Clara Zetkin

Die neue „lex Heinze“

(3. Februar 1897)


Quelle: Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, Nr. 3, 3. Februar 1897.
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Als vor einigen Jahren der Skandalprozess Heinze in Berlin ein Zipfelchen des Schleiers lüftete, der für die Augen der Anständigen die Welt der Dirnen und Zuhälter verhüllt, da verdichtete sich das Geschrei „Auf zur Rettung der Sittlichkeit!“ zu einem Gesetzentwurf der Regierung. Der Gesetzentwurf – er wurde nach dem äußeren Anlass seines Entstehens als „lex Heinze“ bezeichnet – verleugnete seinen Ursprung nicht. Kindische Naivität und wachstubenduftende Reaktion innig gesellt hatten ihn gezeugt, muckerische Heuchelei hat ihn gesegnet. Er wähnte nicht an die wirtschaftlichen und sozialen Ursachen des Übels, begnügte sich vielmehr damit, das Laster von der Oberfläche des gesellschaftlichen Lebens – wo sein Anblick „die satte Tugend“ beleidigt – in die Schlupfwinkel zu treiben, allwo „die zahlungsfähige Moral“ gesinnungstüchtiger Bürger – das Fleisch ist ach! schwach – es zu gottloser, aber angenehmer Kurzweil zu finden versteht. Er suchte unter dem Deckmantel des Sittlichkeitsschutzes die Presse zu knebeln, die Öffentlichkeit zu beschränken, die Polizeigewalt zu stärken, Büttelei und Juristerei als Richter über die Kunst zu setzen.

Der Gesetzentwurf kam damals nicht über die Kommissionsberatung hinaus. Nun hat er seine Auferstehung gefeiert in einem Initiativantrag der gesamten Zentrumspartei. Im Wesentlichen entspricht die neue „lex Heinze“ ihrer Vorgängerin. Soweit dies der Fall, ist sie für den einsichtigen, vorurteilsfreien Sozialpolitiker gerichtet. Jedoch sie enthält auch einige neue Bestimmungen – sie sind an anderer Stelle im Text zu lesen –, welche Beachtung und Zustimmung verdienen. Gefängnisstrafe soll künftig Arbeitgeber, Dienstherren und deren Vertreter treffen, welche das Arbeits- und Dienstverhältnis dazu missbrauchen, Arbeiterinnen und Dienstmädchen zur Duldung unzüchtiger Handlungen zu zwingen. Dass die Schärfe des Gesetzes sich gegen die Arbeitgeber kehrt, die mit der Lohnsklavin auch die Lustsklavin gekauft zu haben wähnen; gegen die Dienstherren, die in ihrer Untergebenen das „Mädchen für alles“ in des Wortes verwegenster Bedeutung erblicken, ist nicht mehr als recht und billig.

Sicherlich wird die Furcht vor der Strafe, das statuierte Exempel in dem einen oder anderen Falle die Tugend und Jugend proletarischer Frauen und Mädchen vor der „Begehrlichkeit“ der Brotherrn schützen, die ansonst weder ein Sittlichkeitsbegriff noch verfeinertes Geschlechtsverlangen noch gar die Achtung vor der fremden Individualität zu zügeln vermag. Aber auch nur in dem einen oder andren Falle! Töricht wäre es, die Kraft der geforderten gesetzlichen Bestimmungen zu überschätzen und von ihrer Wirkung eine allgemeine zwangsweise Versittlichung der Paschagelüste ausbeutungsfroher Unternehmer und herrschgewohnter Rentbürger, einen durchgreifenden Schutz für die Sittlichkeit der Arbeiterinnen zu erhoffen. Die von Geldsacks Gnaden haben noch jederzeit auf das Gesetz gepfiffen, dafern es seine Spitze nicht gegen die Ausgebeuteten wendete, sondern gegen sie selbst. Sie wissen: auch die Nürnberger hängen keinen, sie hätten ihn denn.

Die nämliche Macht, welche ihnen die proletarische Arbeitskraft und rücksichtsloser Ausbeutung überliefert, ihnen das Brot der Werkenden und auch die Hungerpeitsche für sie in die Hand legt: zwingt das Weibtum armer Frauen ihrer geilen Brunst, ohne dass die Mehrzahl der Opfer auch nur das Gesetz anzurufen wagen. Wer denn muss Anzeige wider den Arbeitgeber, den Dienstherren erstatten, der das weibliche Arbeitstier als Lusttier vergewaltigte? Dieselbe geknechtete Arbeiterin, die gewöhnt ist, in ehernem Gehorsam zu frohnden, in dem Anwender den Herrn und Meister zu erblicken, der in fast unbeschränkter Allmacht ihr Brot gibt und nimmt. Das Brot! Oft, sehr oft, wird die Arbeiterin, das Dienstmädchen, den Verlust des unbefleckten Weibtums schweigend tragen, aus Furcht vor dem Verlust des Erwerbs. Hunger tut weh!

