einiger Zeit entwickelt und die sich besonders kennzeichnend und viel verheißend auf dem Internationalen Frauenkongress äußerte. Hier war sie „erkennbar schon durch den breiten Raum, den man den Referenten über die Arbeiterinnenfrage zugewiesen hatte, aber auch in den meisten sonstigen Reden sich bemerkbar machen“. Wir stellen diesem Ausbruch der Herzensfreude die Tatsache gegenüber, dass für die Referentinnen über einzelne Seiten der Arbeiterinnenfrage genau die gleichen fünfzehn Minuten Redezeit vorgesehen waren wie für die Berichterstatterinnen über das „Viktoriahaus für Krankenpflege in Berlin“, und etwa über eine Haushaltsschule in Kuhschnappel oder ähnliche weltbewegende „Frauenwerke“, deren Lobpreisung einen größeren Teil der Kongresszeit ausfüllte als die Erörterung der beredeten Themata. Gerade dieser „breite Raum“, den man der Arbeiterinnenfrage zugewiesen, bestimmte bekanntlich Genossin Braun, das zugesagte Referat nicht zu halten. Fünfzehn Minuten Redezeit waren wohl in der Tat ausreichend für die Skizzierung eines rührseligen Arme-Leute-Bildchens, nicht aber für die Erörterung der vielseitigen und komplizierten Arbeiterinnenfrage, obendrein vor diesem Kongresspublikum, das von einzelnen Ausnahmen abgesehen, auch der Elementarbegriffe für das richtige Erfassen der einschlägigen Verhältnisse ermangelte. Ebenso zeugt es von liebenswürdiger Anspruchslosigkeit, wenn Gertrud David die „ungemein starke Strömung nach links“ aus den „meisten sonstigen Reden“ herausfindet und „eine Fülle von Einsicht und Verständnis“ in sie hinein entdeckt. Die weitaus meisten Referate liefen über Fragen, in denen eine solche Strömung gar nicht zum Ausdruck kommen konnte. Das hohe und uneingeschränkte Lob ist dem kritisch Prüfenden nur verständlich unter der Voraussetzung, dass die Verfasserin einen ungemein niedrigen Maßstab an das soziale Verständnis der Damen und die Kongressberichte angelegt hat. Es liegt uns gewiss fern, zu bestreiten, dass der Kongress einen Fortschritt der deutschen Frauenrechtelei markiert und dass sozialreformerisch vernünftige Tendenzen sich manifestierten. Aber doch innerhalb recht eng gesteckter Grenzen innerhalb eines kleinen Bruchteils der deutschen Frauenrechtelei und gepaart mit sehr viel Einsichtslosigkeit. Die „ungemein starke Strömung nach links“, welche Gertrud David bejubelt, reduziert sich in Wirklichkeit auf das größere soziale Verständnis einzelner weniger Persönlichkeiten und der von ihnen geführten Gruppe. In welcher Stärke die „Tendenz nach links“ in der deutschen Frauenbewegung überhaupt vorhanden ist, und wie weit der Einfluss des „radikalen“ Flügels reicht, dafür bot der Berliner Kongress keinen Maßstab. Die vaterländischen Frauenvereine, die unseres Wissens der Zahl nach stärksten deutschen Frauenorganisationen, nahmen an ihm nicht Teil, ebenso auch mehrere sehr einflussreiche Führerinnen der konservativen Richtung. Und da, mit Ausnahme der Sektionssitzungen, keine Diskussion stattfand, konnte sich auch keine Opposition gegen den Standpunkt der sozialreformerisch angehauchten Gruppe erheben. Es wäre eine dankbare Aufgabe gewesen, den Ursprung, die Entwicklungsbedingungen und die Aussichten jener sozialreformlerischen Ansätze zu untersuchen. Dieser Aufgabe ist die Verfasserin aus dem Wege gegangen. Sie lässt sich als Bürgschaft für den Entwicklungsgang: Frauenrechtelei – Sozialreform – Sozialismus an der Überzeugung genügen: „Als Unterdrückte ist die Frau von jeher dazu geneigt gewesen, die Sache aller Unterdrückte und Schwachen zu der ihren zu machen.