Karl Radek


Der deutsche Imperialismus und die Arbeiterklasse


Im Fahrwasser des Imperialismus

1. Von der Kontinentalpolitik zur Weltpolitik

Die ersten Erfahrungen, die Deutschland mit seinen Kolonien gemacht hatte, waren nicht geeignet, den Kolonialenthusiasmus der Bevölkerung zu wecken. Sie sah in England eine Verstimmung wegen der deutschen Kolonialpolitik entstehen; schon die ersten Schritte Deutschlands entlockten dem englischen Minister des Auswärtigen, Lord Granville, die Behauptung, Deutschland wolle England nötigen, auf die Aktionsfreiheit in kolonialen Angelegenheiten zu verzichten. Gleichzeitig trat es immer klarer zutage, dass die Gründung des Dreibundes Gegenbemühungen geschaffen hatte, die auf eine Annäherung der französischen Republik an den russischen Zarismus hinarbeiteten. Zwar gelang es Bismarck im Jahre 1887 diesen Bestrebungen die Spitze abzubrechen, indem er einen Vertrag mit Russland abschloss, nach dem Deutschland und Russland, falls eines von beiden von irgend einer Seite angegriffen würde, einander wohlwollende Unparteilichkeit zusicherten. Aber das Streben Russlands, sich in Ostasien auszubreiten, eine Folge des Zurückweichens des russischen Einflusses im nahen Osten, und die Notwendigkeit, seine Rüstungen zu modernisieren und aus strategischen Gründen neue Bahnen zu bauen, trieb es in die Arme Frankreichs, dessen Geldmarkt eine stärkere Anziehungskraft auf Russland ausübte, als der viel ärmere deutsche Markt. Die offensichtliche Annäherung Russlands an Frankreich, wie verschiedene militärische Maßnahmen an der russisch-österreichischen Grenze kühlten das Verhältnis zwischen Deutschland und Russland ab. Wilhelm II., der kurz vorher den Thron bestiegen hatte, suchte durch die Stärkung des Dreibundes, den er in seiner Antrittsrede im Reichstag ein „heiliges“ Vermächtnis nannte, und durch eine Annäherung an England die europäische Position Deutschlands zu stärken. Diese Bemühungen führten zu zweierlei Ergebnissen: im Jahre 1890 wurde der sogenannte Sansibarvertrag mit England geschlossen, und im nächsten Jahre war das französisch-russische Bündnis fertig.

Im Sansibarvertrag wurde das Werk, das die kühnen imperialistischen Draufgänger unter der Leitung Karl Peters begonnen hatten, zerstört. Peters war es durch Geld und Drohungen gelungen, die von ihm im Jahre 1885 erworbenen Gebiete weit nach Norden auszudehnen, so dass sie von Sansibar bis zu den Quellen des Nils Deutschland gehörten. Diese neuen Erwerbungen, das Sultanat Witu, Uganda (das doppelt so groß ist wie Bayern) fiel jetzt England zu. Als Entschädigung bekam Deutschland die Insel Helgoland, von der aus die Engländer bisher die Mündungen der Elbe und der Weser beherrschen konnten. Heute besitzt Helgoland für den deutschen Imperialismus die Bedeutung eines stark befestigten Stützpunktes gegen die eventuellen Versuche Englands, die deutschen Küsten während eines Krieges zu blockieren. Die Entwicklung der Unterseeboote, der Funkentelegraphie und der Seeminen haben Helgoland diese Bedeutung gegeben. Zur Zeit des Abschlusses des Vertrages mit England bedeutete das Geschäft den Eintausch eines Hosenknopfes gegen eine Hose – wie sich der imperialistische Geschichtsschreiber A. Wirth [21] drastisch ausdrückt. Denn Helgoland besaß für England keine große Bedeutung, was schon aus der Bemerkung des englischen Premiers hervorging, im Kriegsfalle könne Deutschland eine Streitmacht auf die Insel schicken vor Ankunft einer englischen Ersatzflotte. Dass auch die deutsche Regierung bei diesem Austauschhandel sich nicht so sehr von der hohen Einschätzung Helgolands, als von dem Wunsche nach guten Beziehungen zu England hat leiten lassen, ging ganz ausdrücklich aus der Denkschrift hervor, in der Caprivi, der Nachfolger Bismarcks, den stark angefeindeten Vertrag verteidigte. „Allem voran stand das Bestreben, unsere durch Stammesverwandtschaft und durch die geschichtliche Entwicklung beider Staaten gegebenen guten Beziehungen zu England weiter zu erhalten und zu befestigen und dadurch dem eigenen Interesse, wie dem des Weltfriedens zu dienen.“ Diese guten Beziehungen, führte die Denkschrift weiter aus, seien insbesondere darum notwendig, weil die kolonialen Bestrebungen Deutschlands Reibungen zwischen den beiden Staaten hervorgerufen hätten, die der allgemeinen Politik Deutschlands nicht bekömmlich wären. Deutschlands kolonialer Besitz sei nicht wertvoll genug, dass seinetwegen ein Hader zwischen England und Deutschland entstehen sollte. Die Abtretung großer Kolonialgebiete an England wurde zum Schluss mit folgendem Bekenntnis erklärt: „Die Periode des Flaggenhissens und des Vertragschließens muss beendet werden, um das Erworbene nutzbar zu machen. Es beginnt jetzt die Zeit ernster, unscheinbarer Arbeit, für welche voraussichtlich auf ein halbes Jahrhundert ausreichender Stoff vorhanden sein wird“. [22]

