Clara Zetkin

 

Zur Agrarfrage

Rede auf dem Parteitag der sozialdemokratischen Partei Deutschlands zu Breslau

(10. Oktober 1895)

 

Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.
Abgehalten zu Breslau vom 6 bis 12. Oktober 1895, Berlin 1895, S. 135–143.
Aus: Clara Zetkin, Ausgewählte Reden und Schriften, Bd. I, Berlin 1957, S. 84–94.
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Ich drücke zunächst mein Bedauern darüber aus, dass ich nicht zu Ihnen sprechen kann in der Rolle der „Stubengelehrten“, von denen man hier verschiedentlich so wegwerfend gesprochen hat, aber ich will betonen, dass unsere Theoretiker nicht auf eine Stufe mit Stubengelehrten zu stellen sind, welche einen engen Ausschnitt des Lebens im engen Lichtkreis ihrer Studierlampe betrachten. Den Theoretikern unserer Partei ist die eingehende Kenntnis der Wirklichkeit eigentümlich, die genaue Kenntnis der verschiedenen sozialen Erscheinungen und ihrer tiefen Zusammenhänge. Wir haben den Theoretikern ebensoviel zu verdanken wie den Männern der Praxis. Übrigens kommt der Widerstand gegen die Vorschläge der Agrarkommission durchaus nicht lediglich aus den Kreisen der Theoretiker. Umgekehrt, die Masse der Genossen ist es, welche sich in schärfster Kritik gegen diese Vorschläge gewendet hat. Und dies nicht zufällig, sondern naturnotwendig, geleitet vom klaren Klassenbewusstsein, geleitet vom gesunden revolutionären Klasseninstinkt.

