Hermann Teistler

Der Parlamentarismus und die Arbeiterklasse

Vom Wesen des Staates

Für die politische Tätigkeit der Arbeiterklasse muss die Auffassung vom Wesen des Staates bestimmend sein und ist es lange Zeit hindurch gewesen. Wer aber das Verhalten der heutigen Sozialdemokratie genauer und unbefangener beobachtet, der gelangt unvermeidlich zu dem Schluss, dass entweder die offiziellen Vertreter des Proletariats ihrer besseren Erkenntnis zuwiderhandeln, oder dass man die Auffassung vom Wesen des Staates total geändert hat. Die jetzige Taktik der Partei, ihrer gesetzgeberischen Illusionen sind nur möglich aufgrund eines falschen Staatsbegriffes. Man nehme die Frage nach dem Charakter des Staates nicht so leicht und betrachte sie nicht als rein akademische. Von ihrer Beantwortung hängt vielmehr in hohem Grade das Schicksal der Arbeiterklasse ab. Die Art, wie man neuerdings von sozialdemokratischer Seite den Staat zu behandeln beginnt, muss für das Proletariat geradezu verhängnisvoll werden. Sie verleitet die Arbeiter zu falschen Hoffnungen und Maßnahmen; zu einer Politik, die schließlich in das Verderben führt. Sie zieht die Bewegung vom Boden des Klassenkampfes auf das glatte Parkett des Parlaments, wo sie früher oder später zu Falle kommt. Eine Frucht dieser Art sind die staatssozialistischen Anwandlungen, die seit einiger Zeit in der Partei Platz gegriffen haben. Wie verheerend derlei Strömungen in den Reihen des Proletariats wirken müssen, ist klar. Nicht genug, dass auf diese Weise die revolutionäre Energie der Massen abgestumpft und gebrochen, die Tatkraft in nutzloser Kleinarbeit vergeudet wird – man gefährdet durch solche Taktik überhaupt die Befreiung der Arbeiterklasse.

Was ist denn der Staat? Konfuse Köpfe haben ihn als „Gemeinschaft des Volkes“ definiert – als einen Verband, der im Interesse Aller zustande gekommen. Man verfiel dann auf den Staatsvertrag, der Rechte und Pflichten auf alle Glieder der Gesellschaft gleichmäßig verteile. Schutz des Rechtes und Sicherung der allgemeinen Wohlfahrt sollten Staatszweck sein. Was in Wirklichkeit ein brutaler Polizeistaat war, wurde zum „Rechtsstaat“ auszuputzen gesucht. In philosophischer Begriffsverwirrung langte man endlich beim „Ausdruck der sittlichen Idee“ und sonstigem Unsinn an. Aber trotz all’ diesem Gerede funktionierte der Staat als das, was er immer gewesen, ruhig weiter: als ausgesprochenes Werkzeug zu Herrschaftszwecken. Selbst die bürgerlichen Staatsrechtslehrer heben jetzt zwei Extreme als das Charakteristische des Staates hervor: Regierung und Regierte. Wer sind die Regierenden? Immer die Inhaber des Besitzes! Und wer wird regiert? Natürlich die Besitzlosen!

In einer Zeit, die noch kein Privateigentum kannte, konnte es auch keinen Staat geben. Er entstand erst, als das Privateigentum die alte Gesellschaft in zwei feindliche Klassen zerriss: in Reiche und Arme. Nur diesen Gegensätzen hat der Staat seine Existenz zu verdanken. Er war notwendig, um den Besitz zu schützen; man bedurfte einer Macht, um die Verletzung des Privateigentums zu bestrafen; man bedurfte eines Mittels, um die Besitzlosen niederzuhalten und sich dienstbar zu machen. Früher hatten die Bande der Verwandtschaft und des gemeinsamen Interesses genügt, um die Gesellschaft zusammenzuhalten – jetzt, nachdem die Gemeinschaft gesprengt, brauchte man eine besondere Exekutivgewalt, um die soziale Organisation vor dem Auseinanderfallen zu schützen. Und diese Gewalt steht nicht über den beiden Gesellschaftsklassen, sondern innerhalb derselben; sie ist vom Besitz selbst geschaffen und hat schon aus diesem Grunde dessen Dienst zu vertreten. So behalten Marx und Engels Recht, wenn sie definieren: der Staat ist die Organisation der Besitzenden zur Beherrschung und Knechtung der Besitzlosen. Im Stile Lasalle’s kann man den Staat auch ganz zutreffend als „Nachtwächter der Eigentumsklasse“ anreden.