Das deutsch-englische Abkommen war ein Ausdruck der Tatsache, dass die deutschen Kolonien in den Augen der deutschen Regierung noch keine größere Bedeutung hatten, dass sie jahrzehntelang an keine neuen Kolonialerwerbungen denken wollte, dass sie die Fragen der Weltpolitik den Schwierigkeiten ihrer europäischen Lage unterordnete. In diesem seinem Charakter gab das deutsch-englische Bündnis einen Ansporn zur Ausbreitung der imperialistischen Bewegung in Deutschland. Aus der Empörung über die Abtretung des kolonialpolitisch als sehr aussichtsreich geltenden Uganda an England entstand der Alldeutsche Verband, die Kampforganisation des deutschen imperialistischen Gedankens, die eine rührige Agitation für die imperialistische Machtpolitik entfaltete, der sie im krassen Nationalismus eine ideologische Ausstattung gab. Durch die Agitation des Alldeutschen Verbandes suchten die Nutznießer des Imperialismus Anklang in weiteren Schichten des Bürgertums zu finden und die Regierung auf die Bahnen des Imperialismus zu drangen.

Ein ähnliches, wenn auch unvorhergesehenes Ergebnis hatte das deutsch-russische Verhältnis im Gefolge. Dieses Verhältnis war schon seit der Gründung des Deutschen Reiches ins Wanken geraten. Einerseits sah die deutsche Regierung seit jeher im Zarenreich dem ihrem Charakter am meisten entsprechenden Verbündeten, andererseits aber konnte sie sich dem Zaren nicht so bedingungslos ausliefern, wie das vor der Einigung Deutschlands der Fall gewesen war. Als nun das französisch-russische Bündnis zustande kam, suchte die deutsche Regierung nach einer Gelegenheit, um sich Russland wieder zu nähern. Neben einem „Erbfeind“ an der Westgrenze konnte es einen Feind an der Ostgrenze nicht ertragen, obwohl es ununterbrochen seine Militärausgaben steigerte. Diese betrugen im Jahre 1872 553, im Jahre 1875 584, im Jahre 1887/88 632, im Jahre 1890/91 854 Millionen Mark. [23]