Nun zur Sache! Die Befürworter der Vorschläge der Agrarkommission meinen, dieselben seien nun annehmbar, weil sie in veränderter Form vorgelegt werden. Durch diese formale Änderung ist meines Erachtens die Situation nicht verändert worden. Die Kritik rügte an den Vorschlägen nicht bloß, dass dem Programm Forderungen eingefügt werden sollten, die nicht in dasselbe gehören. Sie richtete sich vor allem dagegen, dass ein großer Teil der erhobenen Forderungen, die wichtigsten derselben, nicht dem Klassenkampfcharakter der Sozialdemokratie entsprechen. Charakteristisch für das Wesen dieser Vorschläge war der ursprünglich vorgeschlagene Einleitungspassus, dass wir im Rahmen der heutigen Staats- und Gesellschaftsordnung demokratisieren und sozialisieren wollen. Damit wurden der Sozialdemokratie Aufgaben gestellt, die sie im Rahmen der heutigen Staats- und Gesellschaftsordnung nicht erfüllen kann. Jede Demokratisierung zertrümmert einen Teil des Rahmens der heutigen Staatsordnung. Den Rahmen der bestehenden Staatsordnung demokratisieren wollen, läuft auf die bekannte „Republik mit dem Großherzog an der Spitze“ hinaus. Dieser Geist des Widerspruchs, das Findenwollen der Quadratur des Kreises, beherrscht die Vorschläge der Kommission nach wie vor. Man hat gesagt, wir müssten ebenso für den Bauernschutz wie für den Arbeiterschutz eintreten. Andernfalls würden wir die Notwendigkeit praktischer Reformarbeit leugnen, uns in Widerspruch mit uns selbst setzen. Auch vor den Vorschlägen der Agrarkommission ist die Sozialdemokratie für Reformen eingetreten. Aber diese Reformen, der Arbeiterschutz, bezweckten, die Arbeiterklasse körperlich, geistig und sittlich zu heben, sie damit wehrtüchtiger zu machen für den proletarischen Klassenkampf, ihn mit größerer Energie führen zu lassen. („Sehr richtig!“) Mochten die von uns angestrebten Reformen noch so friedliche sein sie wirkten dadurch eminent revolutionär. Außerdem bewegten sie sich in der Richtung der wirtschaftlichen Entwicklung und nicht gegen sie. Wir lehnten es – in Erkenntnis der Gesetze der bestehenden Wirtschaftsordnung – ab, die wirtschaftliche Existenz des Arbeiters zu sichern. Die Rücksicht auf die vom Referenten betonte Internationalität bestimmte uns nicht, dem Beispiele der Franzosen folgend, die Forderung eines Maximallohnes in unser Programm aufzunehmen. Wir wiesen die Forderung des Rechtes auf Arbeit als eine utopistische ab, wir hoben hervor, dass in der heutigen Gesellschaft für den Arbeiter nicht bloß das Recht auf Arbeit besteht, sondern der Zwang zur Arbeit, so dass man eher das Recht auf Muße fordern könnte. Ganz anders liegen die Dinge bezüglich des Bauernschutzes. Wenn wir den Vorschlägen der Kommission zustimmen, so treten wir ein für den Schutz des Bauern als Privatbesitzer. („Sehr richtig!“) Es kann nicht die Aufgabe der Partei sein, welche die Vergesellschaftung aller Produktionsmittel erstrebt, das Privateigentum gegen die Eventualitäten sichern zu wollen, welche die wirtschaftliche Entwicklung für den Privatbesitz zeitigt. („Sehr richtig!“) Und obendrein in dem Augenblicke, wo dank der wirtschaftlichen Entwicklung beim Bauern der Glaube an die Vorzüge und an den ewigen Bestand des Privateigentums langsam ins Wanken gerät. Der antikollektivistische Bauernschädel ist trotz Molkenbuhrs gegenteiliger Behauptung keine fromme Sage. Und wenn er jetzt allmählich anfängt, sich unserem Werke der Aufklärung zugänglicher zu erweisen, so, weil ihm seine Verhältnisse zeigen, wie richtig wir die sozialen Zustände erfassen, weil er einzusehen beginnt, dass er als Arbeiter in der sozialistischen Gesellschaft kulturwürdiger zu leben vermag denn als „Besitzer“ in der bürgerlichen Gesellschaft. (Beifall.) Genosse Quarck hat nun allerdings behauptet, die Vorschläge bezweckten nicht in erster Linie, etliche Tausende von Bauern für uns zu gewinnen, sie geschähen vielmehr mit Rücksicht auf die Aufgaben, welche die Sozialdemokratie im Interesse der Gesamtheit und der Zukunft auf dem Gebiete der Landeskultur zu lösen hätte. Die Aufgabe der Sozialdemokratie ist meines Erachtens, den proletarischen Klassenkampf zu führen und zu organisieren. Für die Hebung der Landeskultur kann sie sich im Rahmen der heutigen Gesellschaftsordnung nicht programmatisch verpflichten. Da führt die Hebung der Landeskultur zu einer Hebung der wirtschaftlichen Lage von Privatbesitzern. Genosse Quarck befindet sich mit seiner Auffassung in Übereinstimmung mit Professor Schmoller, der der Not leidenden Landwirtschaft eine Milliarde von Staats wegen zugewendet wissen wollte und diese Forderung dem Sinne nach, ja, fast wörtlich wie Genosse Quarck begründete. Wenn ich jene Ausführung lese, so ist es mir, als höre ich Dr. Quarck. Aber Schmollers Vorschlag ist mir noch lieber als die Vorschläge, welche Dr. Quarck befürwortet. Ihm ist gleich die Rechnung beigefügt, welche das Volk begleichen muss und die auf eine Milliarde lautet.

Aber nicht nur mit Rücksicht auf den programmatisch festgelegten Bauernschutz sind die Vorschläge der Kommission entschieden zu verwerfen, auch mit Rücksicht darauf, dass sie die Sozialdemokratie in das staatssozialistische Fahrwasser lenken. Wir leben in einem kapitalistischen Staate, der durch Militarismus und Bürokratismus verbösert ist. Und die Machtmittel dieses Staates sollten wir vermehren, indem wir für die staatliche Monopolisierung des Hypothekenkredits eintreten, für Vermehrung der Staatsländereien und Staatsbetriebe, für landwirtschaftliche Genossenschaften mit Staatshilfe usw.? Kurz, für Maßregeln, welche weite Schichten der Bevölkerung wirtschaftlich und damit politisch vom heutigen Staat abhängig machen? Es ist zwar betont worden, wir stimmten auch ohne Furcht vor der Abhängigkeit der Eisenbahnbeamten für die Errichtung von Staatsbahnen. Aber es ist ein anderes, für eine Maßregel stimmen und eine Maßregel im Programm festlegen. Und die politische Unfreiheit der Eisenbahnbeamten ist nicht gerade ein ermutigendes Beispiel, die gleiche Vormundschaft für weitere Schichten der Bevölkerung herbeizuführen. Gedenken Sie der Ausführungen über die Postbeamten, welche unser Postetatredner, Genosse Schoenlank, in jeder Session des Reichstags mit eingehender Sachkenntnis und gewohnter Schneidigkeit kritisiert. („Sehr gut!“) Wieder und wieder hat er nachgewiesen, welches Übermaß der politischen Bevormundung die Postbeamten erleiden, wie Maßregelung auf jede Äußerung einer politisch missliebigen Meinung folgt, wie der Staat in das Privatleben seiner Angestellten eingreift, darüber wacht, dass nicht ein grüner Junge an dem ersten besten Frauenzimmer hängen bleibt. Nun sagt man, Stumms Arbeiter sind nicht weniger unfrei. Aber Neunkirchen ist doch nicht überall, und die Bevormundung des Staates braucht nicht größer zu sein als bei Stumm.

