L. Sedov

Rotbuch über den Moskauer Prozess


Die stalinistischen Amalgame sind vorhergesehen worden


„Die bloße Proklamierung der Opposition zu einer ‚konterrevolutionären Partei‘ genügt nicht: das nimmt niemand ernst. Ihm (Stalin) bleibt nur eins übrig: versuchen, zwischen der offiziellen Partei und der Opposition einen blutigen Strich zu ziehen. Er muss um jeden Preis die Opposition mit Attentaten, Vorbereitungen zum bewaffneten Aufstand usw. in Verbindung bringen.“
(Trotzki, 4. März 1929, Bulletin der Opposition, No.1–2).

Die Moskauer Morde erschienen vielen, liberalen Demokraten und Sozialisten, – Otto Bauer ist dafür ein sprechendes Beispiel – wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Ohne Verständnis für den Sinn der in der USSR vor sich gehenden tiefen sozialen Veränderungen, des scharfen Kampfes zwischen der ihre materiellen Kastenprivilegien verteidigenden Bürokratie und der rechtlosen, zu protestieren beginnenden Arbeiterklasse, idealisieren sie, die in der heroischen Epoche Feinde der russischen Revolution waren, das thermidorianische bürokratische Regime und den stalinschen „Sozialismus“, künden das allmähliche Hinüberwachsen der USSR in die Demokratie an und sehen in Stalins plebiszitärer Verfassung den Beginn einer neuen „demokratischen“ Ära. Diesen naiven Träumern hat Stalin einen Kübel kalten Wassers über den Kopf geschüttet. Mit seinen Morden korrigierte er nicht nur die „demokratischste“ aller Verfassungen, sondern auch die Konzepte all dieser Herrschaften.

Ohne auf Prophetengabe Anspruch zu erheben, dürfen die Bolschewiki-Leninisten sagen, dass sie natürlich nicht nur niemals die leiseste Illusion über Stalins bonapartistisches Regime gehegt, nicht nur vorausgesehen, sondern auch der proletarischen Öffentlichkeit des Westens vorausgesagt haben, dass Stalin den Weg blutiger Repression gegen den Bolschewismus, den Weg blutiger Amalgame beschreiten werde, denn andere Wege hat er nicht.

Stalin verteidigt keine fortschrittlichen Ideen, sondern die Kastenprivilegien der neuen sozialen Schicht, der. Sowjetbürokratie, die schon seit langem zur Bremse der sozialistischen Entwicklung der USSR geworden ist. Diese Privilegien kann man nicht mit den Methoden der proletarischen Demokratie verteidigen, sondern lediglich mittels Fälschung, Verleumdung und blutiger Repression.

Diesen Weg hat Stalin ohne zu zögern bereits. vor Jahren beschritten, seit 1924, wenn nicht noch eher. Der Moskauer Prozess ist wohl das grandioseste, doch längst nicht erste (und nicht das letzte) Amalgam Stalins.

In der ersten Zeit ging Stalin vorsichtiger zu Werk, mit kleinen Dosen, um das Parteibewusstsein allmählich an giftigere und niederträchtigere Amalgame, wie das des letzten Prozesses, zu gewöhnen.

Bereits 1926, während der innerparteiliche Kampf tobte, sandte die GPU zu einem jungen, allen unbekannten Oppositionellen einen ihrer Agenten. Diese „Verbindung“ des jungen Oppositionellen mit dem GPU-Agenten diente Stalin dazu, die Opposition der „Verbindung mit einem Wrangeloffizier“ zu bezichtigen. denn der GPU-Agent sollte früher angeblich Offizier in der Wrangelarmee gewesen sein! Dass dieser „Wrangeloffizier“ ein GPU-Agent war, das musste sogar der Stalinapparat offiziell zugeben, als er von den Führern der Opposition, die damals noch ZK-Mitglieder waren, zur Rede gestellt wurde. Doch unterdessen entfaltete Stalin eine wütende Hetze gegen die Opposition wegen ihrer Verbindung mit einem „Wrangeloffizier“. Diese Hetze wurde in der Presse, in den Zellen und Versammlungen geführt; sie betäubte die Masse, welche die Hintergründe dieser Affäre nicht kannte.

1928 wurde der Versuch gemacht, ein Amalgam zu konstruieren, in dessen Mittelpunkt G.W. Butow stehen sollte, Trotzkis Sekretär im Kriegskommissariat. Unter Anwendung von Gewalt wollte Stalin um Butow: eine „Verschwörung“, Beziehungen zu Weißen usw. fabrizieren. Butow wurde im Gefängnis heftigen Proben unterzogen und zwar nicht nur moralischen, sondern auch physischen Foltern. Er leistete verzweifelten Widerstand, trat in den Hungerstreik. hungerte 40-50 Tage und starb im September 1928 infolge dieses Hungerstreiks im Gefängnis. Einzig Butows Standhaftigkeit hat damals Stalin daran gehindert, ein Amalgam zu fabrizieren.

Im Januar 1929 erklärte Stalin bei Trotzkis Ausweisung ins Ausland. Trotzki habe es „in der letzten Zeit“ „auf die Vorbereitung des bewaffneten Kampfes gegen die Sowjetmacht“ abgesehen gehabt. Mit den Worten „in der letzten Zeit“ wollte Stalin andeuten, dass die Linke Opposition eine scharfe Wendung gemacht habe: vom Kurs auf die Reform zum bewaffneten Aufstand. Diese verleumderische Erfindung brauchte Stalin. um Trotzkis Ausweisung zu rechtfertigen.

