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In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre veröffentlichte der nunmehr verstorbene Kablitz [1*] einen Aufsatz Verstand und Gefühl als Faktoren des Fortschritts, in dem er, unter Berufung auf Spencer, zu beweisen suchte, daß in der Vorwärtsbewegung der Menschheit die Hauptrolle dem Gefühl gehöre, während der Vorstand eine zweitrangige und zudem völlig untergeordnete Rolle spiele. Gegen Kablitz wandte sich ein „ehrwürdiger Soziologe“ [2*], der hohnvoll seine Verwunderung Über eine Theorie ausdrückte, die den Verstand „auf den Hinterhof“ verwies. Der „ehrwürdige Soziologe“ hatte natürlich recht, als er den Verstand in Schutz nahm. Er hätte jedoch noch viel mehr recht gehabt, wenn er, ohne auf das Wesen der von Kablitz angeschnittenen Frage einzugehen, gezeigt hätte, wie sehr dessen Fragestellung selbst unmöglich und unstatthaft war. In der Tat, die Theorie der „Faktoren“ ist schon an und für sich unbegründet, da sie willkürlich verschiedene Seiten des gesellschaftlichen Lebens aussondert und sie hypostasiert, indem sie sie in Kräfte besonderer Art verwandelt, die von verschiedenen Seiten her und mit ungleichem Erfolg den gesellschaftlichen Menschen auf dem Wege des Fortschritts führen. Noch unbegründeter ist aber diese Theorie in der Gestalt, wie wir sie bei Kablitz finden, der nicht einmal diese oder jene Seiten der Tätigkeit des gesellschaftlichen Menschen, sondern die verschiedenen Gebiete des individuellen Bewußtseins zu besonderen soziologischen Hypostasen erhob. Das sind wahrhaftig Herkulessäulen der Abstraktion: weiter geht es nicht, denn weiter beginnt schon das groteske Reich ganz augenscheinlicher Absurdität. Darauf eben hätte der „ehrwürdige Soziologe“ die Aufmerksamkeit von Kablitz und seiner Leser lenken sollen. Hätte der „ehrwürdige Soziologe“ festgestellt, in welche Irrgänge der Abstraktion Kablitz durch sein Bestreben, den herrschenden „Faktor“ in der Geschichte aufzuspüren, geführt wurde, so hätte er unversehens vielleicht auch selbst etwas für die Kritik der Theorie der Faktoren geleistet. Das wäre zu gleicher Zeit für uns alle sehr nützlich gewesen. Aber er erwies sich seiner Sendung nicht gewachsen. Er selbst vertrat den Standpunkt dieser Theorie und unterschied sich von Kablitz lediglich durch meinen Hang zum Eklektizismus, infolgedessen ihm alle „Faktoren“ als gleich wichtig vorkamen. Die eklektischen Eigenschaften seines Verstandes kamen in der Folge besonders kraß zum Ausdruck in seinen Ausfällen gegen den dialektischen Materialismus, in dem er eine Lehre erblickte, die dem ökonomischen „Faktor“ alle übrigen opfert und die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte für null und nichtig erklärt. Dem „ehrwürdigen Soziologen“ kam es gar nicht in den Sinn, daß dem dialektischen Materialismus der Standpunkt der Faktoren“ fremd ist und daß man nur bei vollständiger Unfähigkeit, logisch zu denken, in ihm eine Rechtfertigung des sogenannten Quietismus erblicken kann. Es muß übrigens bemerkt werden, daß dieses Versehen des „ehrwürdigen Soziologen“ nichts Originelles an sich hat: dieses Versehen ist vielen anderen unterlaufen, unterläuft vielen anderen und wird wahrscheinlich lange noch vielen, vielen anderen unterlaufen ...
Man begann, den Materialisten einen Hang zum Quietismus schon zu der Zeit vorzuwerfen, als sie noch keine dialektische Auffassung der Natur und der Geschichte ausgearbeitet hatten. Ohne uns in die „graue Vorzeit“ zu vertiefen, wollen wir an den Streit zwischen dem bekannten englischen Gelehrten Priestley mit Price erinnern. Bei seiner Analyse der Priestleyschen Lehre wollte Price unter anderem beweisen, daß der Materialismus mit dem Begriff der Freiheit unvereinbar sei und jede Selbsttätigkeit der Persönlichkeit ausschalte. In Antwort darauf berief sich Priestley auf die Lebenserfahrungen des Alltags. „Ich spreche nicht von mir selber, obgleich, auch ich natürlich nicht als das trägste aller Tiere bezeichnet werden darf (am not the most torpid and lifeless of all animals), aber ich frage euch, wo werdet ihr mehr Gedankenenergie, mehr Aktivität, mehr Kraft und Beharrlichkeit in der Verfolgung der wichtigsten Ziele finden, als unter den Anhängern der Lehre von der Notwendigkeit?“ Priestley meinte damit die damalige religiöse demokratische Sekte der sogenannten christian necessarians. [1] Wir wissen nicht, ob sie tatsächlich so aktiv war, wie ihr Anhänger Priestley glaubte. Aber das ist auch nicht von Belang. Absolut keinem Zweifel unterliegt der Umstand, daß die materialistische Auffassung des menschlichen Willens sich mit der energischsten Wirksamkeit in der Praxis ausgezeichnet verträgt. Lanson bemerkt, daß „alle Doktrinen, die an den menschlichen Willen die größten Anforderungen stellen, im Prinzip die Ohnmacht des Willens bejahten; sie verneinten die Freiheit und unterordneten die Welt dem Fatalismus“. [2] Lanson hat unrecht, wenn er glaubt, daß Jede Verneinung der sogenannten Willensfreiheit zum Fatalismus führe; das hindere ihn aber nicht, eine im höchsten Grade interessante historische Tatsache festzustellen: die Geschichte zeigt in der Tat, daß sogar der Fatalismus nicht nur nicht in allen Fällen eine energische, auf die Praxis gerichtete Tätigkeit behindert sondern daß er Im Gegenteil in gewissen Epochen die psychologisch notwendige Grundlage dieser Tätigkeit war. Zum Beweis wollen wir auf die Puritaner verweisen, die durch ihre Tatkraft alle anderen Parteien im England des 17. Jahrhunderts in den Schatten gestellt haben, oder auf die Nachfolger Mohammeds. die in kurzer Zeit ein gewaltigem Territorium von Indien bis Spanien erobert haben. In einem starken Irrtum sind diejenigen befangen, die da meinen, daß wir uns nur von der Unvermeidlichkeit des Eintretens einer bestimmten Folge von Ereignissen zu überzeugen brauchen, damit bei uns jede psychologische Möglichkeit, für dieses Eintreten zu wirken oder ihm entgegenzuwirken, verschwinde. [3]
Hier hängt alles davon ab, ob meine eigene Tätigkeit ein notwendiges Glied in der Kette der notwendigen Ereignisse bildet. Ist dem so, so habe ich um so weniger Schwankungen und handle um 10 entschlossener. Und das hat auch nichts Verwunderliches an sich: wenn wir sagen, daß die betreffende Persönlichkeit ihre Wirksamkeit als notwendiges Glied in der Kette der notwendigen Geschehnisse betrachtet, so heißt das unter anderem, daß das Fehlen von Willensfreiheit für sie gleichbedeutend ist mit einer völligen Unfähigkeit zur Inaktivität, und daß dieses Fehlen von Willensfreiheit sich im Bewußtsein dieser Persönlichkeit widerspiegelt als Unmöglichkeit, anders zu handeln, als sie handelt. Das ist eben der psychologische Zustand, der am besten ausgedrückt werden kann durch die berühmten Worte Luthers: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“, der Zustand, dank dem die Menschen die unbeugsamste Energie an den Tag legen und die größten Heldentaten vollbringen. Diese Gemütsverfassung war einem Hamlet unbekannt: deshalb war er auch zu nichts anderem fähig, als zu lamentieren und zu reflektieren. Und darum hätte sich Hamlet niemals mit einer Philosophie abgefunden, deren Sinn darin besteht, daß Freiheit lediglich bewußt gewordene Notwendigkeit ist. Fichte sagt mit Recht: „Was man für eine Philosophie wählt, hängt davon ab, was man für ein Mensch ist.“