Bebel meinte gestern, die Junker benützten den Kredit der Landschaftskassen, und sie seien trotzdem nicht abhängig vom Staat. Meines Wissens sind die Landschaftskassen keineswegs gleichbedeutend mit einer staatlichen Monopolisierung des Hypothekarkredits. Aber auch wenn dem so wäre, würden die Junker in der Folge allerdings nicht in Abhängigkeit vom Staate geraten. Der Staat hat nicht die Junker. Die Krautjunker zusammen mit den Schlotjunkern haben den Staat. („Sehr gut!“) Könnte das Proletariat erst sagen. „Die Staatsgewalt bin ich!“ so lägen die Dinge wesentlich anders. Wir würden dann die Maßregeln, welche die Kommission fordert, unbedenklich durchführen können; mehr noch, wir würden sie durchführen müssen; wir würden in den einschlägigen Reformen viel weiter gehen müssen. Aber wir müssen mit der Wirklichkeit rechnen, mit dem heutigen Staat. Bebel äußerte sich dem Sinne nach genauso auf dem Parteitage zu Köln gelegentlich der Frage des Antisemitismus. Er erklärte die Verstaatlichung der Hypotheken und ähnliche positive Maßnahmen für bedenklich und will sie nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen gelten lassen, unter der Herrschaft einer revolutionären Regierung. Genosse Liebknecht, der bereits vor 1868 in weitgehender Voraussicht auf die Bedeutung der Grund- und Bodenfrage hingewiesen hat, sprach sich auf dem Berliner Parteitage in der entschiedensten Weise gegen den Staatssozialismus aus. Nachdem er das Wesen des heutigen Staates gekennzeichnet hatte, führte er aus:

„Wenn in Deutschland den Großgrundbesitzern, die immer klagen, nicht bestehen zu können, vom Staat ihre Grundstücke nominell genommen, dafür aber angemessene „Liebesgaben“ und das Recht verliehen würde, gewissermaßen als Satrapen des Staates, wie die Satrapen des alten Perserreiches, als Obersklavenhalter über die kleinen Leute und die Landarbeiter, den Landbau zu leiten – wäre das nicht eine große Verbesserung für die Herren Junker, und glauben Sie nicht, dass dieser Gedanke oft schon in den Köpfen der gescheiteren Junker aufgestiegen ist? Selbstverständlich würden sie nur dann einwilligen, wenn sie sowohl an Einkünften als an Einfluss gewinnen würden; allein das wäre auf dem Boden des Staatssozialismus leicht zu machen. Der Gedanke ist also durchaus nicht als völlig in der Luft stehend abzulehnen. Und sicher ist, dass diejenigen, welche in den oberen Klassen dem Staatssozialismus huldigen, keineswegs sich auf die Industrie beschränken wollen, sondern auch die Verstaatlichung des Grund und Bodens im Auge haben, aber immer selbstverständlich im Sinne des heutigen Junker- und Polizeistaats. Je stärker der Gegensatz wird zwischen Sozialismus und Kapitalismus, je mehr der Kapitalismus unter den Konsequenzen seines eigenen Wesens, unter den Wirkungen seiner eigenen Entwicklungsgesetze leidet, je mehr ihn die Furcht vor der anwachsenden Sozialdemokratie quält, desto näher rücken wir der Möglichkeit zur Verwirklichung dieses Gedankens.“ [1]

Bebel bestritt damals, dass in größeren kapitalistischen Kreisen die Neigung zur Verstaatlichung vorhanden sei. Liebknecht hielt seine Ausführungen aufrecht, aber das konnte auch er nicht voraussehen, dass wenige Jahre später eine staatssozialistische Meinung sich geltend machen würde im Lager der Sozialdemokratie, zwar nicht in weiten Kreisen derselben, dafür aber in einflussreichen Kreisen. Und das ist erklärlich genug: Der Staatssozialismus steht in so schroffem Widerspruch zu dem Charakter der deutschen Sozialdemokratie, er verträgt sich so wenig mit den geschichtlichen Bedingungen, unter denen diese sich entwickelt und kämpft, dass niemand das Auftauchen einer Strömung voraussehen konnte, welche die Sozialdemokratie zu staatssozialistischen Experimenten drängen will. („Sehr wahr!“ und Heiterkeit.)

