Victor Serge

 

Die Alternative: Russische Demokratie

(1946)


Victor Serge, Für die Erneuerung des Sozialismus: Unbekannte Aufsätze, Hamburg 1975, S.47-49.
Übersetzung aus dem Französischen: Marita Molitor.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive. [1*]


Kaum ist der 2. Weltkrieg zu Ende, da schwebt das Schreckgespenst eines 3. Weltkrieges über der Welt. Wer den Mut hat, der Realität ins Gesicht zu sehen, kann das nicht leugnen. Ist von einer neuen Organisation Europas zum Zwecke des Wiederaufbaus und des dauerhaften Friedens, von einer Organisation der interkontinentalen Beziehungen mit einem neuen Europa, das Vertrauen in sich selbst und in die Zukunft hat und ein Beispiel für einen aufgeschlossenen Schritt in die Zukunft gibt, die Rede? Es ist die rede von geheimer Aufrüstung, Atombomben, und der Gründung von Armeen und Flotten. Die offenen Konflikte sind heute zahlreicher und blutiger als kurz vor München 1938 oder kurz danach. Die Diplomatie ist geheimer, schärfer und schwieriger. Finnland, Polen, Mitteleuropa, die Balkanländer, Triest, der Nahe Osten, die Dardanellen, die Türkei, der Iran, China, Korea, so viele schmerzhafte Abszesse auf der Haut der Völker! Vergessen wir auch nicht die Probleme Indiens, Indonesiens und Indochinas in einer Zeit, in der die Interdependenz der Staaten so aussieht, daß man amerikanische Truppen in Japan und Deutschland, Polen, in Afrika und Italien und in England tibetanische Gefangene findet, die erst in der Roten Armee und dann in der Wehrmacht gekämpft haben. Die Tatsache, daß das Wohl des Einzelnen zukünftig vom Wohle aller abhängt, ist erwiesen. Die Tatsache, daß die destruktive Macht der modernen Technik die Zivilisation einer Lebensgefahr aussetzt, die unendlich größer ist als die, der wir entkommen sind, hat sich in Hiroshima und Nagasaki bewiesen.

Hervorragende britische Liberale, die es gewöhnt sind, aus beruflichen Gründen die Politik der Mächte zu verfolgen, schlugen in The New Statesman and Nation (1. Dez. 1945) die Bildung eines westlichen Blocks der europäischen Länder vor „making it clear that Britain and the highly vulnerable Western seaboard of Europe will adapt a policy of strict neutrality in case of war between America and Russia.“ Ich zitiere diese charakteristischen Zeilen nur, um darauf hinzuweisen, welche konkrete Besorgnis sie ausdrucken. Die Vielfalt, die Schwere und die Tiefe der Konflikte zwischen der totalitären UdSSR und der Mehrzahl der anderen Länder rechtfertigen alle Befürchtungen. Für uns Sozialisten ist der Gegensatz zwischen dem Ende des 2. Weltkrieges und dem Ende des 1. Weltkrieges erschütternd. 1917/18 waren die Jahre der größten revolutionären, d.h. humanistischen und demokratischen Hoffnungen. Die Jahre 1945/46 bieten uns den Anblick der Hungersnot und der Ruinen, der Unterdrückung und oft der Verzweiflung. Die bewaffnete Intervention des sowjetischen Totalitarismus hat das entstehen einer polnischen Demokratie neuer Art verhindert, auf die die tendenziell sozialistischen Bestrebungen der Massen stark ausgerichtet waren. Dieselbe Intervention vereitelt die Volksbewegungen in den Balkanländern und ist sogar bis hin nach Frankreich zu spüren, wo das freie Denken verletzt wird. Meines Wissens wagt heute keine französische Zeitung, wahre Informationen über das russische Regime und über das, was in den Ländern geschieht, die kürzlich von diesem Regime erobert wurden, zu veröffentlichen. Die „Rote“ Armee steht in Berlin, in Thüringen; die französische KP verfugt über 25% der Wählermassen; man hütet sich, sich einer solchen Macht entgegenzustellen.