Manche Leute haben bei uns Stammlers Bemerkung von dem angeblich unlösbaren Widerspruch ernst genommen, den ein, der westeuropäischen sozialpolitischen Lehren enthalten soll. Wir meinen das bekannte Beispiel mit der Mondfinsternis. In Wirklichkeit ist das ein höchst absurdes Beispiel. Zu den Bedingungen. deren Zusammentreffen für eine Mondfinsternis nötig ist, gehört keineswegs die menschliche Tätigkeit und kann auch nicht gehören. und schon allein aus diesem Grunde könnte eine Partei zur Förderung der Mondfinsternis nur im Irrenhause entstehen. Aber selbst wenn die menschliche Tätigkeit auch zu den genannten Bedingungen gehörte, würde sich der Partei der Mondfinsternis keiner derjenigen anschließen, die zwar Lust hätten, die Mondfinsternis zu sehen, zugleich aber davon überzeugt wären, daß sie auch ohne ihre Mitwirkung unbedingt eintreten wird. In diesem Falle wäre ihr „Quietismus“ nur die Enthaltung von überflüssigen, d.h. unnützen Handlungen und hätte mit dem wahren Quietismus nichts gemein. Um dem Beispiel mit der Mondfinsternis in dem von uns betrachteten Fall der obengenannten Partei die Sinnlosigkeit zu nehmen, müßte man es vollständig verändern. Man müßte sich vorstellen. daß der Mond mit Bewußtsein begabt sei und daß seine Stellung im Weltenraum, mit der das Eintreffen von Verfinsterungen verbunden ist, ihm als Produkt der Selbstbestimmung seines Willens erscheine und ihm nicht nur einen kolossalen Genuß bereite, sondern auch für seine Seelenruhe unbedingt nötig sei, so daß er stets leidenschaftlich bestrebt sei, diese Lage einzunehmen. [4] Hätte man sich das alles vorgestellt, so müßte man sich fragen: was würde der Mond empfinden, wenn er schließlich entdeckte, daß in Wirklichkeit nicht sein Wille und nicht seine „Ideale“ seine Bewegung im Weltenraume bestimmen, sondern umgekehrt, daß sein Wille und seine „Ideale“ durch seine Bewegung bestimmt sind. Laut Stammler müßte diese Entdeckung den Mond unbedingt bewegungsunfähig machen, falls er sich nicht mit Hilfe irgendeines logischen Widerspruches aus der Affäre zöge. Aber eine solche Voraussetzung ist absolut durch nichts begründet. Diese Entdeckung könnte einer der formalen Gründe für die schlechte Stimmung des Mondes, für sein moralisches Zerwürfnis mit sich selbet, für den Widerspruch zwischen seinen „Idealen“ und der mechanischen Wirklichkeit sein. Da wir aber voraussetzen, daß der ganze „Seelenzustand des Mondes“ überhaupt letzten Endes durch seine Bewegung bedingt ist, so müßte man in der Bewegung auch die Ursachen seines Seelenkonflikts suchen. Bei einer gewissenhaften Behandlung der Frage würde sich vielleicht herausstellen, daß der Mond dann über die Unfreiheit seines Willens trauert, wenn er sich in Erdferne befindet, während in Erdnähe der gleiche Umstand für den Mond eine neue formale Quelle moralischer Glückseligkeit und sittlicher Kraft bildet. Vielleicht würde sich auch das Gegenteil ergeben: vielleicht würde sich herausstellen, daß der Mond nicht in Erdnähe, sondern in Erdferne das Mittel sieht, die Freiheit mit der Notwendigkeit zu versöhnen. Wie dem aber auch sei, es ist unzweifelhaft, daß eine solche Aussöhnung durchaus möglich ist, daß das Bewußtsein der Notwendigkeit sich mit der energischsten Handlung in der Praxis ausgezeichnet verträgt. Jedenfalls war es bisher in der Geschichte so. Menschen, die die Willensfreiheit verneinten, übertrafen häufig alle ihre Zeitgenossen durch die Kraft ihres eigenen Willens und stellten an diesen die größten Anforderungen. Solcher Beispiele gibt es viele. Sie sind allgemein bekannt. Man kann sie nur dann vergessen,. so wie Stammler sie anscheinend vergißt, wenn man absichtlich die historische Wirklichkeit, so wie sie ist, nicht sehen will. Dieses Nichtwollen ist zum Beispiel bei unseren Subjektivisten und manchen deutschen Philistern stark ausgeprägt. Aber die Philister und Subjektivisten sind keine Menschen, sondern einfache Gespenster, wie Bjelinski [3*] sagen würde.
Betrachten wir jedoch etwas näher den Fall, wo die eigenen – vergangenen, gegenwärtigen oder zukünftigen – Handlungen des Menschen für ihn durchweg den Anstrich der Notwendigkeit zu haben scheinen. Wir wissen bereits, daß in diesem Fall der Mensch – der sich so wie Mohammed, als Abgesandter Gottes, so wie Napoleon, als Auserwählten des unabwendbaren Schicksals, oder so wie manche Persönlichkeit des 19. Jahrhunderts als Träger der von niemandem zu überwindenden Kraft der historischen Entwicklung betrachtet – eine fast elementare Willenskraft an den Tag legt und alle Hindernisse, die die großen und die kleinen Hamlets der verschiedenen Landkreise [4*] auf seinem Weg aufrichten, wie Kartenhäuschen niederreißt. [5] Uns interessiert aber jetzt dieser Fall von einer anderen Seite, und zwar von folgender. Wenn das Bewußtsein von der Unfreiheit meines Willens sich mir lediglich in Form der völligen subjektiven und objektiven Unmöglichkeit, anders zu handeln, als ich handle, darstellt, und wenn meine jeweiligen Handlungen zugleich für mich die wünschenswertesten unter allen möglichen Handlungen sind, dann wird die Notwendigkeit in meinem Bewußtsein mit der Freiheit, und die Freiheit mit der Notwendigkeit identisch, und dann bin ich nur in dem Sinne nicht frei, daß ich diese Identität von Freiheit und Notwendigkeit nicht übertreten kann; die beiden einander nicht gegenüberstellen kann; mich durch die Notwendigkeit nicht beengt fühlen kann. Aber ein derartiges Fehlen von Freiheit ist zugleich die vollständigste Aeußerung der Freiheit.
Simmel sagt, daß Freiheit stets Freisein von etwas bedeute, und daß die Freiheit dort, wo man sie sich nicht als Gegensatz zur Gebundenheit denkt, keinen Sinn habe. Dem ist natürlich so. Aber auf Grund dieser kleinen ABC-Weisheit läßt sich der Satz nicht widerlegen, der eine der genialsten Entdeckungen des philosophischen Denkens aller Zeiten bildet, daß die Freiheit die Einsicht in die Notwendigkeit ist. Simmels Definition ist allzu eng: sie bezieht sich nur auf die Freiheit von der äußeren Beschränkung. Solange nur von diesen Schranken die Rede ist, wäre eine Identifizierung von Freiheit und Notwendigkeit in höchstem Grade lächerlich: der Dieb ist nicht frei, Ihnen das Schnupftuch aus der Tasche zu ziehen, wenn Sie ihn daran hindern und er in dieser oder jener Weise Ihren Widerstand nicht überwindet. Doch außer diesem elementaren und oberflächlichen Begriff der Freiheit gibt es einen anderen unvergleichlich tieferen. Dieser Begriff existiert ganz und gar nicht für Menschen, die unfähig sind, philosophisch zu denken; Menschen aber, die zu diesem Denken fähig sind, gelangen zu diesem Begriff erst dann, wenn es ihnen gelingt, mit dem Dualismus fertig zu werden und einzusehen, daß zwischen dem Subjekt auf der einen und dem Objekt auf der anderen Seite gar nicht der Abgrund klafft, den die Dualisten voraussetzen.