Die Gelegenheit zu einer Annäherung an Russland, die den Übergang Deutschlands zur Weltpolitik einleiten sollte, gaben die ostasiatischen Wirren. Trotz der Siege Englands und Frankreichs über China, die die erste Bresche in die chinesische Mauer legten, galt das Riesenreich in den Augen der europäischen Mächte als ein Koloss, mit dem anzubändeln sehr gefährlich sei. Der Sieg Japans über China im Kriege von 1895, der um Korea entbrannt war, zeigte die Verlotterung des chinesischen Militärs, die Fäulnis der Verwaltung Chinas und rollte die Frage von der Herrschaft über den Stillen Ozean auf. [24] Russland, das sich seit den neunziger Jahren immer mehr daran erinnerte, dass es eine asiatische Macht sei und nach einem eisfreien Hafen im Stillen Ozean strebte, sah sich durch die Vormachtstellung Japans bedroht. Die russische Haltung wurde durch Frankreich unterstützt, das In den Flitterwochen seines Bündnisses mit dem Zarenreiche durch dick und dünn mit ihm ging. Deutschland nahm die Gelegenheit wahr, um durch einen „ostasiatischen Dreibund“, d.h. durch ein gemeinsames Vorgehen mit Russland und Frankreich die Gefährlichkeit des französisch-russischen Bündnisses für die Machtstellung Deutschlands abzuschwächen. Es schloss sich also der Flottendemonstration Frankreichs und Russlands gegen Japan an und übte zusammen mit diesen Mächten einen Druck auf Japan aus. Die Folge dieser Aktion war, dass Japan die wertvollere Hälfte seiner Beute, Port Arthur, die Halbinsel Liaotung, an China zurückgab und sich mit der Insel Formosa und einer Kriegsentschädigung von 600 Millionen Mark begnügte. Natürlich wollte Deutschland aus seiner Einmischung in die ostasiatischen Wirren mehr als die Verbesserung seines Verhältnisses zu Russland herausschlagen. Wie die Diplomatie anderer Staaten, nahm auch die deutsche an, dass die Niederlage Chinas im Kriege mit Japan den Anfang vom Ende der chinesischen Unabhängigkeit bedeute. In diesem Glauben wurde sie durch die inneren Wirren bestärkt, die in China nach dem Kriege entstanden. Dass sie das Erwachen von Elementen bedeuteten, die Chinas Entwicklung beschleunigen könnten, war ein zu tief eindringender Gedanke, als dass die deutsche Diplomatie ihn hätte fassen können. Die deutsche Regierung begann sich mit dem Gedanken an eine Festsetzung in China vertraut zu machen. Ein Teil des mit allen Schätzen der Natur ausgestatteten Reiches, mit seiner arbeitsamen Bevölkerung hatte auch in den Augen der Bourgeoisie eine Anziehungskraft, wie sie keine tropische Kolonie haben konnte. Zwar konnte man sich bei diesem Unternehmen nicht auf die Übervölkerung Deutschlands berufen, weil China selbst dicht bevölkert ist Aber die Aussichten, die der chinesische Markt der deutschen Industrie zu eröffnen schien, hatten in den Augen der Bourgeoisie eine um so größere Bedeutung. Betrug doch die deutsche Ausfuhr nach China, die in den Jahren 1881 bis 1885 erst 11 Millionen Mark betragen hatte, in den Jahren 1886 bis 1890 auf 19 Millionen Mark gestiegen war, im Jahre 1895 schon 31 Millionen Mark; die Einfuhr aus China war in derselben Zeit von 11 auf 50 Millionen Mark gestiegen. [25] Und welche Aussichten eröffneten sich den Banken, wenn Deutschland in China Fuß fassen würde: der Eisenbahnbau, der Hafenbau würde in diesem kultivierten Reiche in einem ganz anderen Tempo fortschreiten, als in den Sandbüchsen und Sümpfen Afrikas. Als nun die Nachricht kam, dass in der Provinz Schandung zwei deutsche Missionäre getötet waren, besetzte die deutsche Regierung, die jahraus jahrein duldete, dass deutsche Bürger an der russischen Grenze niedergeknallt wurden, „zur Sühne“ der Verbrechen am 14. November 1897 den Hafen Kiautschou. Sie nützte „den gewünschten Anlass“ aus, wie der nationalliberale Geschichtsschreiber Egelhaaf [26] sich offenherzig ausdrückt. Mit der Pachtung des chinesischen Hafens trat Deutschland endgültig in die Bahnen der Weltpolitik ein.

Dasselbe Einschwenken ins Fahrwasser des Imperialismus vollzog sich auch in einem anderen Brennpunkte der Weltpolitik: im nahen Osten. Die neuzeitlichen deutsch-türkischen Handelsbeziehungen [27], die kurz nach der Kontinentalsperre angefangen hatten und über Wien gegangen waren, verminderten sich seit den dreißiger Jahren.

