Karl Radek


Der deutsche Imperialismus und die Arbeiterklasse


Im Zeitalter der akuten Kriegsgefahr

Von Waffengeklirr hallt die Welt. Vierzig Jahre sind vorüber, seitdem der Deutsch-Französische Krieg das Ende der kampfreichen Periode der Bildung nationaler Staaten in Westeuropa gebracht hat. Friede, hieß es, drückte der Zeit den Stempel auf, wenn auch ein bewaffneter Friede. Und diesen Zustand erklärend, verstiegen sich viele bürgerliche Politiker zu der Behauptung, der Krieg sei unter zivilisierten Völkern nicht mehr möglich. Zwar bedeuteten diese vier verflossenen Jahrzehnte eine Periode sprunghafter Ausbreitung des europäischen Kolonialbesitzes, der Unterjochung von ganzen Völkern in verschiedenen Erdteilen. „Vom Hundert der Fläche gehörten nämlich den europäischen Kolonialmächten, wozu wir auch die Vereinigten Staaten rechnen“, schreibt der Geograph A. Supan,

„in Afrika 1876: 10,8, 1900: 90,4, also + 79,6
     Polynesien 1876: 56,8, 1900: 98,9, also + 42,1
     Asien 1876: 51,5, 1900: 56,6, also + 5,1“ [1]

Und diese Ausbreitung, die in erster Linie die Aufteilung Afrikas und Sprengung der Abgeschlossenheit Chinas bedeutet, schritt vor sich unter ununterbrochenen kolonialen Kriegen. Im Jahre 1873 ziehen die Russen nach Chiwa, die Engländer nehmen die Fidschiinseln ein, im Jahre 1874 folgt der Zug der Japaner nach Formosa, im Jahre 1876 wird Fergana russisch, Ketta englisch, im Jahre 1877 Transvaal britisch, im Jahre 1878 bricht der Krieg um Afghanistan aus, im Jahre 1879 wird Bosnien besetzt, im Jahre 1881 wird Transvaal unabhängig, Tunis französisch, die Italiener besetzen Massawa, im Jahre 1882 besetzen die Engländer Ägypten, im Jahre 1884 beginnt offiziell die deutsche Kolonialpolitik, die Franzosen kämpfen gegen China, im Jahre 1885 wird Oberbirma englisch, im Jahre 1887 wird Rhodesien gegründet usw. usw., um nur die wichtigsten Ereignisse zu nennen, die im Kriege Japans mit China im Jahre 1894 und dem Kriege Englands mit den Buren im Jahre 1899, sowie dem Russisch- Japanischen Kriege von 1905 ihren markantesten Ausdruck fanden. Aber das hochmütige kapitalistische Europa, für das alle noch nicht kapitalistischen Völker nur Objekt der Politik sind, als welches sich der freche Junker Jordan v. Kröcher einmal die deutsche Arbeiterklasse wünschte, wurde durch diese blutigen Kriege, diese tiefgreifenden Umwälzungen, nicht in seiner Meinung gestört, es handle sich hier nicht um Kriege, die europäische Völker gegeneinander auf das Schlachtfeld bringen könnten. Diese Legende vom friedlichen Kapitalismus wurde nicht einmal durch die Tatsache zerstört, dass die koloniale Ausbreitung der kapitalistischen Staaten in Afrika und Asien Gegensätze zwischen europäischen Mächten hervorrief, wie den englisch-russischen, den französischenglischen, die zeitweise mit einem Kriege enden konnten. Dieser Glaube an den unzerstörbaren europäischen Frieden, der nur vom französisch-deutschen Gegensatz bedroht zu sein schien, wich dem Bewusstsein, dass Europa in ein Zeitalter akuter Kriegsgefahr eingetreten ist, als das Einschwenken Deutschlands ins Fahrwasser des Imperialismus sich im Bau einer Kriegsflotte äußerte, als England, die älteste Kolonialmacht, vor der ihr seitens Deutschland drohenden Gefahr zu zittern begann. Der deutsch-englische Gegensatz, der Gegensatz zwischen dem alten, satten kapitalistischen Räuber und dem jungen, wolfshungrigen, zerstörte in einem Augenblick die unsinnige Mär vom kapitalistischen Lämmlein. Als die Niederlage Russlands im Kriege mit Japan den englisch-russischen Gegensatz in Asien schwächte weil sie die Vorstoßkraft Russlands gelähmt hat, kam der deutsch-englische Gegensatz mit einem Ruck in die vordere Linie. Und seit diesem Moment weicht die Kriegsgefahr auf keinen Augenblick. Wo nur eine Feuersbrunst entsteht oder auszubrechen droht, sei es in Marokko, oder in der Türkei, da zeigen sich auf der Vorderszene die zwei zivilisierten Mächte, Deutschland und England, bis auf die Zähne gerüstet, und man weiß nicht, ob der Kampf wilder Berberstämme gegen ihren Sultan, der sie ans Ausland wie alte Hosen verhandelt, oder der Kampf der türkischen Truppen gegen die Araber, denen die Höhe der jungtürkischen Kultur durch die Vortrefflichkeit der Kruppschen Kanonen vordemonstriert werden soll, nicht mit dem englischdeutschen Kriege endet. Durch ein weitverzweigtes System von Bündnissen sorgen Deutschland und England dafür, dass ihre Auseinandersetzung sich in einen Weltkrieg auswächst. Der deutsch-österreichisch-italienische Dreibund und der englisch-französisch-russische Dreiverband, das sind die Lager, in die die kapitalistische Welt geteilt ist, und die sich tagtäglich in Kriegslager verwandeln können. Einmal zerstreut, kehren die Kriegswolken wieder zurück, und von Zeit zu Zeit beweist ein Wetterleuchten, dass verwüstende Stürme im Anzuge sind. Zweimal hielt der Marokkostreit Europa in Atem, das zweite Mal schon drohte ein Weltbrand aus den Wirren in der Türkei zu entstehen, und viele andere Kriegsherde gibt es noch.