Im Rahmen der heutigen Staats- und Gesellschaftsordnung würden wir den staatlich monopolisierten Hypothekarkredit als Unteroffiziersprämie bekommen. Die landwirtschaftlichen Genossenschaften mit Staatshilfe würden treffliche Stellen liefern für das Heer der Militäranwärter. (Beifall.)

Aber auch als praktische Agitatorin wende ich mich gegen die Vorschläge der Agrarkommission. Ich gehöre auch zu denen, „welche ein paar Versammlungen auf dem Lande abgehalten und einmal mit ein paar Bauern gesprochen haben“. Mit Bauern, die nicht aus einem Roman genommen waren, deren Bekanntschaft ich auch nicht auf der Bühne gemacht hatte. Ich habe vor ihnen unser Programm mit dem größten Erfolge entwickelt. Nicht, dass ich diese Erfolge überschätze. Aber ich unterschätze auch nicht, was durch diese Agitation ausgerichtet wird. Ich meine, wir haben schon sehr viel gewonnen, wenn die nämlichen Bauern uns hören, die uns bisher mit Hunden aus dem Dorfe hetzten. („Sehr gut!“) Wenn ich dabei auf meine persönlichen Erfahrungen verweise, so aus einem bestimmten Grunde.

In meiner Eigenschaft als Frau und als Sozialdemokratin hatte ich ein zweifaches Vorurteil der ländlichen Bevölkerung gegen mich. Wenn sie meinen Ausführungen Beifall zollte, so beweist dies, dass auch die Bauern unserer aufklärenden Agitation auf Grund des jetzigen Programms zugänglich sind. Bieten wir überhaupt dem Bauern gar nichts, wenn wir ohne die schönen Geschenke der Agrarkommission aufs Land kommen? Keineswegs. Wir bieten ihm schon jetzt viel in unserem Reformprogramm. In Sachen der Steuerfragen, des Militarismus, der Bildung bieten wir der bäuerlichen Bevölkerung viel mehr, als irgendeine bürgerliche Partei bieten kann. Deren miserable Haltung den Volksinteressen gegenüber bietet unserer Kritik die Breitseite dar. („Sehr wahr!“) Gerade umgekehrt würde die Sache liegen bezüglich der Vorschläge der Kommission. Da werden wir von den Versprechungen der demagogischen Antisemiten und nicht minder demagogischen Konservativen um mehr als Nasenlänge geschlagen. („Sehr richtig!“) Wir sind bei unseren Versprechungen gebunden durch die Rücksicht auf das Interesse des Proletariats. Die bürgerlichen Parteien kennen diese Fesseln nicht. Unsere Haltung gegenüber den Bauern wäre also beständig eine verklausulierte. Der Bauer würde demgegenüber erklären: Verklausulierung hin, Verklausulierung her. Mir ist der bürgerliche Politiker ohne Verklausulierung lieber. („Bravo!“) Er wird den bürgerlichen Reformer uns vorziehen. Dieser verspricht ihm wirtschaftlich mehr und passt sich außerdem den politisch, religiös und sozial rückständigen Anschauungen des Bauern an. („Sehr richtig!“) Wir werden durch die Vorschläge der Kommission seine Sympathien nicht gewinnen, vor allem nicht auf die Dauer! Von heute auf morgen würde er es vielleicht mit uns versuchen, nach dem Sprichwort: Neue Besen kehren gut. Von morgen auf übermorgen würde er uns hassen, hassen mit der ganzen Wut der enttäuschten Hoffnung! (Beifall.)