Die Dampfschifffahrt, die damals aufkam und viel billiger als der Landverkehr war, lag zuerst ganz in englischen Händen, was den alten Vorsprung Englands im Levantehandel noch vergrößerte Als später deutsche Schiffe von der Nordsee her durch das Mittelmeer nach Konstantinopel zu gehen begannen, waren sie angesichts der politischen und maritimen Schwäche Deutschlands bis in die sechziger Jahre viel mehr als die französischen und englischen der Gefahr ausgesetzt, durch die marokkanischen, algerischen und tunesischen Piraten beraubt zu werden. Die Tatsache, dass Deutschland gar keine Rolle in den großen Entscheidungen über die Geschichte des Orients, im Krimkrieg und bei der Auseinandersetzung von 1877 gespielt hatte, verminderte auch die Chancen der deutschen Konkurrenz. Erst nach dem Berliner Kongress beginnt die deutsche Industrie ihren Platz in der Türkei zu erobern.

Von Einfluss war hier nicht nur das Wachsen des Ansehens des deutschen Kapitals nach der Einigung des Reiches, nicht nur sein allgemeiner rapider Aufschwung, sondern in erster Linie der Bau der vom Baron Hirsch begründeten Bahnlinien in der europäischen Türkei (1874 bis 1888) und der Bau der anatolischen Bahnen durch deutsche Banken, der den Orient mit den Erzeugnissen der deutschen Industrie bekannt machte. Das Aufkommen verschiedener Gesellschaften, die sich die Pflege des Orientexportes zur speziellen Aufgabe machten, wandte die Aufmerksamkeit des deutschen Kapitals dem Orient zu. Nicht ohne Einfluss war dabei die Bestechung der Presse, die die Bahnkonzessionäre, wie Baron Hirsch, in großem Maße betrieben (Hirsch gab 101,8 Millionen Francs von 356,4 für die Pressereklame seiner Türkenlose aus. [28] Die beiden Kaiserreisen nach der Türkei vom Jahre 1888 und 1898 waren also schon ein Ausfluss dieses gestärkten Interesses des deutschen Kapitals für die Türkei und ebneten ihm ihrerseits die Wege durch Anknüpfung neuer politischer Beziehungen zum Orient. Der neue Kurs unterstützte diese sich anbahnende Änderung des Verhältnisses des deutschen Kapitals zu der Türkei, indem er sich zum Schutzherrn des absolutistischen Hamidschen Regiments aufwarf und ihm seine aktive diplomatische Beihilfe während der armenischen Gräuel und des Griechisch-Türkischen Krieges gegen England gewährte. Der Erfolg dieser Politik war die Erteilung der Bagdadbahnkonzession durch den Sultan (in provisorischer Form im Jahre 1899) an ein deutsches Kapitalisten-Konsortium, das sich um Deutsche Bank gruppiert. Diese Bahn musste zusammen mit den anatolischen Bahnen ein gewaltiges Instrument des deutschen wirtschaftlichen Einflusses in der Türkei und dadurch des politischen Anrechtes auf das türkische Erbe werden, sobald es zur Aufteilung der Türkei kommen sollte. Dass aber diese zu den nahen Möglichkeiten gehörte, glaubte man vor zwölf Jahren allenthalben. Der Plan der Ausführung der Bagdadbahn stieß daher auf um so größere Hindernisse, als diese Bahn eine momentane Stärkung des türkischen Staates herbeiführen musste. Denn sie ermöglichte rasche Truppentransporte, die zwar nach der damaligen Meinung nicht imstande sein konnten, die Auflösung der osmanischen Macht zu verhüten, doch aber den Aufteilungsprozess erschweren und verlangsamen mussten. Gerade das entsprach aber eben den Interessen des jungen deutschen Imperialismus, der bei der Aufschiebung der Aufteilung inzwischen an Kräften zu gewinnen hoffte.

Der deutsche Ausbreitungsdrang hatte jetzt Ziele vor sich, für die sich weite Kreise der Bourgeoisie begeistern konnten. Und die Begeisterung für Weltpolitik wurde durch den Anblick des Zusammenbruchs alter Kolonialländer, und des Aufkommens neuer angespornt. Im Jahre 1898 verschwindet das alte Spanien aus der Zahl der Kolonialmächte, und das junge Amerika, einst selbst eine Kolonie, streckt seine Tatzen nach dem Stillen Ozean aus.

