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Nachstehender Vortrag wurde in einer Zusammenkunft Berliner Parteifreunde am 29. Dezember 1928 gehalten. Sein Gegenstand war der Offene Brief der Exekutive der Kommunistischen Internationale an die KPD, über die rechte Gefahr In der Kommunistischen Partei Deutschlands, der am 19. Dezember in einer Sitzung des Präsidiums der Exekutive angenommen wurde und am 22. Dezember in der Berliner Roten Fahne veröffentlicht ist (XI. Jährgang Nr.301). Die Veröffentlichung des Vortrags auf Grund des aufgenommenen Stenogramms erfolgt nicht nur auf den Wunsch der Zuhörer. Sie ist auch notwendig geworden durch die groben und zum Teil ganz albernen Fälschungen, die in einem „Bericht“ der Roten Fahne über den Vortrag enthalten sind. Geradezu eines Stiebers würdig ist die Phantasie von der „Zelle Einheit“, die völlig frei erfunden ist. Ich habe mich bei der Bearbeitung auf wenige Zusätze beschränkt und Überschriften eingefügt. Gegenüber den geflissentlichen Märchenerzählungen der Roten Fahne sei noch hinzugefügt, daß die Debatte vollständige Übereinstimmung mit dem hier Vorgetragenen ergab.
Die Fragen, die in meinem Vortrag behandelt sind, sind keine „Geheimnisse“. Es sind grundlegende Fragen der kommunistischen Bewegung, die ihrer Natur nach vor die Masse der Parteimitgliedschaft gehören und offen vor unserer Klasse, dem Proletariat, erörtert werden müssen. Daß die Sozialdemokratie unsere Auseinandersetzungen für ihre Zwecke auszuschlachten versucht, ist keine Neuigkeit. Das enthebt die revolutionäre Partei der Arbeiterklasse nicht der Pflicht, die Fragen der Revolution auch schonungslos gegen die eigenen Fehler zu besprechen, Nur so kann die Partei politisch wachsen, und nur so gewinnt sie das Vertrauen der breiten proletarischen Massen. Die Autorität der revolutionären Partei der Arbeiterklasse innerhalb ihrer Klasse und die Autorität ihrer Führung bei den Parteimitgliedern kann nicht gewonnen und erhalten werden durch bloßes Kommandieren und Dekretieren der Instanzen, sondern nur durch de bewußte Zustimmung der Parteimitglieder, und das erfordert, daß die Parteimitglieder aktiv beteiligt sind, an der Ausarbeitung der politischen Linie der Partei, daß sie ihrem kritischen Urteil Unterworfen wird. Die Pflicht zur Ausführung gefaßter Beschlüsse, auch bei Nichtübereinstimmung mit ihnen, setzt die vorhergegangene freie Prüfung voraus. Geschieht das nicht, so tritt an die Stelle wirklicher revolutionärer Disziplin die Unterwerfung, der passive Gehorsam, der bei der ersten ernsten Belastungsprobe zusammenbrechen muß wie ein faules Rohr.
Der bürgerliche Militarismus hat längst begriffen, daß mit Massenheeren unter den Bedingungen des modernen Krieges nicht zu operieren ist ohne die Entwicklung der Initiative jedes einzelnen Soldaten. Das gilt zehn- und hundertfach für die proletarische Revolution, die noch viel größere Massen in Bewegung setzt und weit mehr Initiative, Selbständigkeit und Verständnis für das Ganze von jedem einzelnen Kämpfer verlangt.
Was aber der bürokratische Apparat unserer Partei aus der „Parteidiskussion“ gemacht hat, ist ein wahrer Hohn auf eine wirkliche Parteidiskussion. Nicht nur, daß für eine andere als die offizielle Meinung die Parteipresse verschlossen ist, daß Korreferate nicht zugelassen werden, daß für eine Anzahl Genossen „Redeverbote“, erlassen worden sind, und daß die Maßregelungen und Ausschlüsse nur so hageln; noch verderblicher als solch ein direktes Verbot der Parteidiskussion, wirkt der künstliche Schein einer Diskussion, mit dem die Parteibürokratie dem unstillbaren Bedürfnis der Parteimitglieder nach einer wirklichen Aussprache eine Scheinbefriedigung gewährt, um so dieses Bedürfnis zu narren. Vor uns liegt ein Rundschreiben des ZK über die Kampagne zum Offenen Brief, das diese faule Methode und zugleich ihre Wirkungen auf die Partei grell beleuchtet.