Wie sehr sich auch die Formen des Staates im Laufe der wirtschaftlichen Entwicklung verändert haben mögen – das Wesen der Institution blieb immer dasselbe. Der antike, der feudale und der moderne Staat; sie alle sind Einrichtungen der jeweilig besitzenden und darum herrschenden Klasse; sie alle richten sich gegen das besitzlose und ausgebeutete Volk. Und dies sowohl in Republiken, wie in Monarchien. In der Feudalzeit war die Eigentumsklasse durch den Adel repräsentiert, und darum war dieser im Staate ausschlagend. Heute spielt die Bourgeoisie im Wirtschaftsleben die erste Geige, und darum gelten ihre Interessen als oberstes Staatsgesetz. Nie und nirgends hat das besitzlose Volk, das heute durch die Arbeiterklasse repräsentiert wird, entscheidenden Einfluss im Staate. Dies wäre mit dem Wesen des Staates absolut unvereinbar; er kann sich unmöglich nach dem Willen derjenigen richten, die zu beherrschen und niederzuhalten seine Bestimmung ist. Denn damit würde er sich selbst aufgeben. In dem Augenblicke, wo beispielsweise die Arbeiterklasse aufgrund ihrer Stärke im Staate maßgebend sein könnte, wäre diese Einrichtung samt der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt gefallen. Solange aber die Zersetzung noch nicht derartig fortgeschritten ist, dass der Staat stürzen muss, solange wird er dem Proletariat Herrschaft der Besitzenden aufzwingen und dieser Klasse auf seine Geschäfte oder Maßregeln keinerlei Einfluss gestatten. Wenn er den Forderungen der Arbeiter einigermaßen entgegenkommt, so tut er es entweder nur in eigensten Interesse der Bourgeoisie, oder weil es dieser keine Opfer auferlegt, ihr aber den Schein der Arbeiterfreundlichkeit verleiht.

So sieht es im modernen State aus. Auf ihn die Hoffnungen der Arbeiter zu bauen, das ist angesichts dieser Sachlage eine Täuschung, die, je länger sie währt, desto verhängnisvoller werden muss. Kann man es verantworten, das nach Erlösung ringende Proletariat auf seinen Todfeind zu vertrösten? Wie bringt man es über das Herz, die Arbeiter glauben zu machen, dass die soziale Frage auf parlamentarischem Wege, also mit Hilfe des Staates – des Beauftragten der Bourgeoisie – zu lösen sei? Die Emanzipationsbestrebungen des Proletariats vom revolutionären Boden abzulenken, um sie dem „Wohlwollen“ des Staates auszuliefern – das erscheint uns geradezu als Verrat an der Arbeitersache. Und dies geschieht seitens der sozialdemokratischen Parteiführer keineswegs bloß vereinzelt, sondern fortgesetzt. Systematisch drillt man der Arbeiterschaft den Glauben an den Staat wieder ein – einen Glauben mit dem sie instinktiv schon mehr oder weniger gebrochen hatte. Zwar heißt es in den Parteiprogrammen, die Befreiung müsse das Werk der Arbeiterklasse selbst sein; in Wirklichkeit aber tritt man diesen Bestrebungen durch Wort und Tat entgegen und raubt so dem Proletariat das Vertrauen auf seine eigene revolutionäre Kraft. Dafür wird die staatliche Regelung, das staatliche Eingreifen, die staatliche Reform als Anfang und Ende aller Weisheit gepriesen. Der Staat hinten, der Staat vorne; wohin man blickt und hört: überall etwas Staatliches als Ideal – es wird einem ganz wirr im Kopfe vor lauter Staatlichkeit und Staatsmännertum! Diesem Staatsdusel wird ein trauriges Erwachen, eine bittere Enttäuschung folgen – hoffen wir im Interesse der beteiligten Arbeiter, dass es dann nicht zu spät ist.

Wir werden es immer für unsere Pflicht erachten, vor verderblichen Staatswege zu warnen, und je weiter sich die offizielle Sozialdemokratie auf demselben verirrt, desto lauter werden wird unsere Mahnung wiederholen: Nicht die Hilfe, sondern die Beseitigung des Staates ist das Ziel des Sozialismus! Das Proletariat kann die Befreiung nur von der eigenen Kraft – nicht von seinem Feinde erwarten!

 


Zuletzt aktualisiert am 11.10.2007