Der russische Subjektivist stellt seine utopischen ideale unserer kapitalistischen Wirklichkeit gegenüber und geht Über diese Gegenüberstellung nicht hinaus. Die Subjektivisten sind im Sumpf des Dualismus steckengeblieben. Die Ideale der sogenannten russischen „Schüler“ [5*] sehen der kapitalistischen Wirklichkeit unvergleichlich weniger ähnlich als die Ideale der Subjektivisten. Aber ungeachtet dessen wußten die „Schüler“ die Brücke zu finden, die von den Idealen zu der Wirklichkeit führt. Die „Schüler“ erhoben sich zum Monismus. Ihrer Meinung nach wird der Kapitalismus durch den Gang seiner eigenen Entwicklung zu seiner eigenen Negation und zur Existenz ihrer – der russischen, und zwar nicht allein der russischen „Schüler“ – Ideale führen. Das ist historische Notwendigkeit. Der „Schüler“ dient als eines der Werkzeuge dieser Notwendigkeit und muß als solches dienen, sowohl kraft seiner gesellschaftlichen Lage als auch infolge seines durch diese Lage erzeugten geistigen und sittlichen Charakters. Das ist ebenfalls eine Seite der Notwendigkeit. Hat nun einmal seine gesellschaftliche Lage bei ihm gerade diesen und nicht einen anderen Charakter herausgebildet, so dient er nicht nur als Werkzeug der Notwendigkeit und muß nicht nur als solches dienen, sondern will auch leidenschaftlich dienen und muß es auch wollen. Das ist die eine Seite der Freiheit, und zwar der Freiheit, die aus der Notwendigkeit hervorgewachsen ist, d.h. richtiger gesagt – das ist die Freiheit, die mit der Notwendigkeit identisch geworden ist, das ist die Notwendigkeit, die zur Freiheit geworden ist. [6] Diese Freiheit ist ebenfalls Freiheit von gewisser Einschränkung; sie ist ebenfalls einer gewissen Gebundenheit entgegengesetzt: tiefe Definitionen widerlegen die oberflächlichen nicht, sondern ergänzen diese und nehmen sie in sich auf. Von welcher Einschränkung, von welcher Gebundenheit kann aber in diesem Fall die Rede sein? Das ist klar: von der moralischen Einschränkung, die die Tatkraft der Menschen bremst, die mit dem Dualismus noch nicht fertig geworden sind; von der Gebundenheit, an der Menschen kranken, die außerstande sind, eine Brücke über den Abgrund zu schlagen, der die Ideale von der Wirklichkeit trennt. Solange die Persönlichkeit diese Freiheit durch eine kühne Bemühung des philosophischen Denkens nicht erobert hat, gehört sie noch nicht ganz sich selbst und zahlt durch ihre eigenen moralischen Qualen einen schmählichen Tribut an die ihr entgegentretende äußere Notwendigkeit. Dafür aber wird diese Persönlichkeit zu neuem, vollem, ihr bis dahin unbekanntem Leben geboren werden, sobald sie nur das Joch dieser qualvollen und beschämenden Einschränkung abstreift, und ihre freie Tätigkeit wird als bewußter und freier Ausdruck der Notwendigkeit erscheinen. [7] Dann wird sie zur gewaltigen gesellschaftlichen Kraft und dann kann sie schon nichts mehr hindern und wird sie auch nichts mehr hindern,
Des Unrechts tückische Gewalten |
Noch einmal: Die Erkenntnis der absoluten Notwendigkeit einer gegebenen Erscheinung kann nur die Tatkraft des Menschen steigern, der mit dieser Erscheinung sympathisiert und sich selbst für eine der Kräfte hält, die sie hervorrufen. Legte ein solcher Mensch, in der Erkenntnis der Notwendigkeit, die Hände in den Schoß, so zeigt er dadurch nur, daß er die Rechenkunst schlecht beherrscht. In der Tat, angenommen, die Erscheinung A muß notwendig eintreten, sobald eine gegebene Summe von Bedingungen vorliegt. Sie haben mir bewiesen, daß diese Summe zum Teil schon vorliegt, zum Teil in der Zeit T eintreffen wird. Sobald ich – ein Mensch, der mit der Erscheinung A sympathisiert – mich davon überzeugt habe, rufe ich aus: „Wie ist das schön!“ und lege mich auf die faule Haut, um so lange zu schlafen, bis der freudige Tag des von Ihnen vorausgesagten Ereignisses eintritt. Was ergibt sich daraus? Folgendes. Nach Ihrer Berechnung schloß die Summe, die notwendig ist, damit das Ereignis A eintritt, auch meine Tätigkeit in sich, die, angenommen, gleich a ist. Da ich aber der Schlafsucht verfallen bin, so wird im Zeitpunkt T die Summe der für den Eintritt des gegebenen Ereignisses günstigen Bedingungen nicht mehr S sein, sondern S – a, was ja den Stand der Dinge ändert. Vielleicht wird mein Platz von einem anderen eingenommen werden, der ebenfalls der Passivität nahe war, auf den aber das Beispiel meiner Apathie, die ihm geradezu empörend erschien, heilsam gewirkt hat. In diesem Falle wird die Kraft a durch die Kraft b ersetit werden, und wenn a gleich b ist (a = b), so wird die Summe der den Eintritt von A fördernden Bedingungen gleich S bleiben, und die Erscheinung A wird zu demselben Zeitpunkt T dennoch eintreten.
Wenn aber meine Kraft nicht gleich Null gesetzt werden darf, wenn ich ein geschickter – und fähiger Arbeiter bin, und wenn niemand an meine Stelle getreten ist, dann werden wir nicht die volle Summe S haben, und die Erscheinung A wird später eintreten, als wir annehmen, oder nicht in der Vollständigkeit eintreten, wie wir sie erwartet haben, oder vielleicht gar nicht eintreten. Das ist sonnen- klar, und wenn ich das nicht verstehe, wenn ich glaube, daß S auch nach der Substitution meiner Person gleich S bleiben wird, so einzig und allein deshalb, weil ich nicht rechnen kann. Aber kann nur ich allein nicht rechnen? Sie, der Sie mir vorausgesagt haben, daß im Zeitpunkt T die Summe S unbedingt vorliegen wird, haben nicht vorausgesehen, daß ich mich sofort nach meiner Unterhaltung mit Ihnen schlafen legen werde; Sie waren überzeugt, daß ich bis zuletzt ein guter Arbeiter bleiben werde; Sie haben eine weniger zuverlässige Kraft für eine zuverlässigere gehalten. Folglich haben auch Sie schlecht gerechnet. Aber nehmen wir an, daß Sie sich in nichts geirrt, daß Sie alles berücksichtigt haben. Dann wird Ihre Berechnung folgendermaßen aussehen: Sie sagen, daß im Zeitpunkt T die Summe S vorliegen wird. In diese Summe der Bedingungen wird meine Ablösung als negative Größe eingehen; in sie wird aber auch, als positive Größe, die aufmunternde Wirkung eingehen, die Innerlich starke Menschen aus der Ueberzeugung gewinnen, daß ihre Bestrebungen und Ideale der subjektive Ausdruck der objektiven Notwendigkeit sind. In diesem Fall wird die Summe S tatsächlich In dem von Ihnen bezeichneten Zeitpunkt vorliegen, und die Erscheinung A wird sich vollziehen. Das scheint klar zu sein. Wenn das aber klar ist, warum hat mich der Gedanke, daß die Erscheinung A unvermeidlich ist, stutzig gemacht? Warum kam es mir so vor, als ob diese Unvermeidlichkeit mich zur Untätigkeit verdamme? Warum habe ich bei dieser Betrachtung die einfachsten Regeln der Arithmetik vergessen? Wahrscheinlich weil ich, infolge meiner Erziehung, ohnehin den größten Hang zur Untätigkeit hatte und meine Unterhaltung mit Ihnen den Tropfen abgab, der den Kelch dieses lobenswerten Hangs zum Ueberlaufen brachte. Das ist alles. Nur in diesem Sinne – im Sinne eines Anfasses zur Feststellung meiner moralischen Morschheit und Untauglichkeit – figurierte hier die Ansicht in die Notwendigkeit. Als Ursache dieser Morschheit ist diese Einsicht aber keineswegs zu betrachten: die Ursache liegt nicht in ihr, sondern in den Umständen meiner Erziehung. Also ... also ist die Arithmetik eine höchst schätzenswerte und nützliche Wissenschaft, deren Regeln nicht einmal die Herren Philosophen und sogar ganz besonders die Herren Philosophen nicht vergessen dürfen.