“ Demgegenüber verweisen wir darauf, dass in dem Maße als die Frauenbewegung ihre Ziele verwirklicht, die bürgerliche Frau aufhört, eine sozial Unterdrückte zu sein. Die kämpfende Frauenrechtelei mag mit den Unterdrückten und Schwachen sympathisieren, wie es die kämpfende Kirche, die kämpfende Bourgeoisie getan. Die siegreiche Frauenrechtelei hat für dieselbe nicht mehr übrig als die siegreiche Kirche und die siegreiche Bourgeoisie übrig gehabt hat. Das zeigt die Erfahrung allenthalben, wo die Frau sozial frei und einflussreich geworden ist. Stärker als das empfindsame Herz ist das Klasseninteresse. Eines anderen belehrt uns auch nicht die Behauptung der Verfasserin: „Hat aber die Frau einmal die Fesseln gesprengt, die sie in geistiger Knechtschaft hielten, dann können wir häufig die Beobachtung machen, dass sie weiter und vorurteilsloser denkt, gerechter urteilt als der Mann.“ Dieser Satz ist kein Beweis, sondern eine uralte Retourkutsche, mit welcher die Frauenrechtelei die alberne Redensart ihrer Gegner beantwortete: die Frau sei ihrer Natur nach dem Manne inferior und könne deshalb ihm nicht gleichberechtigt sein. Den sehr wahrnehmbaren Vorstoß in der Richtung rein frauenrechtlerischer Forderungen, den der Kongress markiert, hat Gertrud David leider nicht in den Kreis ihrer Erörterungen gezogen. Und doch hätte sie hier mehr Grund zur Anerkennung gehabt, als betreffs des schwächlichen sozialreformlerischen Räusperns.
Gegen Zweierlei Maß und Gewicht bei Bewertung der Sittlichkeit von Mann und Frau wendet sich Frau Schlesinger-Eckstein in einem kurzen, frischen und anspruchslosen Artikel, in welchem sie gleichzeitig für größere Bewegungsfreiheit des weiblichen Geschlechts warm plädiert: Die Sittsamkeit der Frauen (Nr. 12). Neben recht gesunden und richtigen Ansichten enthält die kleine Arbeit sehr irrtümliche Behauptungen, welche typisch für das frauenrechtlerische Erfassen geschichtlicher Erscheinungen sind. So lässt z. B. die Verfasserin relativ vernünftige Männer an den Geboten zopfiger weiblicher Sittsamkeit am längsten festhalten, „denn sie fühlen, das es diese Gebote sind, die die Frauen der bürgerlichen Klassen noch durch einige Zeit daran hindern werden, auf zahlreichen Gebieten geistiger und beruflicher Tätigkeit konkurrenzfähig zu sein.“ Weiter führt sie wiederholt die unterbürtige Stellung der Frau in Familie und Gesellschaft, ihre rückständige Entwicklung lediglich auf das physische Übergewicht der Männer zurück. Als ich die betreffenden Sätze las, tauchte vor meinem Auge eine sehr heitere Vision auf. Der böse Mann saß von Zeit und Ewigkeit her – um mit Walther von der Vogelweide zu reden – „auf einem Steine und deckte Bein mit Beine“ und grübelte im Bewusstsein seiner brutalen Kraft darüber nach, wie er mittels selbiger „Geschichte machender“ Macht das hoch beanlagte, aber leider physisch schwache Weib knechten, in seiner Entwicklung hemmen und durch einen eigens von ihm „geeichten und angelegten“ Maßstab der Sittlichkeit in Unfreiheit halten könne. In dieser Auffassung spukt der frauenrechtlerische Mythos, dass der Mann der schöpferische Gott oder Teufel sei, dessen Wünsche und Absichten dem weiblichen Geschlecht gegenüber allen die gesellschaftliche Entwicklung in einer bestimmten Richtung vorwärts geschoben haben. Damit spottet die Frauenrechtelei ihrer selbst, sie weiß nicht wie; denn sie macht die Überlegenheit des Mannes zum ausschlaggebenden geschichtlichen Faktor. Um nun das zahlreichen Frauenrechtlerinnen noch immer teure Dogma von der