Das Rundschreiben gibt Anweisung zu „Kursen“ und „Instruktionsstunden , in denen den Parteimitgliedern von speziell Beauftragten nach Rekrutenart der VI. Kongreß der Kommunistischen Internationale und der Offene Brief eingedrillt wird. Für die Parteipresse werden spezielle Redaktionsmitglieder bestimmt, die die „Kampagne“ zu führen haben. Das Rundschreiben entwirft zugleich ein trübes Bild der Passivität, des inneren Widerstrebens, mit dem die Parteimitgliedschaft auf diese Art Kampagne reagiert. Der, offizielle Kohl, den die Instanzen in Massen durch federfertige und von keinen Skrupeln geplagte Vielschreiber produzieren lassen, bleibt zum großen Teil unkonsumiert liegen, und eine eigene aktive, selbständige Betätigung selbst nur der mittleren und unteren Parteifunktionäre bei der „Kampagne“ fehlt fast vollständig.
Daß dem so ist, ist aber kein Wunder. Was ist dieser Homunkulus von „Diskussion“ oder „Kampagne“, den der kommunistische Famulus Wagner in der Retorte erzeugt hat? Die aktive Rolle dabei ist streng begrenzt auf die Spitzen des Apparats, die profane Masse der Mitglieder aber ist auf die passive Rolle der Aufnahme dessen beschränkt, was der Apparat ihr in Breiform einflößt. Es ist nur ein Zeichen unverwüstlicher Gesundheit, wenn die Mitglieder dagegen rebellieren: die entwickelste Schicht durch aktive Auflehnung, die unentwickeltere durch den passiven Widerstand, über den das offizielle Rundschreiben so beweglich klagt.
Diese Methode. der „Diskussion“, die die Erstickung einer wirklichen Diskussion ist, haben die Thälmänner und Neumänner glücklich nach dem Muster kopiert, das seit Lenins Tod in der KPdSU eingeführt worden ist:
Wie er sich räuspert, und wie er spuckt |
Diese Methode ist in der Sowjet-Union eine Wirkung der Bürokratisierung innerhalb der Partei, und es ist für jeden kritischen Beobachter klar, daß sie dort bereits ein Hemmnis der Parteientwicklung geworden ist. Bei alledem sind natürlich die Bedingungen und Methoden des Parteilebens in einem Lande, in dem die Partei die Staatsmacht in der Hand hält, und jede Parteidiskussion zugleich mehr oder weniger die Machtfrage berührt, nicht dieselben wie in Ländern, wo die revolutionäre Arbeiterpartei erst die Mehrheit der Arbeiterklasse zu erobern und ihr eigenes Gesicht herauszuarbeiten hat. Was wir in Deutschland sehen, ist aber ein wahres Zerrbild, eine vergröberte und verplattete Kopie dieses Vorbilds. Es muß das wirkliche Leben im Innern der Partei bis in die Wurzel ertöten und damit zugleich ihre Werbekraft nach außen zum Absterben bringen. Der entschlossene, rücksichtslose Kampf gegen diese Methode und gegen die Parteibürokratie, für die diese Methode das einzige Mittel ist, um sich an der Macht zu halten, ist eine absolute Pflicht der Parteimitglieder. Her geht es um die Lebenswurzeln der Partei. Geht dieser Prozeß ungehemmt weiter, verwandelt sich die Parteimitgliedschaft in das passive Objekt einer Bürokratie, die selbst nur ein mechanischer Übertragungsapparat der Weisungen eines höheren bürokratischen Zentrums geworden ist, – so ist keine Rettung mehr. Ein solcher innerlich erstorbener Apparat könnte gewiß noch ziemlich lange äußerlich zu existieren fortfahren, und mit dem erborgten Glanz der Autorität der russischen Revolution Mitglieder bei sich halten; aber der erste Stoß des revolutionären Sturmwinds müßte das morsche Gebäude krachend zum Einsturz bringen.
