Georgi Plechanow


N.G. Tschernischewsky



III

Die sozialistischen Ansichten Tschernischewsky’s werden wir weiter unten des Näheren zu besprechen haben. Hier wollen wir dieselben nur insofern berühren, als sie mit seinen politischen Ansichten im Zusammenhang stehen.

In seinem Studium der westeuropäischen sozialen Verhältnisse kam Tschernischewsky, man kann sagen, unwillkürlich zu demselben Resultate, das später die Grundlage des Programms der Internationale wurde, und das da lautet: die Befreiung der Arbeiter muß das Werk der Arbeiter selbst sein. Nichtsdestoweniger herrscht in den Ansichten unseres Verfassers über die historischen Aufgaben der Arbeiterklasse eine solche Unklarheit, die dem heutigen Leser seltsam erscheinen kann. Tschernischewsky unterscheidet nicht zwischen dem Proletariat und der gesamten Masse des leidenden und unterdrückten Volkes. Für die Benennung der Arbeiterklasse, die sich aus eigener Kraft befreien muß, bedient er sich eines Ausdrucks, der sehr bezeichnend für einen russischen Schriftsteller ist und der zugleich die ganze Unklarheit seiner Vorstellung von der Rolle des Proletariats in der westeuropäischen Geschichte bekundet. Er nennt die Arbeiterklasse Westeuropas das gemeine Volk, und denkt über deren Bedürfnisse und Aufgaben fast genau ebenso, wie etwa ein gebildeter und humaner Russe über die Bedürfnisse und Aufgaben des russischen „gemeinen Volkes“ von damals gedacht haben mag. In einem seiner Aufsätze, die übrigens in der Hitze der durch die Frage der Bauernbefreiung hervorgerufenen Polemik geschrieben waren, versteigt er sich sogar zu der seltsamen Behauptung, daß die politische Freiheit für die Volksmasse von gar keiner Bedeutung sei, und daß daher die Vertreter der Volksinteressen sich der Politik gegenüber gleichgiltig verhalten könnten. Die politischen Ansichten der Liberalen einerseits und der „Demokraten“ [1] anderseits formulirt er, wie folgt: „Bei den Liberalen und den Demokraten sind die hauptsächlichen Wünsche, die Grundmotive wesentlich verschieden. Die Demokraten beabsichtigen das Uebergewicht der höheren Klassen über die niederen im Staatsmechanismus möglichst aufzuheben: sie wollen einerseits die Macht und den Reichtum der höheren Klassen vermindern, anderseits den niederen Klassen mehr Einfluß und Wohlhabenheit verschaffen. Auf welchem Wege aber die Gesetze in diesem Sinne zu ändern und die neue Gesellschaftsordnung zu stützen ist, – das bleibt ihnen beinahe ganz gleich. [2] Die Liberalen dagegen werden nie zugeben, daß die niederen Klassen das Uebergewicht in der Gesellschaft bekommen, weil diese Klassen in Folge ihrer Unwissenheit und Armuth sich gleichgiltig gerade gegenüber den der liberalen Partei am nächsten liegenden Interessen verhalten, nämlich gegenüber dem Rechte der freien Meinungsäußerung und der konstitutionellen Ordnung. Für einen Demokraten steht Sibirien, wo das gemeine Volk im Wohlstand lebt, weit höher als England, wo der größte Theil des Volkes bittere Noth leidet. Von allen politischen Verfassungen ist ein Demokrat nur einer einzigen unversöhnlich feind – der Aristokratie (und dem Absolutismus? – G.P.); ein Liberaler dagegen meint fast immer, die Gesellschaft könne nur bei einem gewissen Grade von Aristokratismus eine liberale Verfassung erhalten. Deshalb hegen die Liberalen für die Demokraten einen tödtlichen Haß, und sie behaupten, die Demokratie führe zum Despotismus und sei der Freiheit verderblich.“ [3]

