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Quelle: Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, Nr. 12, 10. Juni 1896.
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Dass eine Ehe, deren sittliche Voraussetzung – die gegenseitige Liebe der Gatten – geschwunden, ein sittliches Unding ist, dass sie die schwersten moralischen Missstände zeitigt, und dass in diesem Falle eine Ehescheidung im Interesse wahrer Sittlichkeit erleichtert werden muss, darüber sind wohl heutigen tags alle einig, die das Wesen, den Inhalt über toten Formelkram stellen. Die geschichtliche Entwicklung hat in ihrem Verlaufe eine gegen die frühere Zeit veränderte, verfeinerte Auffassung von Liebe und Ehe herausgearbeitet. Sie ist mehr und mehr am Werke, die Ehe mehr und mehr aus einer, wen auch nicht bloß, so doch in erster Linie, wirtschaftlichen Einheit zu einer rein sittlichen Einheit zu gestalten. Das Innenleben, die geistig-sittliche Persönlichkeit des modernen Menschen ist ungemein kompliziert geworden. Feine und allerfeinste geistige und moralische Imponderabilien (unwägbare Gründe) entscheiden deshalb mit den wirtschaftlichen Verhältnissen in unserer Zeit über das Eheglück oder Eheunglück des Einzelnen, Gründe so unfassbarer, so durchaus persönlicher, intimer Natur, dass sie nun und nimmer in den groben Maschen der gesetzlichen Bestimmungen hängen bleiben, welche gegenwärtig für die Trennung einer Ehe maßgebend sind. Ohne dass Ehebruch, grobe Misshandlungen etc. die Ehe zerrüttet haben, ja ohne dass „unüberwindliche Abneigung“ der Gatten vorhanden ist, kann das Zusammenleben der selben sich zu einem freudlosen, qualvollen gestalten, das sittlich zersetzend auf Mann, Frau und Kinder einwirkt. Eine Gesetzgebung, welche den Bedürfnissen der Zeit Rechnung trägt, darf sich der Einsicht nicht verschließen, dass die Ehe nicht eine sittliche Ordnung an und für sich ist, die ihre moralische Kraft in sich besitzt, sondern dass erst das Verhältnis der Gatten zu einander das sittliche Moment in die Ehe hineinträgt. Sie darf nicht an der Überzeugung klammern, dass die Ehe als „sittliche Ordnung“ den gesellschaftlichen Einflüssen entrückt und in der Luft einer abstrakten, absoluten Moral schwebe. Sie muss vielmehr dem Umstand Rechnung tragen, dass die Ehe, wie jedes andere gesellschaftliche Gebilde den Einfluss erfährt veränderter wirtschaftlicher Bedingungen, veränderter gesellschaftlicher Einrichtungen, veränderter Moral etc. Dem vollzogenen äußerlichen und innerlichen Umschwung gemäß muss in unserer Zeit eine einsichtige Gesetzgebung die Ehescheidung erleichtern, und das im Interesse der Sittlichkeit.
Die gesetzgeberische Unschuld der Väter des Entwurfs einer neuen bürgerlichen Rechtsordnung ist durch derartige Erwägungen nicht getrübt worden. Der Frage der Ehescheidung gegenüber haben sie sich von dem Heute mit seinen Bedürfnissen verständnislos abgewandt. Sie haben die Ehescheidung erschwert, denn der bisher vom Gesetz vorgesehene Scheidungsgrund „unüberwindliche Abneigung“ fehlt in dem Entwurf. Wie ein übel angebrachter Scherz oder wie eine Schildbürgerei nimmt es sich für jeden Vorurteilslosen aus, wenn in der Begründung bezüglich der betreffenden Bestimmungen gesagt wird, dass durch Erschwerung der Scheidung die Unverletzlichkeit der Ehe und die Moral geschützt werden soll. Ein nicht „umstürzlerischer Bestrebungen“ gegen Ordnung, Eigentum und Familie verdächtiger Mann, der geheime Justizrat Bulling („Die heutige Frau und das bürgerliche Gesetzbuch“) richtet treffend diese Auffassung wie folgt: „es ist nach unserer Meinung unmoralisch, Ehegatten, die den inneren Zusammenhang völlig verloren haben, durch das Gesetz aneinander zu fesseln. Auch auf die Erziehung der Kinder kann eine zerrüttete Ehe nicht gedeihlich wirken.“
Proteste über Proteste sind in den verschiedensten Kreisen gegen die betreffenden Bestimmungen des Entwurfs laut geworden. Begreiflicherweise nicht zum mindesten aus der Frauenwelt. Als selbstverständlich hätte man daher annehmen sollen, dass die Kommission zur Verbesserung des Entwurfs den erhobenen Bedenken und Forderungen gerecht geworden wäre. Aber in Deutschland ist gegenwärtig nur das Reaktionäre selbstverständlich. So hat auch der öffentlichen Meinung zum Trotz die Kommission die Bestimmungen des Entwurfs über die Ehescheidung nicht verbessert, sondern wesentlich verbösert. Unter Führung der Bennigsen und Stumm gesellten sich Ultramontane, Konservative und Nationalliberale innig zusammen zu einer reaktionären Mehrheit, welche die auf Erleichterung der Ehescheidung abzweckenden Anträge von sozialdemokratischer und freisinniger Seite zu Falle brachte und dafür weitere Erschwerenden der Trennung durchsetzte. Es triumphierte die Auffassung, dass die Ehe eine über den individuellen Beziehungen der Gatten zu einander stehende Ordnung sei, die möglichst unter allen Umständen aufrecht erhalten werden müsse.
