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Nachdem Bernstein seine Gleichgültigkeit gegenüber dem Endziele kundgegeben, sah er sich genötigt, sich zu erklären und zu rechtfertigen. Aber diese Erörterungen und Rechtfertigungen haben zu nichts geführt. Als ich dieselben las, überzeugte ich mich immer mehr von den Nützlichkeit jener altbewährten Regel, an der jeden Schriftsteller festhalten sollte, und die darin besteht, daß man zuerst an seinen Aufsätzen Korrektur vornimmt und sie dann erst drucken laßt, denn die Korrekturen, welche gemacht werden, nachdem der Aufsatz gedruckt ist, verbessern selten die Sache. Zugleich fragte ich mich, was denn eigentlich Bernstein zum Niederschreiben jenes Satzes hat veranlassen können, der doch offenbar gar keinen logischen Sinn oder, wie man sagt, weder Hand noch Fuß hat. Anfangs glaubte ich, daß er einen bekannten, wenn ich nicht irre, von Lessing herrührenden Spruch: Würde der Schöpfer der Welt in einer Hand die ganze Wahrheit und in der anderen das Streben nach derselben halten und mich vor die Wahl zwischen beiden stellen, so würde ich das Streben zur Wahrheit dem Besitze der fertigen Wahrheit vorziehen, – daß er diesen Spruch einfach nach eigener Facon, à la Bernstein, umgemodelt hat. Später aber hatte ich Gelegenheit, das Buch Zum sozialen Frieden durchzublättern, und ich sah, daß der Ursprung des famosen Satzes ein ganz anderer ist.
Nach Schulze-Gaevernitz war die alte englische Ökonomie der Arbeiterschutzgesetzgebung feindlich gesinnt und mußte ihr auch feindlich gesinnt sein, sofern letztere zur Beschränkung der individuellen Freiheit erwachsener Menschen führte. Indessen wären derartige Beschränkungen der individuellen Freiheit ein unvermeidliches Ergebnis der Fabrikgesetzgebung, die ihrerseits mit dem Wachstum des politischen Einflusses der arbeitenden Klasse habe fortschreiten müssen. Diese Verhältnisse hätten in England den Boden zur Aufnahme und Verbreitung der Theorie des kontinentalen Sozialismus vorbereitet, die allerdings dabei eine wesentliche Veränderung erlitten habe, da die „Behauptung, daß die Lage des Arbeiters hoffnungslos sei“, beseitigt worden wäre. „Der Sozialismus verliert damit seine revolutionäre Spitze – fährt dann Schulze-Gaevernitz fort – und wird zur Begründung gesetzgeberischer Forderungen verwendet. Ob man als Endziel die Verstaatlichung aller Produktionsmittel annimmt oder verwirft, ist im Grunde hierbei gleichgültig; denn diese Forderung ist zwar für den revolutionären Sozialismus unentbehrlich, nicht aber für den praktisch-politischen, der nahe Ziele den entfernteren.“ [1*]
Zu den Vertretern des englischen „praktisch-politischen“ Sozialismus gehört nach Schulze-Gaevernitz J.S. Mill, der, obgleich kein Sozialist „im Sinne von Engels und Marx“, doch die weitgehende Einmischung des Staates in die wirtschaftliche Tätigkeit der Individuen zulasse und „der erste Nationalökonom“ sei, der „die Notwendigkeit, auch erwachsene Männer unter Umständen zu schützen, verteidigte“. [2*] Als „praktisch-politischer“ Sozialist von gleichem Schlage erscheint nun, wie ich behaupte, auch Eduard Bernstein. Schulze-Gaevernitz schildert uns die Entwicklungsgeschichte der „sozialistischen“ Ansichten J.S. Mills, wobei er sich auf seine Autobiographie stützt. Wir unsererseits können uns gleichfalls den Entwicklungsgang Eduard Bernsteins vorstellen, indem wir seine eigenen Erklärungen ins Auge fassen und mit den oben zitierten Ausführungen von Schulze-Gaevernitz von der geringen Bedeutung des Endzieles für „praktisch-politische“ Sozialisten in Zusammenhang bringen.