Der Aufsatz, dem wir diese Ausführungen entnehmen, wurde, wie bereits gesagt, in der Hitze der Polemik über die Bauernfrage geschrieben. Es ist nun wohl möglich, daß Tschernischewsky ihn sozusagen ad usum delphini schrieb, indem er der russischen Regierung zeigen wollte, daß sie die russischen Demokraten nicht zu fürchten wollte, daß sie die russischen Demokraten nicht zu fürchten habe, deren ganze Aufmerksamkeit wirklich eine Zeit lang auf die ökonomische Lage der zu befreienden Bauern konzentrirt war. Später äußerte Tschernischewsky schon eine andere Ansicht über die Bedeutung der politischen Freiheit für den Volkswohlstand. Dennoch aber bleibt die oben angeführte Meinung eine sehr bezeichnende Thatsache in der Geschichte des russischen politischen Bewußtseins. Sie mußte zweifellos ihren Einfluß auf die heranwachsende russische Demokratie üben, welche hart bis zum Ende der siebziger Jahre immer noch eine tiefe Verachtung für die „Politik“ hegte. Natürlich erklärt sich dies nicht allein aus dem Einfluß Tschernischewsky’s – viel hat in dieser Beziehung Bakunin’s anarchistische Propaganda geleistet. Aber das Schwankende und Unbestimmte in den politischen Anschauungen des geliebten Lehrers der russischen Jugend hat gewiß auch ihr Theil beigetragen zu den späteren Programm-Irrfahrten der russischen Revolutionäre. Daß Tschernischewsky’s Ansichten über die politischen Aufgaben des westeuropäischen Proletariats sich nie durch große Klarheit auszeichneten, beweist am besten seine Aeußerung über die Bedeutung des allgemeinen Wahlrechts. Diese Aeußerung entnehmen wir seinem Artikel Die Juli-Monarchie, der schon 1860 geschrieben ward, d.h. zu der Zeit, wo er, bereits endgiltig enttäuscht über das Verfahren der Regierung in der Bauernfrage, nichts mehr ad usum delphini schreiben mochte. In jenem Artikel wendet er sich unter Anderem an die „besten Männer“, die dem allgemeinen Wahlrecht keine Bedeutung mehr beilegten, nachdem sie gesehen hatten, daß von dessen Einführung in Frankreich nur Reaktionäre und Obskuranten profitirten. Er beruhigt sie nun mit der Erwägung, daß die Reaktionäre und Obskuranten die ihnen günstigen Resultate des allgemeinen Wahlrechts erst nach dem Niedermetzeln der Juni-Insurgenten haben erlangen können. Er sagt ihnen nicht, daß das allgemeine Stimmrecht unbedingt für die politische Erziehung der Arbeiterklasse nothwendig sei. Er verweist einfach auf den Stumpfsinn der Bauern: „Das direkte Resultat des Dekrets (betreffend Einführung des genannten Rechts in Frankreich) widersprach den Erwartungen aller ehrlichen Franzosen. Was hat dies aber zu sagen? War denn dieses Dekret von gar keinem Nutzen für die französische Gesellschaft? Jetzt sah man ein, daß die Unwissenheit der Landleute Frankreichs Verderben ist. So lange sie nicht stimmberechtigt waren, kümmerte sich Niemand um dieses furchtbare Uebel. Niemand beachtete, daß allen Ereignissen der französischen Geschichte stets die Unwissenheit der Landleute zu Grunde lag. Es war eine geheime Krankheit, die ungeheilt blieb; und doch erschöpfte sie den ganzen Organismus. Als aber die Landleute das Wahlrecht erhielten, da bemerkte man endlich, woran die Sache lag. Man erkannte, daß nichts wahrhaft Nützliches in Frankreich durchgeführt werden kann, so lange nicht die ehrlichen Männer die Erziehung der Landleute in die Hand nehmen werden. Jetzt wird es gethan, und die Anstrengungen bleiben doch nicht ganz fruchtlos. Früher oder später werden die Landleute gescheidter werden, und dann wird der Fortschritt in Frankreich leichter von statten gehen. Seien wir also ruhig: mag auch das allgemeine Wahlrecht bei der Wiederherstellung der gesetzlichen Ordnung in Frankreich sich nicht behaupten können, mögen auch die durch das betreffende Dekret gezeitigten bitteren Früchte die öffentliche Meinung veranlassen, vorderhand das allgemeine Wahlrecht zu verwerfen, – jenes Dekret hat denn doch bei großem direkten Schaden indirekt einen unvergleichlich höheren Nutzen mit sich gebracht.“