Aber gesetzt, das Opfer klagt. Steht dann nicht in der Regel Aussage gegen Aussage, weil der gebietende Lüstling zum schmachvollen Attentat das Alleinsein Der ausnützte, die sein Begehren entbrennen ließ? Und würden die Angaben der „leichtfertigen Fabriklerin“, des „durchtriebenen Dienstmädchens“ stets als gleich glaubwürdig erachtet, wie die Erklärung des „hoch angesehen Bürgers“, dessen Ruf sich nach den Zehntausenden seinen Einkommens bemisst, und der die Anklage als einen Akt der Erpressung bezeichnet? Es fehlt nicht an Beispielen, dass sehr oft die größere Wahrhaftigkeit und Sittenstrenge dort vermutet wird, wo der große Besitz ist. Wie soll in solchen Fällen die Gemissbrauchte den Beweis für die Richtigkeit ihrer Behauptung erbringen? „Arbeiterinnen pflegen keine Vestalinnen zu sein“, so erklärte unter ähnlichen Umständen erst letzten Sommer ein Berliner Richter.

Als ganz ohnmächtig aber erweisen sich die vom Zentrum vorgeschlagenen gesetzlichen Bestimmungen gegenüber der gewaltigen kuppelnden Kraft des Elends. Tagaus, tagein umschleicht es lauernd die Arbeiterin, die in sauren Wochen, ohne frohe Feste schafft und darbt, abseits vom Bankett des Lebens, zu dem das freudebegehrende junge Blut drängt. Je kärglicher der Hungerlohn; je sonnenloser die Existenz; um so verhängnisvoller wächst die webende Kraft der Vorteile und Zuwendungen, durch welche der lüsterne Brotherr oder irgend ein anderer zahlungskräftiger „Beschützer“ die arme Tugend dem reichen Laster kirrt. Nicht mehr als Möchtegern-Resultate zeitigt für Arbeiterinnen und Dienstmädchen der Schutz der Sittlichkeit gegen Verführer und Vergewaltiger, solange er nicht begleitet ist von ausgiebigem Schutz der weiblichen Arbeitskraft gegen übermäßige Ausbeutung; von umfassendem Schutz ihres Kampfesrechts für menschenwürdige Arbeitsbedingungen. Eine wirksame Arbeiterschutzgesetzgebung – inklusive weiblicher Fabrikinspektoren – und ihre Ausdehnung auf das Dienstpersonal; Aufhebung der schmachvollen Gesindeordnungen; unbeschränkte Koalitionsfreiheit; durch behördliche Nücken und Tücken unverkümmertes Versammlungsrecht; stärken die sittliche Widerstandskraft robuster Proletarierfrauen und -töchter wie nachhaltiger als die bestgemeinten Gesetzesparagraphen gegen Wüstlinge.

Annehmbar erscheint auch die Bestimmung des Zentrumsantrags, welche die bewusste Übertragung von Geschlechtskrankheiten durch Geschlechtsverkehr bestraft wissen will. Allerdings nur in einer Fassung, welche festsetzt, wann das Bewusstsein der Ansteckungsgefahr bei einer geschlechtskranken Person vorhanden ist. Unseres Erachtens dann, wenn diesem durch eine ärztliche Erklärung Kenntnis von der Gefahr erhielt. Die Durchführung der geforderten Bestimmungen hat mithin eine Voraussetzung: das Außerkrafttreten der professionellen Schweigepflicht des Arztes bei Geschlechtskrankheiten. Inwieweit diese Voraussetzung sich in der Praxis verwirklichen lässt, bleibe dahingestellt.

Allein selbst angenommen, das Berufsgeheimnis des Arztes existiere gegenüber Geschlechtskranken nicht mehr: wird doch die Zentrumsforderung nur in bescheidenem Umfang ihren Zweck erreichen: der Verbreitung der furchtbaren Geschlechtskrankheiten entgegenzuwirken. Ein großer Teil der Syphilitiker und Venerischen lässt sich aus verschiedenen Gründen überhaupt oder gerade in dem ansteckungsgefährlichsten Stadium nicht von einem Arzte behandeln. Er sucht Genesung durch von Apothekern und Drogisten feilgehaltene Geheimmittel, durch Rat und Hilfe, welche – auch „brieflich und nach auswärts“ – erteilt werden durch Dutzende von Quacksalbern und durchgefallenen Kandidaten der Medizin, die als „Spezialisten“ praktizieren. Sehr nahe liegend ist die Vermutung, dass die Aufhebung des ärztlichen Berufsgeheimnisses den Geheimmittelschwindel noch üppiger ins Kraut schießen lässt.