In Südafrika scheute England vor keinem Opfer zurück, um den Burenaufstand niederzuwerfen. Und wie die asiatischen Schwierigkeiten Englands Anfang der neunziger Jahre als Ansporn gedient hatten zur Eröffnung der deutschen Kolonialpolitik, so erwuchsen aus dem Kriege mit den Buren neue Hoffnungen für den jungen deutschen Imperialismus. „Vor vier Jahren“ – so führte Bülow am 11. Dezember 1899 im Reichstage aus – „hat der Chinesisch-Japanische Krieg, vor kaum einem Jahre der Spanisch-Amerikanische Krieg die Dinge weiter ins Rollen gebracht, große tiefeinschneidende, weitreichende Entscheidungen herbeigeführt, alte Reiche erschüttert, neue ernste Fermente der Gärung in die Entwicklung getragen. Niemand kann übersehen, welche Konsequenzen der Krieg haben wird, der seit einigen Wochen Südafrika in Flammen setzt. Der englische Premierminister hatte schon vor längerer Zeit gesagt, dass die starken Staaten immer stärker und die schwachen immer schwächer werden würden. Alles, was seitdem geschehen ist, beweist die Richtigkeit dieses Wortes. Stehen wir wieder vor einer neuen Teilung der Erde, wie sie vor gerade hundert Jahren dem Dichter vorschwebte? Ich glaube das nicht, ich möchte es namentlich noch nicht glauben. Aber jedenfalls können wir nicht dulden, dass irgend ein fremder Jupiter zu uns sagt: Was tun? Die Welt ist weggegeben. Wir wollen keiner fremden Macht zu nahe treten, wir wollen uns aber auch von keiner fremden Macht auf die Füße treten lassen, und wir wollen uns von keiner fremden Macht beiseite schieben lassen, weder in politischer noch in wirtschaftlicher Beziehung.“

Das Ziel des deutschen Imperialismus war gesetzt. Himmelhochjauchzend stürzte er sich an die Arbeit, um den Kämpfen gerüstet entgegenzueilen.

2. Die deutsche Flotte

Der deutsche Imperialismus hat sich seine Seewaffen erst schaffen müssen. Die kontinentale Macht, das stärkste Landheer Europas, konnte für seine Zwecke nicht genügen, da es ihm um die Durchsetzung seines Willens in Gebieten ging, denen er mit seiner Landmacht näher zu rücken nicht imstande war. Diese Aufgabe der Flotte ergibt sich direkt aus dem Wesen der imperialistischen Politik, wie im besonderen aus der Lage des deutschen Imperialismus. Als er nur einige Kolonien besaß, genügten ihm die Kreuzer, die die kleine deutsche aus der preußischen Flotte hervorgegangene Küstenschutz-Flotte besaß. Sie dienten zu Flottendemonstrationen, die den jungen kolonialen Erwerbungen die Macht des Deutschen Reiches vorführen sollten oder zur Ausübung eines Drucks auf die kleinen „Mächte“, die oft etwas respektlos mit deutschen Bürgern umzuspringen wagten. Seit dem Aufkommen des Torpedos hielten die deutschen Marinekreise große Schlachtschiffe überhaupt für einen Luxus fehlgeschlagener Experimente. Das änderte sich gründlich, als bei der deutschen Regierung und der Bourgeoisie der Glaube aufkam, die Welt stehe vor einer neuen Teilung. Mit Küstenschutz und Kreuzern konnten sie nunmehr nicht auskommen. Sollte der deutsche Imperialismus bei einer eventuellen Teilung Chinas oder der Türkei auf seine Rechnung kommen, so musste er die Mittel besitzen, den anderen Mächten zu zeigen, dass man ohne ihn das Erbe nicht teilen durfte. Das Bestehen einer deutschen Schlachtflotte, die auch in weiten Meeren den Willen des deutschen Kapitals mit Nachdruck vertreten konnte, sollte also in erster Linie dazu dienen, dem deutschen Imperialismus eine Stimme zu geben im Rate der alten imperialistischen Mächte: im friedlichen Rate – wenn es sich um das Verschachern von Völkern und Ländern handelte, im Kriegsrate – wenn es galt, gemeinsam mit anderen imperialistischen Mächten auf Raub auszugehen, und endlich auf offener See, – wenn die älteren imperialistischen Staaten dem Ausbeutungsdrang des deutschen Imperialismus brüsk in den Weg treten würden. Diese letzte Aufgabe drückte die Flottenvorlage von 1899 in folgenden knappen Worten aus: „Deutschlands Schlachtflotte müsse so stark sein, dass ein Krieg auch für den seemächtigsten Gegner mit derartigen Gefahren verbunden sei, dass seine eigene Machtstellung in Frage gestellt werde.“