Subalterne Beamte, „gehorsame Dummköpfe“, schmiegsame Streber, gestützt auf eine künstlich in Passivität gehaltene Mitgliedschaft werden gewiß nicht die gewaltige Aufgabe der Vorbereitung und Durchführung der proletarischen Revolution in Deutschland vollbringen, die von der Partei die reifste und lebendigste Durchbildung und die äußerste Entfaltung der Initiative jedes einzelnen Parteimitgliedes verlangt.
In der Sozialdemokratie hatte die Selbstherrlichkeit der Bürokratie und die ihr entsprechende Lähmung des Lebens in der Mitgliedschaft bereits vor dem Kriege ein solches Ausmaß angenommen, daß es nach dem Zusammenbruch vom 4. August 1914 der beharrlichsten und stärksten Anstrengungen bedurfte, um aus den Trümmern die ersten revolutionären Kader zu bilden. Seit dieser Zeit ist der Prozeß der Verselbständigung der sozialdemokratischen Bürokratie gegenüber der Mitgliedschaft weiter und weiter fortgeschritten – zugleich mit der immer vollständigeren Unterordnung und Einordnung dieser Bürokratie in den Herrschaftsapparat der Bourgeoisie. Zwar darf die Mitgliedschaft noch allerhand sagen – aber was sie sagt, hat nichts zu sagen. Wenn also die reformistische Bürokratie glauben sollte, bei unserem Kampf gegen die bürokratische Entartung in unserer Partei ihr Süpplein kochen und sich als Hort der Arbeiterdemokratie in empfehlende Erinnerung bringen zu können, so werden die Arbeiter, die die Entwicklung dieser Partei und ihren jetzigen Zustand kritisch verfolgt haben, darüber nur lachen.
Gegenüber denjenigen unter den Züchtern und Nutznießern des bürokratischen. Regiments in unserer Partei, die sich dabei, auf die „bolschewistischen“ oder „kommunistischen“ Organisationsprinzipien berufen, sei kurz folgendes in Erinnerung gebracht. Wenn irgendeine Zeit ein straffes Regiment, eine straffe Disziplin in der Partei erforderte, so waren es die Jahre revolutionärer Kämpfe, die Jahre 1918-1923. In dieser Zeit wurde um grundlegende Fragen der kommunistischen Taktik in unserer Partei gerungen, so um die Fragen der revolutionären Betätigung in den bürgerlichen Parlamenten, in den Gewerkschaften, um die Taktik der Einheitsfront usw. Aber welch anderes Bild zeigten diese Auseinandersetzungen: Freie Auseinandersetzung in der Parteipresse, in den Organisationen. Niemand fiel es ein, an „Redeverbote“, an die Schließung der Parteipresse für oppositionelle Meinungen zu denken. Im Gegenteil: Die Parteileitung forderte in dieser Zeit oppositionelle Meinungen direkt auf, sich möglichst klar und vollständig auszusprechen. Wenn dies möglich, ja notwendig war in den Zeiten unmittelbarer revolutionärer Kämpfe, und wenn es die unerläßliche Voraussetzung der revolutionären Kampfdisziplin der Partei war, so ist es hundertmal mehr möglich und notwendig in der heutigen Zeit, wo unsere Partei in vollständiger Legalität lebt und ihre Aktionen sich auf den gewerkschaftlichen und politischen Tageskampf beschränken. In dieser Zeit unter Berufung auf die kommunistischen Organisationsprinzipien, die bürokratische Drosselung des Parteilebens rechtfertigen zu wollen, heißt, den Parteimitgliedern, die. die wirkliche Geschichte unserer Partei miterlebt haben, etwas zu viel an Stumpfsinn bieten. Diese Methode ist nicht die Anwendung der kommunistischen Organisationsprinzipien. Sie ist ihre gröbste Entstellung, ihre Verkehrung ins Gegenteil. Denn dieses Grundprinzip ist die Einheit des Handelns, aber nicht die Einheit des Nichthandelns.