Diese Auffassung ist um so merkwürdiger, als die Stellung der christlichen Kirchen und Staaten zur Ehe und Ehescheidung keineswegs stets und überall die gleich war und ist. Noch in den ersten Zeiten den Christentums bestand auch unter seinen Anhängern das alte mosaische und römische Recht, welches dem Gatten – der Stellung der Frau als Sklavin und Eigentum des Mannes gemäß – das Recht der Selbstscheidung zuerkannte, Allerdings gelangte dieses Recht mit der Zeit sehr selten in Anwendung. Im Neuen Testament wird wiederholt die Auffassung vertreten, dass der Mann nicht um irgend einer kleinen Ursache willen sich scheide. Seit dem 5. Jahrhundert stützt die katholische Kirche sich auf die betreffenden stellen, um die Unauflöslichkeit der Ehe als Glaubenssatz festzulegen. Erst seit dem 12. Jahrhundert gelang es ihr, ihrer Lehre von der Sakramentsnatur der Ehe praktisch Geltung zu verschaffen. Aber die katholische Kirche selbst hat Prinzip der Sakramentsnatur und Unauflöslichkeit der Ehe durchbrechen müssen. Sie schied wiederholt die Ehen von Fürsten, sie anerkannte die Möglichkeit einer lebenslänglichen oder zeitweiligen Trennung der Gatten von Tisch und Bett. Diese Trennung wurde nicht von einem weltlichen, sondern von einem geistlichen Gericht ausgesprochen. Die protestantische Kirche anerkennt hingegen die Möglichkeit einer Ehescheidung Seit dem 1. Januar 1876 sind es in Deutschland nur noch die weltlichen Gerichte, welche auf Ehescheidung erkennen können. Eine Aufhebung der Lebensgemeinschaft, durch Trennung von Tisch und Bett gibt es nicht mehr. Die Gründe, welche nach der katholischen Kirche maßgebend für sie waren (Ehebruch, Sodomie und Päderastie für Trennung auf Lebenszeit, hartnäckige Verweigerung der so genannten Ehepflicht, Abfall von der Kirche für zeitliche Trennung), galten dort, wo das katholische Eherecht noch besteht, als Scheidungsgründe, wie sie – mit Ausnahme des Abfalls von der Kirche – Scheidungsgründe für die protestantische Kirche waren. In manchen deutschen Bundesstaaten gibt es noch ein landesherrliches Ehescheidungsrecht, das aber wohl durch das Zivilstandsgesetz als außer Kraft gesetzt betrachtet werden darf. Noch heute aber gilt im protestantischen Deutschland das protestantische, im katholischen Deutschland das katholische Ehescheidungsrecht. Soweit nicht besondere Gesetze die Ehescheidungsgründe geregelt haben. Und letzteres ist in vielen Einzelstaaten der Fall. Von der als absolut erklärten „sittlichen Ordnung“ der Ehe gilt also auch das Wort: zeitlich sittliche, ländlich sittlich.