Aus diesen Aufgaben der deutschen Flotte ergab sich der Plan [29], wie auch, dass sie Gefahren mit sich brachte, denen aus dem Wege zu gehen nicht mehr in den Kräften des deutschen Imperialismus lag, nachdem er den Weg des Flottenbaues betreten hatte. An der Spitze des Flottenplanes stand der Bau von großen Schlachtschiffen, die den Feind in offener See angreifen oder abwehren konnten. Kreuzer sollten den Aufklärungsdienst leisten, während große Kreuzer die Aufgabe hatten, auch gewaltsam, selbst auf die Gefahr des Kampfes hin, Fühlung mit der feindlichen Flotte zu erhalten, und selbständige Unternehmungen kleineren Staaten gegenüber zu übernehmen.

Daraus folgte, dass der Flottenbau sich jeder wichtigeren technischen Erfindung, jeder größeren politischen Verschiebung anpassen musste. Denn während die technischen Erfindungen die älteren Schiffskonstruktionen in bezug auf Geschwindigkeit und Widerstandskraft entwerteten, wies jede größere Verschiebung in den Mächteverhältnissen der Flotte neue Aufgaben an. So setzte der deutsche Imperialismus mit seiner ersten Flottenvorlage eine Schraube ohne Ende in Bewegung. Alle seine Versicherungen, der auf Jahre hinaus angelegte Flottenplan sei für die Regierung bindend, waren bewusste Unwahrheiten. Denn wäre die Regierung, aus Rücksicht auf den Flottenplan, bei den alten Kriegsschiffen geblieben, während in England seit 1905 die Riesendreadnoughts gebaut wurden, so hätte sie dem Bestehen der Flotte jeden Sinn genommen, was vom Standpunkt der imperialistischen Politik natürlich unmöglich war. Die Schnelligkeit, mit der die deutsche Regierung der britischen im Bau der Dreadnoughts nachkam, obwohl „im Rahmen des Flottenplanes“ jedes Kriegsschiff von nun an fast doppelt so viel kosten sollte, zeigte dies mit genügender Klarheit. Dasselbe war der Fall bei der Vermehrung der Schiffszahl, je nachdem, ob die Regierung und die Bourgeoisie annahmen, dass sich Zeiten der imperialistischen Ernte näherten oder nicht. Der Amerikanisch-Spanische Krieg und die chinesischen Wirren beschleunigten die Annahme des zweiten Flottengesetzes.

Das Gesagte genügt zur Bewertung des Charakters der deutschen Flotte: sie ist eine Angriffswaffe des deutschen Imperialismus, ein Mittel zur Durchsetzung seiner Ziele, und gegen wen sie angewendet werden soll, wird von den Verhältnissen abhängen. Heute kann sie zur Unterstützung der Türkei gegen England, morgen zusammen mit anderen Flotten gegen die Türkei angewendet werden. Der deutsche Imperialismus ist es nicht, der die akute Kriegsgefahr geboren hat, aber sein Bestehen, wie das Bestehen der deutschen Flotte, beschwören die Gefahr herauf, dass Deutschland an allen Händeln teilnehmen wird, aus denen der Weltbrand entstehen kann.