mathematischen Gleichheit der Geschlechter – betont sei, dass Frau Schlesinger sich nicht zu ihm bekennt –, ja von dem weiblichen Geschlecht als der „besseren Hälfte“ der Menschheit zu retten, da erschien bloß die physische Überlegenheit des Mannes als deus ex machina auf der Bühne, und als sein notwendiges Gegenstück die physisch schwache Frau. Diese Erklärung des Warum der unterbürtigen Stellung der Frau ist sehr einfach und bequem, leider hat die Schlussfolgerung ein Loch. Wie in anderen Beziehungen, so operiert die Frauenrechtlerin auch hier mit der ewig unveränderlichen „Normalfrau“. Als diese „Normalfrau“ entpuppt sich regelmäßig die Bourgeoisdame unserer Tage mit ihren Eigenschaften und Bedürfnissen. Die vom fauststarken Manne verknechtete, physisch schwache Frau aller Zeiten, Länder und Gesellschaftsschichten ist nichts als der Abklatsch unserer körperlich degenerierten bürgerlichen Zeitgenossin. Wie reimt Frau Schlesinger ihre These zusammen mit der nachgewiesenen Existenz mutterrechtlicher Gesellschaftsorganisationen und der Rolle des „physisch schwachen“ Weibes in ihnen? Wie mit den Berichten der Ethnographen und Reisebeschreibungen von der erstaunlichen Körperkraft und Leistungsfähigkeit der Frauen wilder Völkerstämme? Ich glaube übrigens, dass sie sich davon überzeugen kann, wie eine pralle Bauerndirne oder eine stramme Sennerin einem Wiener Gigerl oder Berliner Salontiroler die „größere physische Kraft des männlichen Geschlechts“ sehr fühlbar zu Gemüte führt. Aber, wendet sie hier vielleicht ein, der Mann nutzte es aus, dass Schwangerschaft und Entbindung vorübergehend die physische Stärke und Leistungsfähigkeit der Frau verminderten. Lippert hat in seiner sehr inhaltsreichen „Kulturgeschichte“ treffend ausgeführt, wie wenig diese Voraussetzung für die in primitiven Gesellschaftsverhältnissen lebende Frau stimmt. Ethnographen bestätigen seinen Standpunkt. Nicht die brutale Manneskraft hat die Stellung der Frau geschaffen. Vielmehr die Entwicklung der Produktionsverhältnisse, die den primitiven Kommunismus vernichtete, das Privateigentum zeugte und den Mann zum wirtschaftlich Starken und Herrschenden machte. Frau Schlesinger lese zu der Frage Engels’ hoch bedeutende Studie: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates, ferner das zweite Kapitel aus Kautskys Broschüre: Der Parlamentarismus, die Volksgesetzgebung und die Sozialdemokratie. Es wird ihr dann auch klar, dass der Sittenkodex für das weibliche Geschlecht noch andere Ursachen hat als bloß den Wunsch des Mannes, die Frau „konkurrenzunfähig zu halten“ und „sich das Monopol auf Lebensfreude“ zu sichern. Eine ganz wesentliche Rolle hat bekanntlich das Streben des Mannes nach absoluter Sicherheit gespielt, sein Eigentum auf von ihm gezeugte Kinder zu vererben. Was Frau Schlesingers Aufforderung anbelangt, die wohlhabenden und unabhängigen Frauen möchten gegen engherzige, moderige Sittlichkeitsrücksichten in die Schranken treten, so wünsche ich ihrem Optimismus nicht zu harte Enttäuschungen. In der Regel wagt nicht einmal die in jenen Kreisen recht häufige „Emanzipation des Fleisches“ die Rebellion gegen die Konvention, hilft sich vielmehr durch Heuchelei. Wirksamer als alle Vernunftgründe erweist sich hier die Mode, auf welche die industrielle Entwicklung von hervorragendem Einfluss ist. Die Erfindung des Velozipeds [Fahrrads] trägt wirksamer zur Vernichtung überlebter Sittsamkeitsbegriffe in der bürgerlichen Frauenwelt bei, als der langjährige Appell an die Vernunft, Vorurteilslosigkeit etc.