Nachdem Bernstein einmal die Ansicht des Schulze-Gaevernitz und anderer Harmonisten akzeptiert hat, daß der Entwickelungsgang des sozialen Lebens in England die Ansichten von Engels und Marx widerlegt habe, fühlt er sich zu dem, von demselben Schulze-Gaevernitz geschilderten „praktisch-politischen“ Sozialismus hingezogen, von dessen Standpunkte das Endziel – die Verstaatlichung aller Produktionsmittel – tatsächlich als etwas fast Gleichgültiges, wenn nicht gar vollständig Utopisches erscheint. Und vom Geiste eines solchen Sozialismus durchdrungen beeilte sich nun Bernstein, sein neues Verhalten zum Endziele öffentlich kundzugeben, wobei die oben angeführte Bemerkung von Schulze-Gaevernitz über das Endziel nicht nur seine Gedankenrichtung, sondern auch seine Ausdrucksweise bestimmt hat. Auf diese Weise wird die Sache ganz klar, und der famose Satz, der auf den ersten Blick im höchsten Grade absurd schien, gewinnt einen sehr klaren und sehr deutlichen Sinn. Allerdings schreckt Bernstein selbst vor diesem Sinne zurück. Das beweisen seine Erklärungen und Rechtfertigungen. Das zeigt gleichfalls sein Brief an den Stuttgarter Parteitag. In demselben sagt er: „Die Prognose, welche das Kommunistische Manifest der Entwickelung der modernen Gesellschaft stellt, war richtig, soweit sie die allgemeinen Tendenzen dieser Entwickelung kennzeichnete.“ [1] Aber der weitere Inhalt des Briefes steht in offenbarstem Widerspruch mit diesen Worten, und wenn Bernstein selbst das nicht bemerkt oder bemerken will, so unterliegt dieser Widerspruch nichtsdestoweniger keinem Zweifel ebenso für die Freunde unserer Sache wie für ihre Feinde. Trefflich haben Sie das in Ihrer Rede in Stuttgart betont, indem Sie sagten: „Er (Bernstein) setzt uns auseinander, daß die Zahl der Besitzenden, der Kapitalisten, wächst, daß also die Grundlagen falsch sind, auf denen wir unsere Ansichten aufgebaut haben. Ja, wenn das richtig wäre, dann wäre der Zeitpunkt unseres Sieges nicht nur sehr weit hinausgeschoben, sondern [dann] kämen wir überhaupt nicht ans Ziel.“ [2]
In gleichem Sinne äußerte sich Genosse Liebknecht: „Wären Bernsteins Ausführungen richtig, dann könnten wir unser Programm und unsere ganze Vergangenheit begraben lassen, dann würden wir aufhören, eine proletarische Partei zu sein. [3]
Andererseits schrieb Professor Julius Wolf, bald nachdem der Bernsteinsche Artikel „Der Kampf der Sozialdemokratie und die Revolution der Gesellschaft“ erschienen war: „Die Bedeutsamkeit seiner Äußerungen kann nicht überschätzt werden. Sie sind ein Faustschlag ins Gesicht der bisherigen sozialistischen Theorie, die offene Kriegserklärung gegen diese.“ [3*] Ich will Bernstein durchaus nicht das Recht bestreiten, derselben Partei Faustschläge ins Gesicht zu versetzen, deren Anschauungen er früher gepredigt. Jedermann kann seine Anschauungen ändern. Aber er durfte uns nicht zu versichern suchen, daß die Änderung, die sich in seinen Ansichten vollzogen, von keiner wesentlichen Bedeutung wäre. Er hätte wissen und begreifen sollen, daß aus seinen neuen Ansichten sich unmöglich der Klassenkampf folgern läßt, auf dessen Boden die internationale Sozialdemokratie steht, – daß diese Ansichten unvermeidlich „zum sozialen Frieden“, den Herr Schulze-Gaevernitz und Konsorten predigen, führen muß. Kurz, Bernstein hatte das Recht, gegen die Sozialdemokratie zu fechten, aber er sollte mit offenem Visier fechten. Und da er das nicht getan hat, so verdient er dafür nicht Dank, sondern bitteren Vorwurf. Zur Zeit der Renaissance und früher sogar gab es Gelehrte, welche bestrebt waren, zu beweisen, daß gewisse Philosophen des Altertums Christen gewesen wären. Selbstverständlich bewiesen sie in Wirklichkeit nicht das, was sie wollten, sondern das, was zu beweisen gar nicht in ihrer Absicht lag, nämlich, daß sie selber den Standpunkt des Christentums verlassen hatten und Heiden geworden waren. Etwas ähnliches ist auch unseren „Gelehrten“ passiert, die Bernstein in Schutz genommen haben; sie haben nicht bewiesen, daß Bernstein dem Sozialismus („im Sinne von Engels und Marx“) treu geblieben war, sondern daß sie selbst von den Ansichten der bürgerlichen „Sozialpolitiker“ angesteckt sind. Die internationale Sozialdemokratie muß stets auf der Hut vor solchen „Gelehrten“ sein, sonst können sie ihr viel Unheil bringen.
1*. Zum Sozialen Frieden, Band II, S.98.
2*. Daselbst, S.99.
3*. Illusionisten und Realisten in der Nationalökonomie, Zeitschrift für Sozialwissenschaft, 1898, Heft 4, S.251.
1. Erklärung Eduard Bernsteins an den Stuttgarter Parteitag, in: Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Stuttgart vom 3.-8. Oktober 1898, S.123.
2. Rede Karl Kautskys auf dem Stuttgarter Parteitag, in: Ebenda, S.127/128.
3. Rede Wilhelm Liebknechts auf dem Stuttgarter Parteitag, in: Ebenda, S.133.
Zuletzt aktualiziert am 9.8.2008