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Clara Zetkin, Diskussion, In: Der Internationale Kongress für Frauenwerke und Frauenbestrebungen in Berlin, 19. bis 26. September 1896, hrsg. von R. Schoenflies, L. Morgenstern, M. Cauer, J. Schwerin und M. Raschke, Berlin: Verlag von Hermann Walther, 1896, S. 394–396.
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Diskussion. Frau Clara Zetkin:
Verehrte Anwesende! Ich muss die Ausführungen, die ich hier vorbringe, nicht als Teilnehmerin des Kongresses, sondern als Zuhörerin, als Gegnerin, mit einer Richtigstellung einleiten. Frau Schwerin hat gesagt, es hätte jüngst eine Führerin der sozialdemokratischen Frauenbewegung gegenüber den bürgerlichen Frauen erklärt; „Ihr hemmt uns, doch ihr zwingt uns nicht!“ Ich habe mich Ihnen vorzustellen als jene sogenannte Führerin, die das Wort ausgesprochen hat, als eine derjenigen Frauen, die mit ganzem Herzen im Lager der Sozialdemokratie stehen und ihre Kräfte ausschließlich der sozialistischen Arbeiterinnenbewegung widmen. Ich habe dieses Wort nicht gebraucht gegenüber der bürgerlichen Frauenbewegung, denn – ich muss Sie bitten, es nicht als verletzend für Sie ansehen zu wollen, sondern nur als Konstatierung einer Tatsache – ich habe bis jetzt die bürgerliche Frauenbewegung als soziale Macht gar nicht so hoch eingeschätzt, um ihr gegenüber einem solchem Wort zu gebrauchen.
Werte Anwesende! Ich habe diesen Ausdruck gebraucht gegenüber den Nücken und Tücken, welche der kapitalistische Staat anwendet, um die Arbeiterinnenbewegung zu unterdrücken, weil sie auf dem Boden der sozialistischen Anschauung, des Klassenkampfes steht. Die Referentin hat Recht: zwischen bürgerlicher und proletarischer Frauenbewegung sind Berührungspunkte vorhanden. Alle jene Reformforderungen, welche aufgestellt werden, um der Geschlechtssklaverei des Weibes ein Ende zu machen, das sind Forderungen, für die auch wir eintreten, und für die wir seit Jahren mit einer Klarheit: und einem Zielbewusstsein eingetreten sind, welche bis jetzt die bürgerliche Frauenbewegung noch nicht an den Tag gelegt hat. Wir kämpfen seit Jahren für die politische Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts, für das Vereins- und Stimmrecht, und wo ist der bürgerliche deutsche Frauenkongress, welcher ein einziges Mal diese Forderung offiziell zu formulieren gewagt hat? Es ist hier neulich ganz richtig das Wort gefallen: Getrennt marschieren und vereint schlagen. Wir können nicht mit den bürgerlichen Frauen Hand in Hand gehen, weil unser Kampf in erster Linie ein Klassenkampf ist gegen das Unternehmertum und gegen die kapitalistische Gesellschaft. Auch in taktischer Beziehung können wir nicht die Wege wandeln, welche die bürgerliche Frauenbewegung geht. Ich erinnere daran: Sie wenden sich mit Petitionen um Reformen nicht nur an die gesetzgebenden Behörden, sondern auch an Seine Majestät den Kaiser und an die Regierung. Wer kann von uns, die wir Republikaner sind, verlangen, dass wir uns der Person eines Herrschers bittend nahen? Wer kann von uns Sozialdemokraten verlangen, dass wir bittend uns einer Regierung nahen, die ein Ausnahmegesetz gegen uns erlassen hat, unter dem wir 12 Jahre lang geknechtet und verfolgt worden sind, wie überhaupt nur politische Gegner zeknechtet und verfolgt werden können. Wie könnten wir an eine Regierung petitionieren, welche die Weisheit der Gerichte gegen die Arbeiterinnen-Organisationen in Bewegung gesetzt hat, eine Weisheit, gegen die Salomos Weisheit der reine Waisenknabe ist. Und, werte Anwesende, wenn die Vorrednerin betont hat, dass sie die Frauenfrage als Teil einer kulturellen Aufgabe betrachte, dass sich in diesen Forderungen alle Volkskreise, alle Parteien begegnen könnten, so muss ich ihr eines