Wie aber wird die Einsicht in die Notwendigkeit der betreffenden Erscheinung auf den starken Menschen wirken, der mit Ihr nicht sympathisiert und ihrem Eintritt entgegenarbeitet? Hier ändert sich die Sache ein wenig. Es ist wohl möglich, daß sie die Energie seines Widerstandes schwächt. Wenn sich aber die Gegner der gegebenen Erscheinung von ihrer Unvermeidlichkeit überzeugen? Wenn die sie begünstigenden Umstände sehr zahlreich und sehr stark werden? Die Einsicht ihrer Gegner in die Unvermeidlichkeit ihres Eintreffens und das Sinken der Energie dieser Gegner sind nur eine Aeußerung der Kraft der Bedingungen, die für diese Erscheinung günstig sind. Diese Aeußerungen gehören ihrerseits zu den günstigen Bedingungen.
Die Energie des Widerstandes wird jedoch nicht bei allen ihren Gegnern sinken; bei einigen wird sie infolge der Einsicht In ihre Notwendigkeit nur wachsen und sich in eine Energie der Verzweiflung verwandeln. Die Geschichte im allgemeinen, und die Geschichte Rußlands Insbesondere, bietet gar manches lehrreich. Beispiel der Energie dieser Art. Wir hoffen, daß der Leser sich ihrer ohne unsere Hilfe erinnern wird.
Hier unterbricht uns Herr Karejew, der zwar unsere Ansichten Über Freiheit und Notwendigkeit natürlich nicht teilt und zudem unsere Vorliebe für die „Extreme“ der starken Naturen nicht billigt, aber dennoch in den Spalten unserer Zeitschrift [6*] mit Genugtuung dem Gedanken begegnet, daß die Persönlichkeit eine große gesellschaftliche Kraft sein kann. Der ehrwürdige Professor ruft freudig aus: „Das habe ich stets gesagt.“ Und das stimmt auch. Herr Karejew und alle Subjektivisten räumten stets der Persönlichkeit eine große Rolle in der Geschichte ein. Und es gab eine Zeit, wo dies ihnen große Sympathien bei der fortgeschrittenen Jugend einbrachte, die nach edlem Wirken für die Allgemeinheit strebte und natürlicherweise geneigt war, die Bedeutung der persönlichen Initiative hoch einzuschätzen. Aber die Subjektivisten verstanden es eigentlich niemals, die Frage der Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte richtig zu beantworten, ja sie auch nur richtig zu formulieren. Sie stellten die „Tätigkeit kritisch denkender Persönlichkeiten“ dem Einfluß der Gesetze der gesellschaftlichen historischen Bewegung entgegen und schufen auf diese Weise gewissermaßen eine neue Abart der Theorie der Faktoren: die kritisch denkenden Persönlichkeiten bildeten den einen Faktor der genannten Bewegung, als ihr andere Faktor dienten ihre eigenen Gesetze. Das Ergebnis war eine völlige Sinnlosigkeit, mit der man sich nur so lange zufrieden gehen konnte, als die Aufmerksamkeit der aktiven „Persönlichkeiten“ auf praktische Tagesaktualitäten konzentriert war, als sie daher keine Zeit hatten, sich mit philosophischen Problemen zu beschäftigen. Aber seitdem die in den achtziger Jahren eingetretene Stille denjenigen, die fähig waren, zu denken, ungewollte Muße für philosophische Spekulationen gewährte, begann die Lehre der Subjektivisten in allen Nähten zu platzen oder gar ganz auseinanderzugehen, ähnlich wie der berühmte Dienstmantel des Akaki Akakiewitsch. [7*] Da half alles Flicken nichts, und die denkenden Menschen begannen. einer nach dem anderen, vom Subjektivismus als einer offenkundig absolut unzulänglichen Lehre abzurücken. Aber wie es immer in solchen Fällen zu geschehen pflegt, hat die Reaktion auf den Subjektivismus einige seiner Gegner zu dem entgegengesetzten Extrem geführt. Wenn manche Subjektivisten, aus dem Bestreben heraus, der „Persönlichkeit“ eine möglichst große Rolle in der Geschichte einzuräumen, die historische Entwicklung der Menschheit nicht als gesetzmäßigen Prozeß ansprechen wollten, so waren einige ihrer neuesten Gegner, aus dem Bestreben heraus, den gesetzmäßigen Charakter dieser Bewegung möglichst stark hervorzuheben, scheinbar bereit zu vergessen, daß die Geschichte von Menschen gemacht wird und daß deshalb die Tätigkeit der Persönlichkeiten nicht ohne Bedeutung für sie sein kann. Sie setzten die Persönlichkeit zur quantité négligeable [8*] herab. Theoretisch ist dieses Extrem ebenso unverzeihlich wie dasjenige, zu dem die rabiatesten Subjektivisten gelangt sind. Es ist ebenso unbegründet, die These der Antithese zu opfern, wie die Antithese der These zuliebe zu vergessen. Der richtige Standpunkt wird erst dann gefunden, wenn wir es verstehen, die ihnen innewohnenden Momente der Wahrheit in der Synthese zu vereinigen. [8]
Diese Aufgabe interessiert uns schon seit langem, und seit langem schon hatten wir Lust, den Leser aufzufordern, sie mit uns gemeinsam in Angriff zu nehmen. Aber gewisse Befürchtungen hielten uns davon zurück: wir dachten, unsere Leser hätten diese Frage vielleicht schon bei sich entschieden, und so käme unsere Aufforderung zu spät. Gegenwärtig haben wir diese Befürchtungen nicht mehr. Die deutschen Historiker haben sie uns genommen. Wir sagen das in allem Ernst. Die Sache ist nämlich die, daß in der letzten Zeit unter den deutschen Historikern eine ziemlich bewegte Diskussion über die großen Männer in der Geschichte stattgefunden hat. Die einen neigten dazu, in der politischen Tätigkeit dieser Männer die hauptsächliche und schier einzige Triebfeder der historischen Entwicklung zu sehen, die anderen aber behaupteten, daß eine solche Auffassung einseitig sei und daß die Geschichtswissenschaft nicht nur die Tätigkeit der großen Männer und nicht nur die politische Geschichte im Auge behalten müsse, sondern das „Ganze des gesellschaftlichen Lebens“
Als einer der Vertreter dieser letzteren Richtung ist Karl Lamprecht aufgetreten, der Verfasser der Deutschen Geschichte, die von Herrn P. Nikolajew ins Russische übersetzt worden ist. Die Gegner warfen Lamprecht „Kollektivismus“ und Materialismus vor, er wurde sogar – horrible dictu [9*] – mit den „sozialdemokratischen Atheisten“ in eine Reihe gestellt, wie er sich am Schluß der Diskussion ausdrückte. Als wir seine Anschauungen kennenlernten, sahen wir, daß die Vorwürfe. die gegen den armen Gelehrten erhoben wurden, völlig unbegründet waren. Gleichzeitig haben wir uns davon überzeugt, daß die heutigen deutschen Historiker außerstande sind, die Frage nach der Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte zu entscheiden. Nunmehr hielten wir uns für berechtigt anzunehmen, daß diese Frage auch für manche russischen Leser ungelöst geblieben ist, und daß auch jetzt noch über sie manches zu sagen wäre, was nicht ganz ohne theoretisches und praktisches Interesse ist.