Der Entwurf des neuen bürgerlichen Rechts soll nun an Stelle des kunterbunt der diesbezüglichen Bestimmungen eine einheitliche Regelung der Ehescheidung für das ganze Reich setzen. Leider ist jedoch die im Entwurf vorgesehene Neuordnung keine zeitgemäße, vielmehr eine durchaus reaktionäre. Statt die gesetzliche Trennung der Ehe zu ermöglichen auf „gegenseitige Übereinkunft“, schließt es sogar die Möglichkeit der Scheidung aus auf Grund „unüberwindlicher Abneigung“. Der Entwurf stellt so genannte „absolute“ Scheidungsgründe auf, bei deren Vorhandensein der Richter die Trennung der Ehe aussprechen muss: ferner so genannte „relative“ Scheidungsgründe, denen gegenüber des Ermessen des Richters darüber entscheiden soll, ob die Ehe zerrüttet und ihre Aufhebung unumgänglich geworden ist. „absolute“ Scheidungsgründe sind nach ihm: Ehebruch, diesem gleichgestellte Fleischesverbrechen, Lebensnachstellung, bösliche Verlassung, mindestens drei Jahre dauernde Geisteskrankheit, falls durch sie die geistige Gemeinschaft zwischen den Ehegatten aufgehoben und die Aussicht auf ihre Wiederherstellung ausgeschlossen ist. Als „relative“ Scheidungsgründe sollen nach der Begründung des Entwurfs in Betracht kommen solche, „welche nur dann zur Scheidung zu führen vermögen, wenn der Richter zugleich die Überzeugung gewinnt, dass dadurch im konkreten Falle eine so tiefe Zerrüttung des ehelichen Verhältnisses herbeigeführt ist, dass dem klagenden Ehegatten die Fortsetzung der Ehe nicht zugemutet werden kann. Als schwere Verletzung der Ehe gilt insbesondere „grobe Misshandlung“.
Wie wir bereits erwähnten, haben sich die Erwartungen nicht erfüllt, welche betreffs einer Verbesserung des Entwurfs an die Kommissionsverhandlungen geknüpft wurden. In einer Art Generaldebatte der Scheidungsgründe zeigte sich schon, dass nur Sozialdemokraten und Freisinnige für eine Erleichterung der Ehescheidung waren, dagegen aber Ultramontane und Konservative, denen die Nationalliberalen Hand und Spanndienste leisteten. Genosse Frohme führte im Gegensatz zu der reaktionären Auffassung aus, dass die Erleichterung der Ehescheidung im Interesse der Sittlichkeit liege Er forderte in Sachen der Ehescheidung die Gleichstellung der Geschlechter. Er betonte die Notwendigkeit, die Ehescheidungsgründe gesetzlich festzulegen und sie nicht in vielen Fällen dem Ermessen der Richter zu überlassen. Die persönliche Überzeugung des Richters von der Stichhaltigkeit der angezogenen Gründe wird je nach Individualität, persönlicher Lebenserfahrung, religiöser Anschauung etc. verschieden sein; verschiedenartig lässt sich deuten, was unter „Zerrüttung des ehelichen Verhältnisses“ zu begreifen ist. Die kautschukähnliche Fassung des Paragraphen, der die Entscheidung über die Auflösung der Ehe in das Belieben des Richters stellt, muss eine unsichere, verschiedenartige Praxis zeitigen. Frohme konnte z. B. darauf hinweisen, dass eine Arbeiterfrau die Scheidung von ihrem wegen gemeiner Verbrechen mit Zuchthaus bestraften Gatten vergeblich begehrte. Der Richter war nämlich der Meinung, bei Personen des Arbeiterstandes werde Zuchthausstrafe nicht als etwas Entehrendes angesehen. In der Spezialdebatte bekämpften der Freisinnigen Kaufmann und der Sozialdemokrat Stadthagen ebenfalls sehr energisch die Tendenz des Entwurfs, dem Belieben des Richters den weitesten Spielraum zu lassen Gerade auf dem Gebiet des Eherechts, führten sie aus, müsse das Gesetz dem Ermessen des Richters feste Grenzen ziehen. Weibliche Richter hätten wir noch nicht, und das richterliche Ermessen sei meist dem Manne günstig. Verschiedenartig werde die Überzeugung von der Zerrüttung des ehelichen Lebens ausfallen bei einem Junggesellen oder Verheirateten, bei einem glücklichen oder unglücklichen Ehemann, bei einem Katholiken oder Protestanten. Aus welchem Umstande könne man die Berechtigung herleiten, den Richter zum obersten Sachverständigen in Ehesachen zu machen? Im Entwurf äußere sich die Neigung, den Beamten zum allwissenden Vormund für alle Mitbürger zu machen. Die Gründe verhallten unberücksichtigt. Ebenso beantragte Kaufmann vergebens, den Wünschen bürgerlicher