Dass die angeschnittene Frage eine brennende ist, bestreite ich durchaus nicht. Aber sie gehört meines Erachtens zu jenen Fragen, die wir im Rahmen der heutigen Staats- und Gesellschaftsordnung nicht lösen können. Es gibt eine Reihe solcher Fragen, so die der Krisen. Solche Fragen haben wir kritisch zu untersuchen, unsere Haltung ihnen gegenüber in Theorie und Praxis festzulegen. Wir dürfen uns aber nicht zum Zwecke ihrer Lösung in Experimente einlassen. Mit dem guten Willen allein ist’s hier nicht getan. Genosse David hat zwar erklärt, die Sozialdemokratie ist nicht die Partei des Wissens, sondern des Willens. Ich bin der Ansicht, dass die Sozialdemokratie die Partei des zielklaren Willens ist, weil sie die Partei des zielklaren Wissens ist. (Beifall.) Bequemen wir uns der Auffassung des Genossen David an, dass Probieren über Studieren geht, so treten wir in die Fußstapfen des Zickzackkurses. Er ist bis jetzt der sozialen Frage gegenüber vor lauter Probieren – mit dem Zuckerbrot, mit der Peitsche, mit allen möglichen Mitteln – nicht zum Studieren gekommen. („Sehr gut!“)

Überraschen muss uns, dass von den Befürwortern der Kommissionsvorschläge wieder und wieder betont werden muss, dass dies oder jenes nicht gemeint war, dass die oder jene Konsequenz nicht beabsichtigt wurde. Ein Programm soll klipp und klar sagen, was wir wollen. Was ist das für ein Programm, das zu jedem Punkt einer Exegese bedarf, was damit eigentlich gemeint ist? Außerdem können wir nicht mit dem rechnen, was die Kommission gemeint hat. Nicht ihr gutes Herz ist maßgebend für den Wert ihrer Vorschläge, vielmehr die Einwirkung derselben auf den revolutionären Klassenkampf des Proletariats. Die Wirklichkeit ist so rücksichtslos, dass sie nicht bloß über die guten Absichten der Agrarkommission zur Tagesordnung übergeht, sondern über die Auffassung der ganzen Sozialdemokratie, sobald diese sich vom Boden der tatsächlichen Verhältnisse entfernt. Die Gegner würden sich beeilen, die Konsequenzen aus den zu Beschlüssen und Programmpunkten erhobenen Vorschlägen der Kommission zu ziehen. Und dies mit umso größerem Eifer, je fehlerhafter die Prämissen sind, von denen wir ausgehen. Wir müssen die Vorschläge der Kommission um so entschiedener zurückweisen, als sie nur eine Lokalisierung jener Strömung in unserer Partei ist, welche vor allem positiv, praktisch sein will und über dem Reformeifer den Charakter unserer Partei vergisst, den Charakter der heutigen Staats- und Gesellschaftsordnung übersieht, die scharfe Zuspitzung des Klassenkampfes in Deutschland. Wir haben gerade gegenwärtig umso mehr Ursache, diese Richtung zurückzuweisen, als sich Genosse Bebel in Sachen der Agrarfrage für sie mit aller Wärme ins Zeug legt. Ich bitte, die folgenden Ausführungen durchaus nicht persönlich aufzufassen. Unter den Vertretern jener Richtung befinden sich Leute, die als Parteigenossen meine höchste Achtung besitzen, Leute, die mir als Freunde persönlich sehr nahe stehen. Nichtsdestoweniger sind sie mir als Richtung gräulich. (Heiterkeit.) Und wenn ich Bebel unter ihnen sehe, so drängt sich mir unwillkürlich die Stelle aus Faust auf die Lippen: „Es tut mir in der Seele weh, dass ich dich in der Gesellschaft seh‘.“ [2] (Lebhafter Beifall.) Wenn wir erleben, dass der Genosse, der noch wochenlang nach dem Frankfurter Parteitag als Saulus gegen die gekennzeichnete Richtung zu Felde gezogen ist, in der Agrarkommission sein Damaskus gefunden hat, so können wir nicht entschieden genug erklären: Die Sozialdemokratie geht nicht nach Damaskus, Halten wir an dem revolutionären Charakter unserer Partei fest. Seien wir Reformer, seien wir Praktiker, allzeit und überall, wo wir es sein können, ohne den revolutionären Charakter der Partei preiszugeben. Aber seien und bleiben wir zum ersten Male revolutionär, zum zweiten Male revolutionär, zum dritten Male revolutionär!

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Anmerkungen

1. Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Berlin vom 14. bis 21. November 1892, Berlin 1892, S. 179–180.

2. „Es tut mir lang schon weh,
Dass ich dich in der Gesellschaft seh’.“
(Goethe, Faust, 1. Teil.)

 


Zuletzt aktualisiert am 6 August 2024