Lamprecht hat sich eine ganze Sammlung (wie er sich ausdrückt: eine artige Sammlung) von Zeugnissen hervorragender Staatsmänner angelegt über das Verhältnis ihrer eigenen Tätigkeit zu dem historischen Milieu, in dem sich diese vollzog; in seiner Polemik hat er sich einstweilen mit der Berufung auf gewisse Reden und Aeußerungen Bismarcks begnügt. Er führt folgende Worte an, die de eiserne Kanzler am 16. Apiil 1869 im Norddeutschen Reichstag sagte: „Wir können die Geschichte der Vergangenheit weder ignorieren, noch können wir, meine Herren, die Zukunft machen; und das ist ein Mißverständnis, vor dem ich auch hier warnen möchte, daß wir uns nicht einbilden, wir können den Lauf der Zeit dadurch beschleunigen, daß wir unsere Uhren vorstellen. Mein Einfluß auf die Ereignisse, die mich getragen haben, wird zwar wesentlich überschätzt, aber doch wird mir gewiß keiner zumuten, Geschichte zu machen; das, meine Herren, könnte ich selbst In Gemeinschaft mit Ihnen nicht, eine Gemeinschaft, in der wir doch so stark sind, daß wir einer Welt in Waffen trotzen könnten, aber die Geschichte können wir nicht machen, sondern nur abwarten, daß sie sich vollzieht. Wir können das Reifen der Früchte nicht dadurch beschleunigen, daß wir eine Lampe darunter halten, und wenn wir nach unreifen Früchten schlagen, so werden wir nur ihr Wachstum hindern und sie verderben.“ Sich auf das Zeugnis Jollys berufend, führt Lamprecht Bismarcks Bemerkungen an, die er wiederholt während des Krieges zwischen Frankreich und Preußen machte. Ihr allgemeiner Sinn ist wiederum der: „große politische Änderungen ließen sich nicht machen, man müsse den natürlichen Lauf der Dinge beachten und sich darauf beschränken, das Gereifte zu sichern“. Lamprecht sieht darin eine tiefe und vollkommene Wahrheit. Seiner Meinung nach kann der moderne Geschichtsschreiber gar nicht anders denken, wenn er es nur versteht, in die Tiefe der Ereignisse zu blicken und sein Gesichtsfeld nicht auf eine allzu kurze Zeitspanne zu beschränken. Hätte Bismarck etwa Deutschland zur Naturalwirtschaft zurückführen können? Das wäre für ihn selbst damals unmöglich gewesen, als ei sich auf dem Gipfel seiner Macht befand. Die allgemeinen historischen Bedingungen sind stärker als die stärksten Persönlichkeiten. Der allgemeine Charakter seiner Epoche ist für den großen Mann die „empirisch gegebene Nottvendigkeit“.
So argumentiert Lamprecht, der seine Auffassung als universalistisch bezeichnet. Es ist nicht schwer, die schwache Seite der „universalistischen“ Auffassung wahrzunehmen. Die angeführten Aeußerungen Bismarcks sind als psychologisches Dokument sehr interessant. Man braucht mit der Tätigkeit des früheren deutschen Kanzlers nicht zu sympathisieren, aber man kann nicht sagen, daß sie unbedeutend war, daß Bismarck sich durch „Quietismus“ auszeichnete. Von ihm hat ja Lassalle gesagt: „Die Diener der Reaktion sind keine Schönredner, aber gebe Gott, daß der Fortschritt mehr solcher Diener habe.“ Und dieser Mann, der zuweilen eine geradezu eiserne Energie an den Tag legte, hielt sich für vollkommen ohnmächtig vor dem natürlichen Gang der Dinge und betrachtete sich selber offenbar als einfaches Werkzeug der historischen Entwicklung: das zeigt nur noch einmal, daß man die Erscheinungen im Lichte der Notwendigkeit sehen und zugleich ein sehr energischer Mann sein kann. Aber nur in dieser Hinsicht sind auch Bismarcks Ansichten von Interesse; als Antwort auf die Frage nach der Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte können sie jedoch nicht gelten. Laut Bismarck machen sich die Geschehnisse von selbst, wir aber können uns das sichern, was durch sie vorbereitet wird. Jeder Akt der „Sicherung“ ist jedoch ebenfalls ein historisches Geschehnis: wodurch unterscheiden sich denn diese Geschehnisse von denen, die sich von selbst machen? In Wirklichkeit ist beinahe jedes historische Geschehen gleichzeitig sowohl die „Sicherung“ der bereits reif gewordenen Früchte der vorhergegangenen Entwicklung für irgend jemand als auch ein Glied in der Kette der Ereignisse, die die Früchte der Zukunft vorbereiten. Wie kann man da die Akte der „Sicherung“ dem natürlichen Gang der Dinge entgegenstellen? Bismarck wollte offenbar sagen, daß die in der Geschichte handelnden Personen und Personengruppen niemals allmächtig waren und es auch nie sein werden. Das unterliegt, natürlich nicht dem geringsten Zweifel. Aber wir möchten dennoch wissen, wovon ihre natürlich bei weitem nicht allmächtige Kraft abhängt; unter welchen Umständen sie zu- und unter welchen sie abnimmt. Diese Fragen beantwortet weder Bismarck noch der ihn zitierende gelehrte Verteidiger der „universalistischen“ Geschichtsauffassung.
Allerdings trifft man bei Lamprecht auch deutlichere Zitate an. [9] Er führt zum Beispiel folgende Worte von Monod, einem der prominentesten Vertreter der modernen Geschichtswissenschaft Frankreichs, an: „Man hat sich in der Geschichte zu sehr daran gewöhnt, sich ganz besonders mit den glänzenden, überraschenden und ephemeren Aeußerungen der menschlichen Tätigkeit, mit den großen Ereignissen und großen Männern zu beschäftigen, anstatt sich auf die großen und langsamen Bewegungen der ökonomischen Bedingungen und sozialen Einrichtungen zu stützen, die den wahrhaft interessanten und unvergänglichen Teil der menschlichen Entwicklung bilden, den Teil, der mit einer gewissen Bestimmtheit analysiert und bis zu einem gewissen Grade auf Gesetze zurückgeführt werden kann. Die wirklich bedeutenden Ereignisse und Persönlichkeiten sind gerade als Anzeichen und Symbole der verschiedenen Momente der gesamten Entwicklung bedeutend. Aber die meisten Ereignisse, die man als historisch bezeichnet, verhalten sich zur wirklichen Geschichte so, wie sich zu der tiefen und beständigen Bewegung von Ebbe und Flut die Wellen verhalten, die auf der Meeresoberfläche entstehen, einen Augenblick lang im leuchtenden Feuer des Lichtes funkeln, dann am sandigen Ufer zerschellen und nichts hinter sich zurücklassen.“ Lamprecht erklärt sich bereit, jedes dieser Worte Monods zu unterschreiben. Bekanntlich lieben es die deutschen Gelehrten nicht, den französischen zuzustimmen, ebensowenig wie die französischen den deutschen. Deshalb hat der belgische Historiker Pirenne in der Revue Historique mit besonderer Genugtuung diese Uebereinstimmung der historischen Auffassungen Monods mit denen Lamprechts hervorgehoben. „Diese Übereinstimmung ist sehr bezeichnend“, erklärte er. „Sie beweist offenbar, daß die Zukunft der neuen historischen Richtung gehört.“
Wir teilen Pirennes angenehme Hoffnungen nicht. Die Zukunft kann nicht unklaren und unbestimmten Auffassungen gehören, und eben derart sind die Auffassungen Monods und insbesondere Lamprechts. Begrüßenswert ist natürlich eine Richtung, die als Hauptaufgabe der Geschichtswissenschaft das Studium der gesellschaftlichen Einrichtungen und ökonomischen Bedingungen erklärt. Wenn diese Richtung in dieser Wissenschaft endgültig Fuß faßt, wird sie weit vorankommen. Aber erstens irrt Pirenne, wenn er diese Richtung für neu hält. Sie entstand in der Geschichtswissenschaft bereits in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Guizot, Mignet, Augustin Thierry und späterhin Tocquevile und andere waren ihre glänzenden und konsequenten Vertreter. Monods und Lamprechts Auffassungen sind lediglich ein schwacher Abklatsch eines alten, aber sehr bemerkenswerten Originals. Zweitens: so tief die Auffassungen Guizots, Mignets und anderer französischer Historiker für ihre Zeit auch waren, so ist vieles in ihnen ungeklärt geblieben. Sie enthalten keine genaue und vollständige Antwort auf die Frage nach der Rolle der Persönlichkeit in. der Geschichte. Die. historische Wissenschaft muß aber tatsächlich diese Frage lösen, wenn es ihren Vertretern gegeben sein soll, sich von der einseitigen Auffassung dieses Gegenstandes zu befreien. Die Zukunft gehört der Schule, die unter anderem die beste Lösung auch dieser Frage geben wird.