Übrigens zeigt die russische Parteigeschichte einen ganz entsprechenden Entwicklungsgang. Wirkliche Diskussionen in den Zeiten des offenen und heftigsten Bürgerkrieges und kurz danach, solange Lenin – noch die Partei führte. Die .Niederhaltung wirklicher Diskussionen durch die bürokratischen Druckmittel und an ihrer Stelle künstliche Scheindiskussionen in den Zeiten danach – in den Zeiten der vollen revolutionären Legalität. Die Ursachen sind hier wie dort, verwandte und stehen miteinander in der unmittelbarsten Verbindung. Mit dem Sinken des revolutionären Feuers häuft sich die bürokratische Schlacke. In dem Maße wie die unmittelbare revolutionäre Tätigkeit unten abnimmt, wächst oben an der Spitze de bürokratische Selbstherrlichkeit. Daraus folgt aber auch umgekehrt: in dem Maße, wie es gelingt, die revolutionäre Tätigkeit der Parteimitgliedschaft und der Arbeiterklasse überhaupt zu beleben, werden die Fesseln der Bürokratisierung der Partei gelockert und schließlich gesprengt. Der eine wie der andere Kampf stehen geschichtlich in Wechselwirkung. Sie müssen praktisch aufs engste miteinander verbunden, werden. Natürlich bestehen auch Unterschiede zwischen der Bürokratisierung in Deutschland und in Rußland. Die Bürokratisierung in Deutschland erfolgt im Widerspruch zu einer breiten Arbeiterdemokratie, die sich im Laufe von Jahrzehnten geschichtlich entwickelt hat. Die Bürokratisierung der Partei in Rußland hat keine derartigen Voraussetzungen. Die Tradition, an die sie anknüpft, ist die der vorrevolutionären staatlichen Bürokratie.
Eine der abstoßendsten Blüten der bürokratischen Umkehrung der kommunistischen Organisationsprinzipien ist das, was man die ideelle Einschüchterung nennen kann. Diese Methode besteht bekanntlich darin, jeder kritischen und selbständigen Äutßerung von unten sofort den Stempel des „Menschewismus“, „Sozialdemokratismus“, „Liquidatorentums“, „Antibolschewismus“ usw. aufzuprägen und jedwede Kritik so durch Abblasen von politischem Giftgas abzutöten. Ein paar Hetzwörtchen sollen der Kritik den Mund und der Parteimitgiedschaft die Ohren verstopfen. In dieser Kunst haben einige Gestalten in unserer Partei durch Spezialisierung eine wahre Virtuosität erlangt Um sie zu erreichen, dazu gehört, daß man sich von sachlicher Befassung mit wirklichen Fragen der Bewegung sorgfältig fernhält.
Ein kostbares Pröbchen dafür ist das Hetzwörtchen, mit dem die Rote Fahne auf den in diesem Vortrag entwickelten Gedankengang von der Notwendigkeit der Ausarbeitung des konkreten Weges zur proletarischen Revolution in Deutschland, seiner besonderen eigentümlichen Züge, „antwortete“. Diese Antwort bestand in keinem einzigen Gedanken, sondern einzig und allein in dem Hetzwörtchen „Chauvinismus“. Damit ist diese Sache, die grundlegend ist für die kommunistische Parteiarbeit in Deutschland, und ohne deren Bewältigung die proletarische Revolution in Deutschland (und in jedem anderen Lande) unmöglich ist, für die Redaktion „erledigt“ und soll es auch für die Parteimitglieder sein, die dazu verurteilt sind, die Rote Fahne zu lesen.