Das Erstaunliche, das Bestürzende ist, daß anscheinend niemand die einzig praktikable und gerechte Alternative zu dem bevorstehenden Krieg suchen will. Um ihre Länder in den Angriffskrieg zu führen, mußten Hitler und Mussolini zuerst die Demokratie töten. In der Welt von heute ist es mehr noch als in der Welt von gestern offensichtlich, daß ein Land, in dem relative freie Meinungen und relativ freie Information erlaubt sind und das von frei gewählten Mehrheiten regiert wird, keine Angriffs- und Eroberungspolitik betreiben kann; ebensowenig wie es in aller Heimlichkeit seine Bürger, die Mut zur Kritik haben, erschießen kann. Angriffspolitik und heimliche Erschießungen von Oppositionellen hängen eng zusammen. Der Beginn einer Demokratie in der UdSSR – einer Demokratie, die auf den gegebenen ökonomischen Grundlagen nur sozialistisch sein könnte – wurde den internationalen Konflikten, die vorwärtsgetrieben werden, ein Ende machen. Ein föderatives und freies Rußland böte eine solche Garantie für den Frieden, daß die Zukunft der weit gesichert wäre. Alle, die das russische Volk wirklich kennen, kennen seinen libertären Geist, seinen Sinn für die menschliche Gemeinschaft, und sie wissen auch, daß der Totalitarismus für dieses Volk eine schreckliche Unterdrückung ist. Die russische „Résistance“ gegen den neuen Despotismus hat gut eine halbe Million Tote hinterlassen. Unzählige Anzeichen bestätigen uns, daß sie in spontanen, sporadischen und zumeist unbewußten – im rein politischen Sinne des Wortes – Formen weiterbesteht. Der russische Mensch hat nicht auf seine Rechte verzichtet, er kann nicht auf sie verzichten. Diejenigen, die die Freiheit für Indien oder Indonesien fordern, versagen unendlich, wenn sie nicht gleichzeitig die Freiheit für das russische Volk fordern. Lest Norman Thomas, lest Arthur Koestler, lest das großartige Buch meines Freundes Anton Ciliga, der die sowjetischen Gefängnisse Überlebt hat. Lest noch einmal die unwiderlegbare – und unwiderlegte – Dokumentation Schicksal einer Revolution, die ich selbst veröffentlichte, als ich aus denselben Gefängnissen herauskam, nachdem ich 15 Jahre in der Russischen Revolution gearbeitet hatte. Und David J. Dallin, und W.H. Chamberlin, und Alexander Barmin, und der ermordete Walter Kriwitsky! Und Viktor Krawtschenko! Lest die beiden dicken Bände der John-Dewey-Kommission über die Affäre Trotzki. Nicht nur über den Despotismus, sondern auch über den Widerstand gegen den Despotismus gibt es zahlreiche Zeugnisse.

Die UdSSR ging mit einer verwüsteten Wirtschaft, mit 20 Millionen Toten und mit einer halb zerstörten Chinesischen Mauer aus dem Krieg hervor. Millionen russischer und asiatischer Kämpfer kennen nun den Westen, einen besiegten, ruinierten Westen, in dem der Lebensstandard – und die Freiheit! – des Durchschnittsmenschen größer war als bei ihnen. Die UdSSR hat durch den Krieg Millionen neuer, energischer Menschen mit unklarem Verlangen nach größerer Gerechtigkeit herangebildet. Sie haben den furchtbaren Zusammenbruch des Nazi-Totalitarismus erlebt; das bringt sie zum Nachdenken. Sie können nichts anderes wollen als etwas Wohlstand, mehr Freiheit und Zusammenarbeit mit der Welt. Wenn der Wiederaufbau der Länder mit den Mitteln des Totalitarismus erfolgt, werden sie nichts erhalten, dann wird die Rüstung den Wohlstand und die Freiheit töten. Das Regime wird ihnen die Umzingelungspsychologie einhämmern, d.h. die organisierte Angst als Vorbereitung auf den Präventivkrieg. Aber bis darüber entschieden ist, wird einige Zeit vergehen. Alle Informationen, die wir besitzen, veranlassen uns zu der Ansicht, daß der Drang nach Demokratie in der UdSSR in dieser Zeit, wenn nicht für die Machthaber eine Krise, so doch zumindest für das Regime eine Zeit der Unruhen und der Suche nach Lösungsmöglichkeiten eröffnet. Die Einführung der Demokratie ist eine durchführbare Möglichkeit geworden. Die Gründer des Totalitarismus sind verbraucht, eine Entscheidung über die Zukunft muß getroffen werden, eine Entscheidung für Frieden oder Krieg.

Es wäre zu diesem Zeitpunkt ein Verbrechen, über die Probleme der russischen Demokratie zu schweigen. Es ist unsere Pflicht, die Demokratie zu fordern und mit allen verfügbaren Mitteln zu verteidigen: mit den Mitteln der Information, des Verstandes und des moralischen Bewußtseins.

 

Anmerkung des MIA

1*.In der Ausgabe des Verlags Association wurden alle Substantive außer Eigennamen kleingeschrieben. Wir haben für diese Internet-Ausgabe zwecks Leserlichkeit die normale Großschreibung wiedereingeführt.

 


Zuletzt aktualiziert am 14.10.2003