Die Auffassungen Guizots, Mignets und anderer Historiker dieser Richtung waren eine Reaktion auf die historischen Auffassungen des 18. Jahrhunderts, bilden deren Antithese. Im. 18. Jahrhundert führten die Menschen, die sich mit der Philosophie der Geschichte beschäftigten, alles auf die bewußte Tätigkeit der Persönlichkeiten zurück. Es gab freilich auch damals Ausnahmen von der allgemeinen Regel: so war das philosophisch-historische Gesichtsfeld von Vico, Montesquieu und Herder viel weiter. Wir sprechen aber nicht von Ausnahmen; die überwiegende Mehrheit der Denker des 18. Jahrhundert hatte von der Geschichte die Auffassung, von der wir eben sprachen. In dieser Hinsicht ist es recht interessant, die historischen Werke, sagen wir Mablys, heute noch einmal zu lesen. Laut Mably hätte Minos ganz allein das sozial-politische Leben und die Sitten der Kreter geschaffen, und Lykurg hätte denselben Dienst Sparta geleistet. Wenn die Spartaner materielle Reichtümer verachteten so haben sie das eben Lykurg zu verdanken, der „sozusagen in die Tiefe der Herzen seiner Mitbürger hinabstieg und dort den Hang zum Reichtum im Keim unterdrückte“ (descendit pour ainsi dire jusque dans le fonds du cœur des citoyens etc.). [10] Und wenn die Spartaner später den ihnen vom weisen Lykurg gewiesenen Weg verließen, so hatte Lysander daran schuld, der die davon überzeugte, daß „die neuen Zeiten und neuen Umstände von ihnen neue Verhaltungsmaßregeln und eine neue Politik verlangen“. [11] Die Untersuchungen, die unter einem solchen Gesichtswinkel abgefaßt waren, hatten mit Wissenschaft sehr wenig gemein und wurden wie Predigten allein der aus ihnen hervorgehenden moralischen „Lehren“ zuliebe geschrieben. Gegen diese Auffassungen wandten sich dann auch die französischen Historiker der Restauration. Nach den erschütternden Ereignissen am Ausgang des 18. Jahrhunderts war es schon absolut unmöglich zu denken, daß die Geschichte das Werk mehr oder weniger hervorragender, mehr oder weniger edler und aufgeklärter Persönlichkeiten sei, die nach eigenem Gutdünken der unaufgeklärten, aber gehorsamen Masse diese oder jene Gefühle und Begriffe einflößen. Eine solche Geschichtsphilosophie empörte außerdem den plebejischen Stolz der Theoretiker der Bourgeoisie. Hier kamen dieselben Gefühle zum Vorschein, die schon im 18. Jahrhundert bei der Entstehung des bürgerlichen Dramas in Erscheinung getreten waren. In seinem Kampf gegen die alten historischen Auffassungen bediente sieh übrigens Thierry derselben Argumente, die von Beaumarchais und anderen gegen diese alte Aesthetik angeführt wurden. [12] Schließlich hatten die Stürme, die Frankreich kurz vorher erlebt hatte, deutlich gezeigt, daß der Gang der historischen Ereignisse bei weitem nicht allein durch die bewußten Handlungen der Menschen bestimmt wird; schon allein dieser Umstand mußte auf den Gedanken bringen, daß diese Ereignisse sich unter dem Einfluß irgendeiner verborgenen Notwendigkeit vollziehen, die – ähnlich wie die Elementargewalten der Natur – blind, aber nach bestimmten unabwendbaren Gesetzen wirkt. Höchst bemerkenswert – obwohl bisher, soweit uns bekannt ist, von niemandem hervorgehoben – ist die Tatsache, daß die neue Auffassung der Geschichte als eines gesetzmäßigen Prozesses am konsequentesten von den französischen Historikern der Epoche der Restauration und gerade in den Werken niedergelegt wurde, die sich mit der französischen Revolution befassen. Dazu gehören, unter anderem, auch die Werke von Mignet. Chateaubriand bezeichnete die neue historische Schule als fatalistisch. Die Aufgaben formulierend, vor die sie den Forscher stellte, schrieb er: „Dieses System verlangt, daß der Historiker über die grausamsten Brutalitäten ohne Empörung berichte, über die höchsten Tugenden ohne Liebe spreche und mit seinem eisigen Blick im Leben der Gesellschaft nur die Aeußerung unabwendbarer Gesetze sehe, kraft deren jede Erscheinung sich gerade so vollzieht, wie sie sich unvermeidlich vollziehen mußte.“ [13] Das ist natürlich falsch. Die neue Schule verlangt vom Historiker keineswegs Leidenschaftslosigkeit. Augustin Thierry hat sogar direkt erklärt, daß politische Leidenschaften, die den Verstand des Forschers schärfen, als mächtiges Mittel zur Entdeckung der Wahrheit dienen können. [14] Und es genügt, auch nur flüchtig die historischen Werke von Guizot, Thierry oder Mignet kennenzulernen, um zu sehen, daß sie sehr heiß mit der Bourgeoisie sympathisierten, sowohl in ihrem Kampfe gegen die weltliche und geistliche Aristokratie, als auch in ihrem Bestreben, die Forderungen des aufkommenden Proletariats zu unterdrücken. Unbestreitbar ist aber folgendes: die neue historische Schule entstand in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts, d.h. zu einer Zeit, wo die Aristokratie bereits von der Bourgeoisie besiegt war, obwohl sie sich noch bemühte, einige ihrer alten Vorrechte wiederherzustellen. Das stolze Bewußtsein des Sieges ihrer Klasse zeigte sich in allen Betrachtungen der Historiker der neuen Schule. Da sich die Bourgeoisie aber niemals durch ritterliche Gefühlsfeinheit auszeichnete, so ließ sich mitunter in den Betrachtungen ihrer gelehrten Vertreter eine grausame Einstellung zu den Besiegten vernehmen. „Le plus fort absorbe le plus faible“, sagt Guizot in einer seiner polemischen Broschüren, „et il est de droit“. („Der Stärkere verschlingt den Schwächeren, und er hat ein Recht dazu.“) Nicht weniger grausam ist sein Verhältnis zur Arbeiterklasse. Diese Grausamkeit, die zeitweise die Form ruhiger Leidenschaftslosigkeit annimmt, hat auch Chateaubriand irregeführt. Außerdem war es damals nicht ganz klar, was unter Geetzmäßigkeit der historischen Bewegung zu verstehen sei. Die neue Schule konnte endlich gerade deswegen als fatalistisch erscheinen, weil sie, bestrebt, sich fest auf den Standpunkt der Gesetzmäßigkeit zu stellen, sich wenig mit den großen historischen Persönlichkeiten befaßte. [15] Damit konnten sich Leute, die in den historischen Ideen des 18. Jahrhunderts erzogen wurden, kaum abfinden. Von allen Seiten hagelte Einwände gegen die neuen Historiker, und damals entstand der Streit, der, wie wir gesehen haben, auch bis auf den heutigen Tag noch nicht zu Ende ist.