Die Verfechter des deutschen Imperialismus, die oft mit einer herzerquickenden Klarheit sein Wesen offen legen, halten es manchmal für nötig, mit der Miene eines Lämmchens den Charakter der deutschen Flottenpolitik zu verdunkeln. Sie tun es nicht so sehr, um dem Ausland Sand in die Augen zu streuen – dies wäre doch ein verlorenes Unternehmen, weil die französische und englische imperialistische Sippschaft aus eigenem Tun die Wege des Imperialismus kennt –, sondern aus Rücksicht auf das deutsche Kleinbürgertum, die Handelsbourgeoisie und alle jene Elemente, die kein direktes Interesse am Imperialismus haben, aber betrogen werden wollen, um imperialistische Politik zu treiben. So erzählen die Imperialisten, die deutsche Flotte sei gebaut worden, um den Handel Deutschlands zu schützen, um die Blockade der deutschen Küsten, ja die Landung fremder Flotten für den Fall des Krieges zu verhindern, – dass sie also ein reines Abwehrmittel sei. Wir übergehen gänzlich die Frage, was denn die Ursache eines Krieges Deutschlands mit den imperialistischen Mächten sein könnte, wenn nicht die Tatsache, dass Deutschland an der imperialistischen Raubpolitik teilnehmen, also andere Staaten oder Völker angreifen will, ein Beweis, dass es in Wirklichkeit selbst Angreifer sein muss, um vor Angriffen Furcht zu haben. Wir übergehen das alles, denn es ist leicht nachzuweisen, dass selbst dann, wenn Deutschland in die Lage der gekränkten Unschuld kommen könnte, die Flotte gar nicht imstande wäre, seinen Handel zu schützen. Deutschland besitzt 4675 Handelsschiffe, die den Handel mit allen Weltteilen unterhalten und nur 56 kleine und große Kreuzer; dabei besitzt es auf den Meeresstraßen, mit Ausnahme von Kiautschou, keine Kohlenstationen und keine marinistischen Stützpunkte. Was kann also den deutschen Handelsschiffen die Flotte nützen? Die deutschen Flottenpolitiker sind zu gute Fachleute, um dieses Argument ernst zu nehmen, und der Admiral Plüdemann erklärte ausdrücklich: „Man darf für den Handelsschutz nicht ein einziges Schiff, nicht einen Mann, nicht ein Geschütz verwenden, die für die Bekämpfung der feindlichen Flotte nutzbringend gemacht werden können. Man wird es den Kolonien und den Handelsschiffen überlassen, sich selbst durchzuhelfen“ [30]

Was nun die Absperrung der deutschen Küsten zum Zweck der Abschneidung der Zufuhr betrifft, so würde sich im Kriegsfall für die gegnerischen Mächte – hier kommt in erster Linie England in Betracht – die Notwendigkeit der Blockade schon dadurch erübrigen, dass sie die deutschen Handelsschiffe auf der See auffangen können. Wenn aber auch die Blockade für ihre Ziele notwendig wäre, so wäre doch ihre Durchführung sehr schwierig: sie würde, um wirksam zu sein, eine sehr große Anzahl von Schiffen erfördern. Ihre Durchführung würde auch die Interessen der Neutralen treffen und den eigenen Handel der blockierenden Macht in einem solchen Maße schädigen, dass es mehr als unwahrscheinlich ist, dass ihr die Bedeutung zugeschrieben werden kann, die ihr die offiziellen Flottenpolitiker beilegen, und das um so mehr, als schon der Ausbruch des Krieges die Industrie in großem Maße lahm legt und der Verkehr auch ohne Blockade ruht. Was aber die Lebensmittel betrifft, die Deutschland meist vom Auslande bezieht, so ließen sie sich durch neutrale, an Deutschland angrenzende Staaten weiterbeziehen. Mit dem dritten Scheinargument, der Landungsgefahr, – betreiben die Imperialisten einen direkten Schwindel. Erstens bieten die deutschen Küsten eine sehr schlechte Landungsgelegenheit für fremde Truppen, zweitens kennt die moderne Kriegsführung in den See-Minen, Unterseebooten viel billigere Küstenschutzmittel, als es die Flotte ist.

Die deutsche Flotte würde natürlich in einem Kriege auch als Abwehrmitte dienen, sie ist aber nicht zu diesem Zwecke gebaut worden. Der Geist der Offensive beherrscht jedes Machtmittel großer Staaten. Wie könnte es also anders bestellt sein bei einem Staate, der zu spät in die Reihe der imperialistischen Mächte eingetreten ist und mit Volldampf das Versäumte nachzuholen sucht? In drei Jahren hat die deutsche Bourgeoisie durchgesetzt, dass Deutschland, die stärkste Landmacht Europas, mit einem Ruck in die ersten Reihen der Seemächte getreten ist.