Mit unverhüllbarer Angst sieht die kapitalistische Welt den Gefahren entgegen, die sie heraufbeschworen hat; aber sie ist nicht imstande, sie zu bannen. Wie blind wandelt sie an den Abgründen. Mit lodernder, wachsender Entrüstung blickt das Proletariat auf das verruchte Treiben, das seine Not noch vergrößern, seine Leiden ins Unermessliche steigern soll. Aber es will nicht, wie die Bourgeoisie, den Dingen freien Lauf gewähren. Im Kampfe gegen den Kapitalismus lernte es, sein eigenes Los zu schmieden, und es sucht auch der Kriegsgefahr Herr zu werden. Aus seinem Kampfe gegen den Kapitalismus weiß es, dass man nur die Elemente zu überwältigen und zu beherrschen imstande ist, deren Quellen und Triebkräfte man kennt. Darum sucht es zuerst den Grund der nicht nachlassenden Kriegsgefahr kennen zu lernen. Auch der oberflächlichste Blick auf die Geschichte der letzten Jahrzehnte sagt ihm, dass der Gegenstand der Konflikte, die den Frieden bedrohten, das Streben nach Besetzung von unentwickelten Ländern (Kolonien) war, die fern von Europa, von ganz fremden Völkern bewohnt, den Appetit der kapitalistischen Regierungen reizten. Nicht um eine Angliederung eigener Volksteile, die sich unter fremder Herrschaft befinden, ging es den Staaten, sondern um Unterjochung fremder Völker, um Verwandlung ihres freien Bodens in ein Gebiet, auf dem der europäische Kapitalismus schalten und walten konnte. Was erklärt diesen Drang, diesen Kampf um unentwickelte fremde Länder, diese Sucht, sie in kapitalistische Kolonien zu verwandeln? Die Antwort auf diese Frage wird auch zeigen, warum das Proletariat fremd, ja feindlich diesem Bestreben gegenüber stehen muss.



Anmerkung

1. Supan: Die territoriale Entwicklung der europäischen Kolonien, Gotha 1906, S. 254.


Zuletzt aktualiziert am 8.8.2008