Im Januar 1826 schrieb Sainte-Beuve im Globe aus Anlaß des Erscheinens des fünften und des sechsten Bandes der Geschichte der französischen Revolution von Mignet: „In jedem gegebenen Augenblick vermag der Mensch durch einen plötzlichen Entschluß seines Willens in den Gang der Geschehnisse eine neue, unerwartete und veränderliche Kraft einzuführen, die fähig ist, ihm eine andere Richtung zu geben, die selbst aber infolge ihrer Veränderlichkeit sich nicht messen läßt.“ Man soll nicht glauben, daß Sainte-Beuve annahm, die „plötzlichen Entschlüsse“ des menschlichen Willens träten ohne jede Ursache auf. Nein, das wäre viel zu naiv. Er behauptete lediglich, daß die geistigen und moralischen Eigenschaften des Menschen, der eine mehr oder minder wichtige Rolle im gesellschaftlichen Leben spielt, daß seine Talente, Kenntnisse, seine Entschlossenheit oder Unentschlossenheit, seine Tapferkeit oder Feigheit usw. nicht ohne sichtbaren Einfluß auf den Gang und Ausgang der Geschehnisse bleiben können daß diese Eigenschaften sich indes nicht allein aus den allgemeinen Entwicklungsgesetzen des Volkes erklären, sondern sich stets und in hohem Grade unter der Wirkung dessen bilden, was man als Zufälligkeiten des Privatlebens bezeichnen könnte. Wir wollen einige Beispiele anführen, um diesen, wie es übrigens scheint, ohnehin klaren Gedanken klarzulegen.
Im österreichischen Erbfolgekriege erfochten die französischen Truppen einige glänzende Siege, und Frankreich konnte allem Anschein nach von Österreich die Überlassung eines ziemlich großen Gebiets des heutigen Belgien erzwingen; Ludwig XV. forderte aber diese Gebietsabtretungen nicht, da er, seinen Worten nach, als König, und nicht als Kaufmann Krieg führte, und der Aachener Friede brachte den Franzosen nichts ein. Hätte aber Ludwig XV. einen anderen Charakter gehabt, so würde vielleicht das Territorium Fränkreichs einen Zuwachs erfahren haben, so daß der Gang seiner ökonomischen und politischen Entwicklung ein etwas anderer geworden wäre.
Den Siebenjährigen Krieg führte Frankreich bekanntlich schon im Bunde mit Österreich. Man sagt, daß diesem Bündnis unter starker Mitwirkung der Madame Pompadour geschlossen wurde, die sich dadurch sehr geschmeichelt fühlte, daß die stolze Maria Theresia sie in einem an sie gerichteten Brief ihre Base oder ihre liebe Freundin (bien bonne amie) genannt hatte. Man könnte daher sagen: hätte Ludwig XV. strengere Sitten gehabt oder wäre er weniger dem Einfluß von Favoritinnen zugänglich gewesen, so hätte Madame Pompadour nicht diesen Einfluß auf den Gang der Ereignisse gewonnen, und sie hätten eine andere Wendung genommen.
Weiter. Der Siebenjährige Krieg verlief für Frankreich unglücklich: seine Generale erlitten einige höchst schmähliche Niederlagen. Sie benahmen sich überhaupt mehr als sonderbar. Richelieu beschäftigte sich mit Plünderungen, während Soubise und Broglie sich ständig gegenseitig störten. Broglie griff zum Beispiel den Gegner bei Philinghausen an, Soubise hörte die Kanonenschüsse, kam aber seinem Kameraden nicht zu Hilfe – wie es ausgemacht war und was er zweifellos hätte tun müssen –, und so sah sich Broglie zum Rückzug gezwungen. [16] Die Gönnerin dieses höchst unbegabten Soubise war dieselbe Madame Pompadour. Und man kann wiederum sagen: wäre Ludwig XV. weniger sinnlich veranlagt gewesen, oder hätte seine Favoritin sich nicht in die Politik eingemischt, so hätten die Ereignisse einen für Frankreich weniger ungünstigen Verlauf genommen.
Die französischen Historiker behaupten, daß Frankreich überhaupt nicht auf dem europäischen Kontinent hätte Krieg führen, sondern eher alle seine Bemühungen auf See konzentrieren sollen, um seine Kolonien gegen Englands Anschläge zu behaupten. Wenn Frankreich anders gehandelt hat, so sei daran wiederum die unvermeidliche Madame Pompadour schuld, die „ihrer lieben Freundin“ Maria Theresia gefällig sein wollte. Infolge des Siebenjährigen Krieges verlor Frankreich seine besten Kolonien, was zweifellos die Entwicklung seiner ökonomischen Lage stark beeinflußt hat. Die weibliche Eitelkeit tritt hier in der Rolle eines einflußreichen „Faktors“ der ökonomischen Entwicklung vor uns.
Bedarf es noch anderer Beispiele? Wir wollen noch ein, vielleicht das auffallendste, Beispiel anführen. Während dieses selben Siebenjährigen Krieges, im August 1761, vereinigten sich die österreichischen Truppen in Schlesien mit den russischen und umzingelten Friedrich bei Striegau. Friedrichs Lage war verzweifelt, aber die Verbündeten zögerten mit der Offensive, und der General Buturlin, der 20 Tage lang vor dem Feinde gestanden hatte, räumte Schlesien und ließ zur Unterstützung des österreichischen Generals Laudon nur einen Teil seiner Kräfte zurück. Laudon nahm dann Schweidnitz ein, in dessen Nähe Friedrich stand, aber dieser Erfolg war von keiner großen Bedeutung. Wie aber, wenn Buturlin einen entschlosseneren Charakter besessen hätte? wenn die Verbündeten Friedrich angegriffen hätten, ohne ihm Zeit zu lassen, sich in seinem Lager zu verschanzen? Es ist möglich, daß sie ihn aufs Haupt geschlagen hätten und er gezwungen gewesen wäre, sich allen Forderungen der Sieger zu unterwerfen. Und das geschah knapp einige Monate, bevor ein neuer Zufall, der Tod der Kaiserin Elisabeth, mit einem Schlag die Lage der Dinge stark in einem für Friedrich günstigen Sinne änderte. Es fragt sich, was geschehen wäre, wenn Buturlin mehr Entschlußkraft besessen oder wenn ein Mann wie Suworow seinen Posten bekleidet hätte?
Die Auffassung der „Fatalisten“ unter den Historikern analysierend, brachte Sainte-Beuve auch noch ein anderes Argument vor, das ebenfalls zu berücksichtigen ist. In dem von uns zitierten Artikel über Mignets Geschichte der französischen Revolution suchte er den Nachweis zu führen, daß der Gang und der Ausgang der französischen Revolution nicht nur durch die allgemeinen Ursachen bedingt waren, die sie hervorgerufen hatten, und nicht nur durch die Leidenschaften, die sie ihrerseits auslöste, sondern auch durch eine Unmenge geringfügiger Erscheinungen, die sich dem Auge des Faschers entziehen und selbst gar nicht zu den eigentlich sogenannten gesellschaftlichen Erscheinungen gehören. „Während diese“ (durch die gesellschaftlichen Erscheinungen hervorgerufenen) „Leidenschaften am Werk waren“, schrieb er, „waren die physischen und physiologischen Kräfte der Natur ebenfalls nicht untätig: der Stein folgte nach wie vor der Gravitation; das Blut hörte nicht auf, in den Adern zu zirkulieren. Hätte sich denn der Verlauf der Ereignisse nicht geändert, wenn, sagen wir, Mirabeau nicht am hitzigen Fieber gestorben Wäre; wenn ein zufällig heruntergefallener Ziegelstein Robespierre erschlagen hätte, oder er einem Schlaganfall erlegen wäre; wenn eine Kugel Bonaparte niedergestreckt hätte? Werden Sie etwa den Mut haben, zu behaupten, daß der Ausgang der Ereignisse derselbe gewesen wäre? Bei einer genügend großen Anzahl von Zufälligkeiten, ähnlich den von mir vorausgesetzten, hätte der Ausgang vollkommen entgegengesetzt dem sein können, der Ihrer Meinung nach unvermeidlich war. Es ist aber mein gutes Recht, solche Zufälligkeiten vorauszusetzen, denn sie werden weder durch die allgemeinen Ursachen der Revolution, noch durch die von den allgemeinen Ursachen erzeugten Leidenschaften ausgeschlossen.“ Er führt ferner die bekannte Bemerkung an, daß die Geschichte einen ganz anderen Verlauf genonimen hätte, wenn die Nase der Kleopatra etwas kürzer gewesen wäre, und gibt zum Abschluß zu, es ließe sich zugunsten der Auffassung Mignets sehr viel sagen, und weist noch einmal darauf hin, worin der Irrtum dieses Autors bestehe. Mignet schreibe allein der Wirkung der allgemeinen Ursachen diejenigen Resultate zu, deren Eintreffen durch eine Unmenge anderer, geringfügiger, dunkler und unfaßbarer Ursachen gefördert wurde; sein strenger Verstand sträube sich gewissermaßen dagegen, die Existenz dessen anzuerkennen, worin er keine Ordnung und Gesetzmäßigkeit sehe.