Unter dem Titel Die Frauenbewegung bringt Neuland (1. Jahrgang, 4. Heft), das zweite Organ der sozialistischen Studenten, ebenfalls einen Beitrag zur Frauenfrage. Ich bekenne, dass ich zufällig zuerst den Schlusssatz des Artikels las, der von Klara Müller gezeichnet ist. Er ist sehr moralisch und hochpoetisch. Man hört: „Veredelt Euch selbst, damit Ihr veredelnd auf Eure Kinder wirken und den Boden bereiten könnt für eine große Zeit, wo eine freue Entfaltung der Individualität, eine Betätigung der natürlichen Anlagen eines jeden Menschen – ob Mann oder Weib – nicht nur möglich, sondern geboten erscheint. Uns aber lasst hinter dem Pfluge hergehen und im Schweiße unseres Angesichts die Furchen in den Acker ziehen – fern im Hain singen doch die Nachtigallen, und in unserer Spur schreitet der Sämann, welcher die Samenkörner auswirft einer neuen großen heiligen Zeit.“ Teufel, sagte ich mir, Klara Müller hat offenbar ihren Beruf verfehlt, in ihr steckt ein Dichter! [2] Und durch böse Erfahrung gewitzigt, stieg in mir die Befürchtung auf, ob nicht etwa diese sehr poetische Prosa im Laufe des Artikels durch sehr prosaische Verse wett gemacht werden würde. Gott sei dank, diese Befürchtung war grundlos. Dagegen bestärkt mich die Lektüre des Artikels sehr in der Meinung vom verfehlten Beruf. Die Verfasserin hat ein ausgesprochenes, ungewöhnliches Talent zur Sonntagsnachmittagspredigerin. Auch auf dem Gebiete der ethischen Traktätchenliteratur könnte sie Hervorragendes leisten. Die Abfassung sozialpolitischer Abhandlungen sollte sie jedoch entschieden bleiben lassen, wenigstens so lange, bis sie sich über eine Frage orientiert hat. Offenbar ging unsere poetische Predigerin zu tief gesenkten Hauptes hinter dem Pfluge her, offenbar lauschte sie zu weltverloren den Nachtigallen im Haine, um die Entwicklung der Frauenbewegung zu verfolgen. So machen ihre Ausführungen zum Teil den Eindruck, als ob Klara Müller direkt vom Monde gefallen sei. So erzählt sie z. B.: „Fern vom Parteigetriebe, ohne jegliche Akzentuierung der Rassen- und Klassenunterschiede tritt die Frauenbewegung für ihr Programm ein: ‚Achtung unserem Geschlecht und Gerechtigkeit.‘“ Schade, schade, dass die recht hübsche, hier und da allerdings gesuchte Form einen wie Kraut und Rüben zusammen gewürfelten, erzkonfusen und oberflächlichen Inhalt birgt.
1. Es fällt mir nicht ein, hieraus einen Schluss auf die allgemeine Begabung des weiblichen Geschlechts und seine geistige Eigenart zu ziehen. Wer ist es denn, der auf dem einschlägigen Gebiet „das weibliche Geschlecht“ repräsentiert? Eine winzige Hand Bourgeoisdamen, und von gar mancher derselben gilt obendrein das Wort: „Viele sind berufen, aber Wenige sind auserwählt.“ In recht zahlreichen Fällen ist es nicht die ausgesprochene wissenschaftliche Begabung eines bürgerlichen Mädchens, die über seinen Bildungsgang entscheidet, sondern bei guter Durchschnittsintelligenz, die sichere Aussicht auf das Nichtversorgtwerden durch eine „standesgemäße“ Heirat, weil die äußeren Reize mangeln oder – was weit schwerer wenn auch nicht für die Liebe, so doch für die Ehe des Bourgeois ins Gewicht fällt – weil keine entsprechend „standesgemäße“ Mitgift verkuppelt werden kann.
2. In Die Gleichheit, Nr. 6–8, 1899 erschien unter dem Titel Eine Dichterin der Freiheit eine Besprechung Clara Zetkins über ein Gedichtbuch von Klara Müller (“Mit roten Kressen“).
Zuletzt aktualisiert am 13. August 2024