Um der letzteren Willen seien hier einige Stellen aus Lenins Schrift Der Radikalismus, die Kinderkrankheit des Kommunismus angeführt, die zeigen, daß der Urheber des „Leninismus“ ausdrücklich davor warnte, allen Zügen der russischen Revolution internationale Bedeutung zuzusprechen, wie es heute die gedankenlosen kleinen Schreier tun, die sich aufs Plappern und Nachplappern beschränken; daß er in vollem Umfang die Bedeutung der Herausarbeitung der konkreten Züge der proletarischen Revolution. in den einzelnen Ländern einschätzte, und daß er diese Aufgabe in erster Linie den Parteien der betreffenden Länder zuwies.
Im ersten Kapitel der genannten Schrift fragt Lenin: „In welchem Sinne kann man von der internationalen Bedeutung der russischen Revolution sprechen?“ Und er antwortet in gewohnter präziser Weise:
In den ersten Monaten nach der Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat in Rußland (25. Oktober bis 7. November 1917) konnte es scheinen, daß infolge des ungeheuren Unterschiedes zwischen dem rückständigen Rußland und den westeuropäischen Ländern die Revolution des Proletariats in diesen Ländern der unseren wenig ähnlich sein wird. Jetzt haben wir schon einige Erfahrung hinter uns, die mit voller Bestimmtheit erkennen läßt, daß einige Grundzüge unserer Revolution nicht eine örtliche, spezifisch nationale, ausschließlich russische, sondern internationale Bedeutung haben. Ich spreche hier nicht von der internationalen Bedeutung im weiten Sinne des Wortes. Ich sage nicht, daß alle Grundzüge und viele untergeordneten Züge unserer Revolution von internationaler Bedeutung im Sinne ihrer Einwirkung auf alle Länder sind; nein, im engsten Sinne des Wortes, das heißt, wenn man von internationaler Bedeutung, die internationale Tragweite oder die Unvermeidlichkeit der Wiederholung dessen in internationalem Maßstabe – was bei uns war, versteht, muß man einigen Grundzügen unserer Revolution solche Bedeutung beilegen.
Natürlich wäre es ein großer Fehler, diese Wahrheit zu übertreiben, sie auf mehr als einige Grundzüge unserer Revolution auszudehnen. Ebenso wäre es ein Fehler, außer acht zu lassen, daß nach dem Siege der proletarischen Revolution auch nur in einem der vorgeschrittenen Länder ein Jäher Umschwung eintreten kann, daß gerade Rußland bald danach nicht das vorbildliche, sondern abermals das rückständige (im sozialistischen und Im Sowjet-Sinne) Land sein wird.
Aber im gegebenen historischen Augenblick stehen nun einmal die Dinge so, daß das russische Vorbild allen etwas überaus Wesentliches aus ihrer unvermeidlichen und nicht fernen Zukunft zeigt. (Unterstreichungen von mir. – A.Th.)
Lenin warnte also vor der Übertreibung des allgemein Gültigen an der russischen Revolution. Er beschränkte es ausdrücklich auf einige (nicht einmal alle) „Grundzüge“ dieser Revolution. Im Jahre 1923, als diese Schrift erschien, war es notwendig, besonders gegenüber den Kautsky, Bauer und Genossen, gerade diese Züge der russischen Revolution, die von internationaler Bedeutung sind, besonders hervorzuheben. Denn sie stellten die proletarische Diktatur und die Räte als einen Ausdruck der russischen Rückständigkeit dar, während die bürgerliche Demokratie dein „fortschrittlichen“ Westen entspreche.