Im Sommer 1929 traf Trotzki in Stambul mit J. Bljumkin zusammen. Bljumkin hatte 1918 den deutschen Gesandten in Moskau, Grafen Mirbach, getötet und am bewaffneten Aufstand der linken Sozialrevolutionäre gegen die Sowjetmacht teilgenommen. Doch damals war er nicht erschossen worden, und lange Jahre hindurch diente er der Sowjetmacht treu. Erschossen wurde er 1929, weil er sich in Stambul mit Trotzki getroffen hatte. Bevor die GPU Bljumkin erschoss, bemühte sie sich, uns die Bljumkin-“Affäre“ ein Amalgam zu konstruieren. Doch wurde nichts daraus.

Bald nach Bljumkins Erschießung wurden im selben Jahre 1929 zwei andere linke Oppositionelle erschossen – Silow und Rabinowitsch. Sie wurden erschossen nach einem missratenen Versuch, sie in eine „Verschwörung“ – oder „Spionage“affäre zu verwickeln

1932 entzog man Trotzki das Staatsbürgerrecht zusammen mit einem Dutzend Menschewiki, die Stalin nur deshalb in die Liste aufnahm, um ein Amalgam zu schaffen: Trotzki inmitten von Menshewiki. Damit sollte nach Stalins Meinung Trotzki kompromittiert und sein konterrevolutionärer Charakter bewiesen werden. Doch all das waren erst Verläufer.

Kirows Ermordung, die terroristische Tat einiger Jungkommunisten, gab Stalin die so lang erhoffte, unvergleichliche Gelegenheit, ein „echtes“ Amalgam zu konstruieren. So entstand die Affäre Sinowjew, Kamenew und anderer bekannter Bolschewiki im Januar 1935. Der Versuch, Trotzki in dies Amalgam zu verwickeln, endete bekanntlich mit einem jämmerlichen Fiasko. Doch gerade dieser Misserfolg trieb Stalin zur Vorbereitung einer neuen Affäre. „Stalin ist genötigt, das zusammengebrochene Amalgam durch neue, umfassendere und ... erfolgreichere zu übertönen“ (Trotzki). In seiner dem Kirowmord gewidmeten Broschüre warnte Trotzki im Januar 1935 nachdrücklichst, man müsse sich auf „neue, wahnwitzigere Amalgame gefasst machen“.

„Wie der nächste Schlag aussehen wird, diese Frage ist wohl noch nicht einmal im engsten Kreis der Verschwörer entschieden (Stalin, Jagoda ...). Den Verschwörern mangelt es weder an bösem Willen noch an materiellen Mitteln. Die Vorbereitung der Öffentlichkeit wird sich auf der Linie der Gefahren des von Seiten der Trotzkisten drohenden ‚Terrorismus‘, bewegen“ ... [1]

Schwerlich kann man sich klarer ausdrücken!

Zwischen dem ersten und dem letzten Sinowjew-Prozess konstruierte Stalin ncch ein Amalgam (Juli 1935), von dem nichts in die grosse Presse drang. Die zentrale Figur dieses Amalgams war Kamenev, wahrscheinlich weil Stalin den Fehler des vorhergehenden Prozesses berichtigen musste, wo Kamenew verhältnismässig milde verurteilt worden war (5 Jähre Gefängnis). Kamenew wurde beschuldigt, an einem Attentat gegen Stalin mitgewirkt zu haben. Hauptbelastungszeuge war Kamenews Bruder, der Künstler Rosenfeld. Angeklagt waren 30 Menschen, ein äusserst verdächtiges Sammelsurium. Kamenew leugnete kategorisch jeglichen Anteil an dieser Affäre und erzählte darum den Genossen die mit ihm im Werchneuralsker Isolator gefangen saßen, die meisten Angeklagten habe er zum erstenmal im Leben vor Gericht gesehen. Kamenew wurde damals zu weiteren fünf Jahren Gefängnis verurteilt.

Auf diesen Prozess spielt Kamenew in seinem Schlusswort des Moskauer Prozesses an, wo er sagt: „Ich stehe zum dritten Mal vor Gericht“. Er wird auch bei der Aufzählung von Kamenews Vorstrafen mit einigen Worten erwähnt. Doch mitnichten während des Prozesses selbst. Und dies deswegen, weil alle früheren Amalgame Stalin bei der Vorbereitung neuer nur stören. Und Stalin sein letztes Wort noch längst nicht gesagt!

Im Mai 1936 schrieb Trotzki:

„Jetzt haben wir 1936. Stalins Methoden sind dieselben. Die politischen Gefahren für ihn sind gewachsen. Stalins und Jagodas Technik hat sich um die Erfahrung mehrerer Misserfolge bereichert. Machen wir uns keine Illusionen: die schärfsten Speisen stehen noch bevor!“

Diese Zeilen wurden geschrieben, als die Vorbereitung zum Prozess bereits voll im Gange war. Der Moskauer Prozess hat Trotzkis Prognose vollauf bestätigt. Wiederholen wir: die schärfsten Speisen stehen noch bevor.


Anmerkung

1. Siehe: L. Trotzki, Die Stalinbürokratie und die Ermordung Kirows.




Zuletzt aktualisiert am 7.07.2009