Frauenrechtlerinnen entsprechend, als absolute Scheidungsgründe gelten zu lassen: das Verbrechen unzüchtiger Handlungen mit Kindern; Missbrauch der Gewalt als Beamter, Lehrer, Vormund, Arzt zur Vornahme unsittlicher Handlungen mit willenlosen, bewusstlosen Personen oder Kindern; die Entmündigung wegen Trunksucht etc. Es fiel die Forderung, unter allen Umständen die Ehescheidung auszusprechen, wenn ein Ehegatte sich einer das Leben des andren gefährdenden Behandlung oder einer groben Misshandlung schuldig macht. Auch in diesem Falle dankte die reaktionäre Mehrheit das Amt des Gesetzgebers an das Ermessen des Richters ab. Dazu erreichte sie die Aufhebung zweier Ehescheidungsgründe: die Trennung kinderloser Eltern auf Grund gegenseitiger Einwilligung, wie sie im preußischen Landrecht vorgesehen ist; die fast in ganz Deutschland zugelassene Ehescheidung wegen unheilbarer Geisteskrankheit eines Gatten. Verworfen wurde auch ein Antrag der Ultramontanen, die Ehescheidung zuzulassen, falls die vor der Ehe zugesagt oder nach Abschluss der Ehe verlangte kirchliche Trauung unterblieben ist. Dagegen war das Bemühen der Zentrümler erfolgreich, die seit dem 1. Januar 1876 abgeschaffte Trennung von Tisch und Bett wieder einzuführen. Als „absolute“ Scheidungsgründe ließ die Kommission nur gelten: Ehebruch, Doppelehe, widernatürliche Unzucht, Trachtung nach dem Leben und bösliches Verlassen. Sie engt also die Scheidungsgründe noch über den Entwurf hinaus ein. Die allgemeinen Bestimmungen sind direkt frauenfeindlich und arbeiterfeindlich, am härtesten treffen sie die mittellose, die proletarische Frau. Da die Überzeugung des männlichen Richters darüber entscheidet, ob eine Fortsetzung der Ehe dem klagenden Teil zugemutet werden darf, so wird in so und so vielen Fällen die richtige Würdigung der Gründe ausbleiben, welche für eine Frau das Eheverhältnis zerrütten. Der reichen Frau wird es allerdings sehr oft möglich sein, mittelst der Ratschläge eines gewiegten Rechtsanwalts die Klippen des richterlichen Ermessens glücklich umschiffen zu können. Noch mehr gilt dies von dem vermögenden Manne, der die ihm überdrüssig oder unbequem gewordene Frau los sein möchte. Als Mann darf er von vornherein auf verständnisvolles Erfassen seines Leides durch das richterliche Ermessen hoffen. Als Reicher kann er mit Hilfe eines geschickten Rechtsbeistands die Ehescheidung von vornherein derart einleiten, dass ihre Berechtigung der Überzeugung des Beamten sonnenklar einleuchten muss. Der arme Arbeiter kann – dafern nicht die groben „absoluten“ Scheidungsgründe vorliegen – die Trennung eines durch und durch zerrütteten Ehelebens nur von dem Ermessen des Richters hoffen, der vielleicht als Mann gnädig mit ihm fühlt, vielleicht aber auch von der Überzeugung durchdrungen ist, dass dem „ungebildeten“ Proletarier ein höheres Maß ehelichen Unglücks „zugemutet werden darf“ als dem Mann „gebildeten Standes“. Und um den Richter mit Unterstützung des Rechtsanwalts klar zu machen, dass diese Voraussetzung nicht stimmt, dafür vermag der Arbeiter nicht zu zahlen. Die Nachteile aber welche die geplante neue Rechtsordnung in Sachen der Ehescheidung für die Frauen und für die Arbeiter zeitigt, sie kommen vereint zur Geltung gegenüber der proletarischen Frau. Als Frau und als Arme hat sie das Gesetz gegen sich, als Hilfloseste der Hilflosen steht sie den gesetzlichen Bestimmungen gegenüber, d. h. dem Belieben des Richters. Die sozialdemokratischen Abgeordneten Frohme und Stadthagen handelten nur im Interesse der Frauen und Arbeiter, wenn sie als Antwort auf das Verböserungswerk der Kommissionsmehrheit beantragten: die auf die Ehescheidung wie Eheschließung bezüglichen Teile des Entwurfs zu streichen und es bei den bestehenden Gesetzen zu belassen. Ihr Antrag wurde abgelehnt und das Zentrum hat sich sogar vorbehalten, bei der zweiten Lesung des Gesetzentwurfs weitere Verschlechterungen zu fordern. Reaktion ist in Deutschland Trumpf auf der ganzen Linie, das beweisen auch die einschlägigen Bestimmungen des Entwurfs und die auf diesen bezüglichen Verhandlungen der Kommission.
Zuletzt aktualisiert am 12. August 2024