Aber die kommunistischen Grundsätze, die der russischen Revolution entnommen sind, sind heute in das allgemeine Bewußtsein der kommunistischen Vorhut eingegangen. Heute muß man gegenüber den von Lenin gekennzeichneten Übertreibungen In der Partei gerade die andere Seite, die eigentümlichen Züge der proletarischen Revolution in den Ländern außerhalb Rußlands besonders betonen, und was mehr ist, man muß sie im einzelnen ausarbeiten, soweit bereits die Unterlagen dafür vorliegen. (Diese sind heute noch nicht alle da; manche von ihnen werden erst im weiteren Verlaufe des Kampfes sichtbar werden
Wir können bei diesem ersten Schritt, der Aneignung der allgemein gültigen Züge der russischen Revolution, nicht ein für allemal stehen bleiben. Man muß jetzt weiter gehen, einen zweiten Schritt tun, man muß die besonderen Züge der Revolution in den anderen Ländern feststellen. Das erfordert allerdings mehr als bloßes Geschrei, mehr als bloßes Wieder. holen dessen, was längst festgestellt, klar und anerkannt ist.
Diese Aufgabe wurde von Lenin in der genannten Schrift mit aller Genauigkeit formuliert. Im zehnten Kapitel schrieb er:
Solange nationale und staatliche Unterschiede zwischen den Völkern und Ländern bestehen – diese Unterschiede aber werden noch lange und sehr lange sogar nach der Verwirklichung der Diktatur des Proletariats im Weltmaßstabe bestehen bleiben – erfordert die Einheit der, internationalen Taktik der kommunistischen Arbeiterbewegung aller Länder nicht die Beseitigung der Verschiedenartigkeit, nicht die Abschaffung der nationalen Unterschiede (das ist im gegebenen Augenblick ein sinnloser Traum), sondern eine derartige Anwendung der grundlegenden Prinzipien des Kommunismus (Sowjetmacht und Diktatur des Proletariats), die diese Prinzipien in den Einzelheiten richtig abändert, und den nationalen und national-staatlichen Verschiedenheiten anpaßt. Das national Eigentümliche, national Spezifische in der konkreten Taktik eines jeden Landes zur Lösung der einheitlichen internationalen Aufgabe (Sieg über den Opportunismus und den linken Doktrinarismus innerhalb der Arbeiterbewegung, Sturz der Bourgeoisie, Errichtung der Sowjetrepublik und der proletarischen Diktatur) zu erforschen, zu studieren, herauszufinden, zu erraten und zu erfassen – das ist die wichtigste Aufgabe des historischen Augenblicks, den alle vorgeschrittenen (und nicht nur die vorgeschrittenen Länder gegenwärtig durchmachen. Das Hauptsächlichste – natürlich noch lange, lange nicht alles – ist schon getan in der Heranziehung der Vorhut der Arbeiterklasse, in Ihrem Übergang auf die Seite der Sowjet macht gegenüber dem Parlamentarismus, auf die Seite der Diktatur des Proletariats gegen die bürgerliche Demokratie. Jetzt müssen alle Kräfte, muß alle Aufmerksamkeit auf den nächsten Schritt konzentriert werden, der weniger wichtig scheint – und von einem gewissen Standpunkt auch weniger wichtig ist – der aber dafür der praktischen Lösung der Aufgabe praktisch näher steht, nämlich: es müssen Formen der Heranziehung oder des Übergangs der Massen zur proletarischen Revolution gefunden werden.
So wurde die Aufgabe, die weniger wichtig scheint,. vom Standpunkt der reinen Theorie, dafür aber ausschlaggebend ist vorn Standpunkt der revolutionären Praxis im Frühjahr 1920 von Lenin formuliert. (Gestellt wurde sie durch die Erfordernisse des internationalen Klassenkampfes in dieser Zeit.)
Ist sie gelöst worden?
Leider nicht. Die proletarische Revolution ist noch in keinem einzigen Lande außerhalb Rußlands zum Siege gelangt. Und der bedeutendste der Versuche in Westeuropa noch 1920, um die proletarische Diktatur aufzurichten, der von 1923 in Deutschland, ist gescheitert nicht nur es der objektiven Situation, sondern vor allem auch an dem Unvermögen, die nationalen Besonderheiten des Weges zur proletarischen Revolution in diesem Lande, der Taktik und Strategie auf Grund der grundlegenden Prinzipien des Kommunismus richtig auszuarbeiten, diese Prinzipien in den Einzelheiten „richtig abzuändern“. Weder der Opportunismus noch der linke Doktrinarismus, in heutiger Sprache das Ultralinksertum, sind besiegt.