1. Den Franzosen des 17. Jahrhunderts hätte eine solche Kombination von Materialismus und religiöser Dogmatik mehr verwundert In England kam sie niemandem sonderbar vor. Priestley selbst war ein sehr religiöser Mann. Jedes Land hat seine Sitten.
2. Siehe russ. Uebersetzung seiner Geschichte der französischen Literatur, Bd.I, S.511.
3. Nach der Lehre Calvins sind bekanntlich alle Handlungen der Menschen von Gott vorausbestimmt. Praedesinationem vocamur aeternum Dei decretum, quo apud so constitutum habuit, quid de unoquoque homine fieri valet. [Als Vorherbestimmung bezeichnen wir das von Gott von Urewigkeit verordnet, durch das er selbst bestimmt hat, was mit jedem Menschen geschehen soll. – Der Red.] (Institutio, lib.III, cap.5.) Dieser Lehre infolge erwählt Gott einige seiner Diener zur Befreiung der zu Unrecht unterdrückten Völker. Ein solcher Diener war Moses, der Befreier des Volkes Israel. Es geht aus allem hervor, daß such Cromwell mich für ein solches Werkzeug Gottes hielt; er bezeichnete stets, wahrscheinlich Infolge dieser vollkommen aufrichtigen Ueberzeugung, seine Handlungen als Frucht des göttlichen Willens. Alle seine Handlungen hatten für ihn von vorne herein den Anstrich der Notwendigkeit. Das hat ihn nicht nur nicht gehindert, von Sieg zu Sieg zu streben, sondern hat seinem Streben unbeugsam. Kraft verlieben.
4. „C’est comme si l’aiguille aimantée prenait plaisir de se tourner vers le nord car elle croirait tourner indépendamment de quelque autre cause, ne s’apercevant pas des mouvements insensibles da la matière magnétique.“ [Es ist, als ob die Magnetnadel Vergnügen hätte, sich gegen Norden zu bewegen, da sie glaubt, ihre Bewegung sei von jeder anderen Ursache unabhängig, und die nicht wahrnehmbaren Bewegungen des magnetischen Stoffes nicht merkt.“ – Der Red.] Leibniz, Théodicée, Lausanne, MDCCIX, S.598.
5. Wir wollen noch ein Beispiel anführen, das anschaulich zeigt, wie stark Menschen dieser Kategorie fühlen. Renée, Herzogin von Ferrara (aus dem Hause Ludwigs XII.), spricht in einem Brief an ihren Lehrer Calvin über sich selbst: „Nein, ich habe nicht vergessen, was Ihr mir geschrieben habt: daß David einen tödlichen Haß gegen die Feinde Gottes hegte; und ich selber werde niemals anders handeln, denn wüßte ich, daß mein königlicher Vater, meine königliche Mutter und mein verstorbener Herr Gemahl (feu monsieur mon man) sowie alle meine Kinder von Gott verdammt wären, so würde ich mich in tödlichem Haß von ihnen abwenden und würde wünschen, daß sie in die Hölle fahren“ usw. Welch furchtbare, allzerstörende Energie vermochten die Menschen zu entwickeln, die von solchen Gefühlen beseelt waren! Aber gerade diese Menschen leugneten die Freiheit des Willens.
6. „Die Notwendigkeit wird nicht dadurch zur Freiheit, daß sie verschwindet, sondern daß nur Ihre noch innere Identität manifestiert wird.“ Hegel, Wissenschaft der Logik, Nürnberg 1816, Teil II, S.281.
7. Derselbe alte Hegel sagt ausgezeichnet an einer anderen Stelle: „Die Freiheit ist dies, Nichts zu wollen als sich.“ Werke, Bd.12.
8. Im Streben zur Synthese hat uns derselbe Herr Karejew überholt. Leider ist er aber über die Erkenntnis der Wahrheit nicht hinausgekommen, daß der Mensch aus Seele und Leib besteht.
9. Ohne die anderen philosophisch-historischen Aufsätze von Lamprecht zu streifen, hatten wir seinen Artikel Der Ausgang des geschichtswissenschaftlichen Kampfes Im Auge und werden auch weiterhin diesen Artikel im Auge haben. (Die Zukunft, Nr.41. 1897.)
10. Siehe Oeuvres complètes de l’abbé de Mably, London 1783, 3. Band, S.3, 14-22, 24 und 192.
11. Ebenda, S.10.
12. Vgl. den ersten der Briefe über die Geschichte Frankreichs mit dem Essai sur 1e genre dramatique sérieux im ersten Band der Oeuvres complètes von Beaumarchais.
13. Oeuvres complètes de Chateaubriand, Paris 1840, VII, S.58. Wir empfehlen auch die darauffolgende Seite der Aufmerksamkeit des Lesers; man könnte glauben, Herr Nik. Michailowskl hätte sie geschrieben.
14. Siehe Considérations sur l’histoire de France, Beilage zu Recits des temps Mérovingiens, Paris 1840, S.72.
15. In einem Aufsatz, der der 3. Auflage der Geschichte der französischen Revolution von Mignet gewidmet ist, hat Sainte-Beuve das Verhältnis dieseu Historikers zu den Persönlichkeiten folgendermaßen charakterisiert: „A la vue des vastes et profundes émotions populaires qu’il avait à d’écrire, au spectacle de l’impuissance et du néant ou tombent les plus sublimes génies, les vertus les plus saintes, alors que les masses se soulèvent, il s’est pris de pitié pour les individus, n’a vu en eux pris isolément que faiblesse et ne leur a reconnu d’action efficace, que dans leur union avec la multitude.“ [„Angesichts der großen und tiefen Volkswallungen, die er zu beschreiben hatte, beim Anblick der Ohnmacht und der Niedrigkeit, der die erhabensten Geister, die heiligsten Tugenden anheimfallen, sobald die Massen sich erheben, empfand er Mitleid mit den Einzelpersonen. sah in ihnen – einzeln genommen – nichts als Schwäche und erkannte ihnen nur in ihrer Vereinigung mit der Menge wirksame Aktionsfähigkeit zu.“ – Der Red.]
16. Andere behaupten übrigens, daß die Schuld nicht Soubise, sondern Broglie trifft, der auf seinen Kameraden nicht warten wollte, da er mit ihm den Ruhm des Sieges nicht teilen wollte. Für uns Ist das ohne Belang, da die Sache dadurch nicht geändert wird.
1*. Kablitz: Pseudonym: Jusow (1848-1893) – russischer Publizist und Politiker der Volkstümlerrichtung.
2*. Gemeint ist N. Michailowski (1842-1904), der bekannte Ideologe der Volkstümlerrtichtung und Vertreter der sogenannten subjektiven Methode in der Soziologie.
3*. Bjelinski (1811-1848) – berühmter russischer Kritiker und Publizist.
4*. Anspielung auf die Novelle von Turgenjew, Hamlet des Schtschigrowschen Landkreises.
5*. „Schüler“ nannten sich aus Zensurgründen die russischen Marxisten in der russischen legalen Literatur am Ausgang des vorigen Jahrhunderts; die Namen Marx und Engels, die Worte Marxismus, Sozialismus, Revolution usw. wurden vermieden.
6*. Gemeint ist die Zeitschrift Nautschnoje Obosrenje („Wissenschaftliche Rundschau“), in der diese Schrift 1898 zum erstenmal – unter dem Pseudonym A. Kirsanow – erschienen ist.
7*. Held der Erzählung Gogols Der Mantel.
8*. Größe, die man vernachlässigen kann.
9*. Es ist schrecklich zu sagen.
Zuletzt aktualiziert am 9.8.2008