Am 17. März 1898 setzte der Reichstag, gegen die Opposition der Vertreter der Arbeiterklasse und eines Teiles des Kleinbürgertums, den Schiffsbestand der deutschen Flotte, abgesehen von den Torpedofahrzeugen, Schulschiffen, Spezialschiffen und Kanonenbooten, fest auf a) Verwendungsbereit: 1 Flottenflaggschiff, 2 Geschwader zu je 8 Linienschiffen, 2 Divisionen zu je 4 Küstenpanzerschiffen, 6 große Kreuzer, 16 kleine Kreuzer als Aufklärungsschiffe der heimischen Schlachtflotte, 3 große und 10 kleine Kreuzer für Auslandsdienst; b) Materialreserve: 2 Linienschiffe, Kreuzer, 4 kleine Kreuzer. Aber schon am 14. Juni 1900 Schiffsbestand in folgender sprunghaften Weise erhöht: er sollte befragen 2 Flottenflaggschiffe, 4 Geschwader zu 8 Linienschiffen, 8 große Kreuzer, 24 kleine Kreuzer als Aufklärungsschiffe. Die Auslandsflotte sollte aus 3 großen und 10 kleinen Kreuzern bestehen; die Materialreserve aus 4 Linienschiffen, 3 großen und 4 kleinen Kreuzern.

Mit Hilfe einer bisher unerhörten Agitation der ganzen bürgerlichen Presse wurden die Waffen des deutschen Imperialismus geschaffen. Der Flottenverein, der zur Entfaltung einer Agitation für die Flotte ins Leben gerufen war, hatte in kurzer Zeit eine Viertel Million Mitglieder. Die deutschen Professoren, das unpolitischste Volk der Welt, zogen als Flottenagitatoren im Lande herum und lieferten dem Imperialismus „wissenschaftliche“ Waffen. Unter dem Jubel des ganzen Bürgertums ging die deutsche Flotte vom Stapel. Zehn Jahre sind seit diesem Augenblick verflossen, fünf Milliarden hat der Bau der Flotte schon verschlungen. Wie sehen nun die Erfolge des deutschen Imperialismus aus?



Anmerkungen

21. A. Wirth: Weltgeschichte der Gegenwart, Wien 1910, S.40.

22. Beweggründe zu dem deutsch-englischen Abkommen vom 1. Juli 1890.

23. Bebel: Die Sozialdemokratie im Deutschen Reichstage, Berlin 1909, S.437

24. Die chinesische Frage von Pierre Leroy-Beaulieu. Leipzig, Wigand, J. 1900, S.95-149

25. Nauticus: Jahrbuch für Deutschlands Seeinteressen für 1900. Siehe Abhandlung: Die wirtschaftlichen Interessen Deutschlands in China, S.248-273.

26. G. Egelhaaf: Geschichte der neusten Zeit, Berlin 1910, S.394

27. J. Kraus: Deutsch-türkische Handelsbeziehungen, Jena 1901. – W. Kind: Die Zukunft unseres Seehandels. – Nauticus 1907: Das Wirtschaftsleben in der Türkei und seine Beziehungen zu der deutschen Volkswirtschaft.

28. Paul Dehn: Deutschland und die Orientbahnen, München 1883.

29. Für diese und die späteren Ausführungen, soweit sie die marinistische Seite betreffen, siehe: Foß: Marinekunde, Berlin 1910; Admiralitätsrat Koch: Geschichte der deutschen Marine 1906; derselbe: Die neueren Tendenzen der Marinepolitik. (in Zeitschrift für Politik, Band III, S. 93 bis 137); Graf E. Reventlow: Die deutsche Marine (in Deutschland als Weltmacht, Berlin 1911), S.727-745).

Die politischen und wirtschaftlichen Hoffnungen des deutschen Imperialismus dieser Zeit, wie auch seine Argumente findet man gut ausgedrückt in den damals gehaltenen Vorträgen der „Leuchten“ der deutschen Wissenschaft, die gesammelt sind unter dem Titel Handels- und Machtpolitik (II. Band, bei Cotta in Stuttgart 1900) erschienen sind.

30. Plüdemann. Modernes See-Kriegswesen, 1907.


Zuletzt aktualiziert am 8.8.2008