Die 1920 gestellte Aufgabe ist also noch zu lösen. Zu lösen natürlich entsprechend den Bedingungen der heutigen Lage des Klassenkampfes in den einzelnen Ländern und des Weltkapitalismus überhaupt.
Diese Lage stellt aber in den Mittelpunkt folgende eng miteinander verbundene Fragen:
Es ist natürlich sehr viel leichter, diese ganze Fragestellung mit dem einen Wörtchen „Chauvinismus“ zu „liquidieren“, das heißt beiseite zu schaffen, das Nachdenken darüber (das „Erforschen, Studieren, Herausfinden, Erraten, Erfassen“) durch leeres Geschrei sich selber zu ersparen und den anderen auszutreiben
Aber die Bedürfnisse der kommunistischen Bewegung treffen nicht immer zusammen mit denen zeitweiliger Parteiinstanzen. Diese gehen, jene bleiben. Die Fragen, die die revolutionäre Bewegung selber stellt, kommen nicht zur Ruhe, bis sie richtig theoretisch gelöst und im Leben verwirklicht sind. Es mag einige Zeit gelingen, mehr oder weniger große Teile der Parteimitglieder durch Hetzwörtchen zu verwirren und einzuschüchtern: letzten Endes wird bloßes Geschrei sie nicht auf die Dauer befriedigen, wenn es nur die Begleitmusik zu theoretischer Ohnmacht und praktischer Unfähigkeit ist.
Die Kräfte, die sich innerhalb der Partei in den wenigen Monaten der verschärften Auseinandersetzung gegen den politischen Kurs und das innerparteiliche Regiment der Parteiinstanzen gesammelt haben, stimmen uns durchaus nicht pessimistisch.
Die Tatsache, daß ich inzwischen zusammen mit dem Genossen Brandler auf der KPdSU und der Kommunistischen Internationale ausgeschlossen worden bin, ändert an dem Inhalt unseres Kampfes nicht das geringste. Wenn die augenblicklich herrschende Parteibürokratie im Ernst geglaubt haben sollte, sie könne den unumgänglichen Prozeß der Reinigung, Gesundung und Weiterentwicklung der Partei einfach durch robuste Anwendung von Knebel und Stock aus der Welt schaffen, so hat die bereits stattgehabte Entwicklung diesen echt bürokratischen Stumpfsinn ebenso widerlegt, wie die auf derselben Ebene sich bewegenden Erwartungen der sozialdemokratischen Bürokratie.
Und die weitere Entwicklung wird, des sind wir sicher, unvermeidlich zum vollen Siege der Auffassung fuhren die die nächst höhere Stuft der Parteientwicklung vertritt und ihr die Wege bahnt.
Der Kampf, der sich jetzt auf deutschem Boden abspielt, hat indessen nicht nur lokale, speziell deutsche Bedeutung. Dieser Kampf spielt sich in mehr oder weniger entwickelter Form noch in einer Reihe anderer Länder ab oder ist in der Entwicklung begriffen. Er geht, international gesehen, um die Vorbereitung der zweiten höheren Etappe der Weltrevolution, über die russische Revolution hinaus. Die Interessen dieser ersten und zweiten Etappe der Weltrevolution stehen objektiv in keinem Widerspruch zueinander. Die Widersprüche und Gegensätze auf diesem Felde sind subjektiver Art. Sie bestehen in dem gegenwärtigen Unvermögen der gegenwärtig führenden russischen Genossen über die Etappe der Weltrevolution hinauszusehen, die durch die russische Revolution verkörpert wird.
Jedennoch wird auch hier die durch Tatsachen wirkende historische Dialektik subjektiver Begrenztheiten und Unzulänglichkeiten Herr werden und dies um so sicherer und schneller, je forscher diese Begrenztheiten und Unzulänglichkeiten heute ins Zeug gehen.
Berlin, den 25. Januar 1929
Zuletzt aktualisiert am 18.7.2008