entgegnen: Es handelt sich nicht darum, schöne Wünsche, nützliche Forderungen zu formulieren; es handelt sich darum, eine soziale Macht vorzustellen, welche diese Forderungen durchzudrücken vermag. Was bedeutet die Macht der Gutgesinnten gegen die eines Stumm, der ausschlaggebend ist in sozialpolitischer Hinsicht? Die gesamte Gesellschaft ist heutzutage nur noch bestrebt, die Arbeiterklasse in weiterer Unterdrückung zu erhalten, sie widersteht jeder ernsten Sozialreform. Die Kreise der Gutgesinnten besitzen nicht die Macht, gegenüber der organisierten Macht des Klassenstaates die erstrebten Reformen durchdrücken zu können. Seit Jahrzehnten schreit die geistige und sittliche Degeneration der arbeitenden Klassen zum Himmel, und wenn wir Sozialisten auch die Auffassung haben, dass nur eine soziale Umwälzung diesem Elend ein Ende machen kann, so erkennen wir doch die Notwendigkeit von Reformen an. Wir weisen keine Reform zurück. Umgekehrt, wir sagen: Nur her mit diesen Reformen, immer mehr Reformen! Aber die Arbeiterklasse dankt Euch für diese Reformen nicht, denn alles, was die bürgerliche Gesellschaft an solchen Reformen zu schaffen vermag, das ist nur ein Quentchen gegenüber der Schuld der kapitalistischen Gesellschaft. Und mehr noch. Wir sagen: all diese Reformen sind für uns nur ein Linsengericht und für dieses Linsengericht geben wir unser Erstgeburtsrecht, das Recht, eine revolutionäre Klasse zu sein, nicht her. Verehrte Anwesende, erschrecken Sie nicht vor dem Wort, „revolutionäre Klasse“, es hat eine geschichtliche Bedeutung, und ich gebrauche es in dieser, nicht im Kapitalisten- oder Wachtstubenjargon. Frau Schwerin hat unter anderem gesagt, dass bürgerliche und proletarische Frauen zusammenarbeiten könnten auf dem Gebiet der Volksschule.
Aber, frage ich sie, woher soll die Frau des Proletariats die Zeit nehmen, um sich in genügender Weise aufzuklären, um an einer solchen Aufgabe mitarbeiten zu können? Die Frau, die tagsüber in der Arbeit frohndet, hat nicht die Zeit, zu Vorträgen zu laufen und in Kommissionen mitzuarbeiten. Sie kann ihre Zeit weit nützlicher anwenden, indem sie im Lager der Sozialdemokratie mitkämpft. Wenn die bürgerliche Frauenbewegung etwas tun will, was auch den sogenannten ärmeren Schwestern zu Gute kommt, dann soll sie in erster Linie für die volle politische Gleichberechtigung der Geschlechter eintreten, weil dadurch die Arbeiterin das Recht bekommt, wirtschaftlich und politisch mit ihrem Manne gegen das Unternehmertum kämpfen zu können. Die bürgerliche Frauenbewegung sollte ferner eintreten für eine Reform des Steuerwesens, damit der arme Mann nicht so schwer belastet ist, für die Abschaffung der Gesindeordnung und für den Achtstundentag ohne Unterschied des Geschlechts. Von der Bereitwilligkeit der bürgerlichen Frauen, die Organisationen der Arbeiterinnen zu fördern, haben die proletarischen Frauen nur Nutzen, wenn man diese Organisationen zu Kampforganisationen gegen das Kapital gestaltet, und nicht etwa zu Harmonie-Kaffeekränzchen. Wenn die bürgerliche Frauenbewegung für diese Reformen eintritt, wird sie parallel mit uns arbeiten. Wir werden es anerkennen, falls sie auf diesem Gebiet etwas erreicht, was den Arbeiterinnen zu Gute kommt. Aber wenn eine parallele Aktion möglich ist, so ist damit nicht gesagt, dass sie eine gemeinsame ist. Was wir auch für Berührungspunkte haben, wir stehen im anderen Lager. Für uns steht in erster Linie der Grundsatz: Die proletarische Frau kämpft gemeinsam mit ihrem männlichen Schicksalsgenossen einen Klassenkampf und nicht einen Kampf gegen die Vorrechte des männlichen Geschlechts, den die bürgerliche Frauenbewegung ihrer ganzen Entwicklung nach zu führen die historische Aufgabe hat.
Zuletzt aktualisiert am 18. Januar 2025