Nicht etwa als ob die Gesetzgebung mit in den Schoß gelegten Händen der Verschleppung jener furchtbaren Seuchen zusehen sollte, welche die Sünden der Väter – oft auch unverschuldetes Unglück – rächen an den Kindern bis ins dritte und vierte Glied und darüber hinaus. Aber der Schwerpunkt ihres Eingreifens ist nicht auf strafgesetzliche Bestimmungen zu legen, welche den Wünschen der Sittlichkeitsbündler entsprechen. Vielmehr auf ein Netz von Fachmännern festzulegender sanitärer und hygienischer Maßregeln, denen kein polizeilicher und infamierender Beigeschmack anhaftet, so dass ihnen zu unterwerfen Niemand sich scheut.

Wertloseste sozialpolitische Makulatur sind die Zentrumsforderungen zur Bekämpfung der Zuhälter und Kuppler. Sie decken sich im Wesentlichen mit dem Geist der berüchtigten Lattenarrestparagraphen des erwähnten Regierungsentwurfs. Strenges und strengstes Einschreiten gegen die Ritter von der Ballonmütze und die Gelegenheitsmacherinnen beseitigt nicht die ekle Kuppler- und Zuhälterzunft. Es steigert nur das „Gefahrenrisiko“ ihres Erwerbs und veranlasst eine höhere „Gefahrenprämie“, d. i. eine härtere Ausbeutung der Prostituierten.

Nur ein Mittel vermag die Abhängigkeit und Ausbeutung zu mildern, welche diese durch Louis und „Vermieterinnen“ erfahren: Aufhebung der sittenpolizeilichen Kontrolle, Freiheit der Prostituierten, ihrem traurigen Gewerbe nachzugehen. Zuhälter und Kupplerinnen sind den Galeerensklavinnen der Lust um so entbehrlicher, je weniger sie ihrer als „schützende Vorsehung“, als Bundesgenossen im Kampfe gegen Polizeimaßregeln bedürfen, welche sie in ihrer horizontalen „Berufstätigkeit“ behindern. Auch ohne besondere Sittenkontrolle, auf Grund der allgemeinen Ordnungsvorschriften vermag die Polizei dem schamlosen Straßentreiben der Dirnen zu steuern. Sie braucht bloß den „groben Unfugsparagraphen“ ihnen gegenüber mit dem zehnten Teil der Schneidigkeit anzuwenden, mit der sie ihn gegen Sozialdemokraten handhabt und Phryne wandelt in Sack und Asche als büßende Magdalena durch die Berliner Friedrichstraße.

Die Harmonie reaktionärer Seelen herrscht auch zwischen lex Heinze I und lex Heinze II bezüglich einer Gruppe von Bestimmungen, welche sich gegen die geschriebene, gereimte, gesungene und gemalte „Unsittlichkeit“ wenden. Sie sind kulturfeindlich bis auf die Knochen. Krieg der Unsittlichkeit lautet ihre Etikette. Beschränkung der Bewegungsfreiheit der Presse und des öffentlichen Lebens, Rückwärtserei auf dem Gebiete der Kunst und Wissenschaft, das ist ihr Zweck. Erweiterte Machtbefugnisse für Büttelei und Juristerei, der Entscheid über „sittlich“ und „unsittlich“ in ihr Ermessen gegeben: welche Aussichten eröffnen solche Vorschläge nicht im Kapitalistenstaat und unter dem Getöse des Klassenkampfs für das amtseifrige, strebsame Gemüt forscher Polizeigewaltiger und auslegungsbegeisterter Rechtsgelahrter? Mit den Begriffen „sittlich“ und „unsittlich“ können Äußerungen des proletarischen Klassenlebens erschlagen werden, welche der Skylla des dolus eventualis und der Charybdis des groben Unzuchtsparagraphen entrannen. Im Rheinland – wenn wir nicht irren – wurde z. B. vor etlichen Jahren die Anwesenheit von Frauen in einer Versammlung von den Behörden als unsittlich erklärt Die Spuren schrecken!

Ein Quäntchen Reform, ein Zentner Reaktion: das ist die Signatur der Zentrumspolitik, das ist die Signatur der neuen lex Heinze.


Zuletzt aktualisiert am 13. August 2024