Es ist hier, wie wir sehen, weder vom Klassenkampf in der französischen Gesellschaft, noch von der revolutionären Rolle des französischen Proletariats die Rede. Alle Hoffnungen Tschernischewsky’s beruhen auf etwaigen ehrlichen Män-nern, die die Erziehung der Landleute in die Hand nehmen werden, wodurch „der Fortschritt in Frankreich leichter von statten gehen wird“. Heutzutage klingt das sehr sonderbar. Aber man muß auch da im Auge behalten, daß das Proletariat für Tschernischewsky das „gemeine Volk“ war, welches sich wenig durch seine Eigenschaften, Bestrebungen und Aufgaben von andern Schichten der arbeitenden Bevölkerung unterschied. Wenn er auch in der eigenthümlichen ökonomischen Lage des westeuropäischen Proletariats etwas Revolutionäres erblickte, so doch nur etwa in dem Sinne, daß die ökonomische Noth die Unzufriedenheit der Arbeiter hervorrufe. Da aber auch die übrigen Schichten der arbeitenden Bevölkerung keine geringe Noth zu leiden haben, so schien ihm die revolutionäre Gesinnung in ihren Kreisen ebenso natürlich zu sein, wie in den Kreisen des Proletariats.

In den Augen der modernen Sozialisten sind die revolutionären Bewegungen der Arbeiterklasse das Resultat des Klassenkampfes in einer auf der Großindustrie beruhenden Gesellschaft. Der moderne Sozialist erblickt die Gewähr für den Sieg seiner Sache in der weiteren Entwicklung eben dieser Industrie. Nicht so dachte darüber Tschernischewsky. Seine Anschauungen darüber haben eine starke unzweideutig idealistische Färbung. In seiner Rezension des Bruno Hildebrandt’schen Buches Die Nationalökonomie der Gegenwart und Zukunft äußert er sich über diesen Gegenstand, wie folgt: „Das, was wahrhaft menschlich, wahrhaft vernünftig ist, wird bei allen Völkern Anklang finden ... Die Vernunft bleibt eine und dieselbe unter allen Breiten und Längen, bei allen, ob schwarz, ob weißhäutigen Menschen. Allerdings leben in den amerikanischen Steppen andere Menschen als in den russischen Dörfern, und auf den Sandwichs-Inseln wohnen Leute, die wenig Aehnlichkeit mit den englischen Gentlemen haben; aber der russische Bauer, der Wilde, der hochehrwürdige römische Kardinal, sie alle, meinen wir, wollen doch in gleicher Weise essen; um aber essen zu können, wollen sie alle etwas haben. Das Streben nach Verbesserung der eigenen Lage ist eine wesentliche Eigenschaft der ganzen Menschheit. Wären die neuen Theorien der Menschennatur zuwider, so würden sie nicht die Grenzen des Landes und den Kreis der Menschen überschritten haben, denen es einfiel, sie zu erfinden, und es würden nicht alle Völker der gebildeten Welt diesen Theorien zuneigen.“ [4] Es ist kaum nöthig, zu wiederholen, daß die Völker der gebildeten Welt dem Sozialismus nicht deshalb zuneigen, weil er der „Menschennatur“ entspricht (dies würde noch gar nichts zu bedeuten haben), sondern einzig deshalb, weil er der Natur des ökonomischen Zustandes der jetzigen zivilisirten Menschheit entspricht.

Die für Tschernischewsky’s Entwicklung entscheidenden Jahre fallen gerade in die Zeit, wo das europäische Proletariat, nach der Revolution von 1848 niedergestampft, kein politisches Lebenszeichen von sich gab. Das Proletariat aus der Ferne beobachtend und außer Stand gesetzt, dessen Bewegungen in der vorhergehenden Epoche durch persönliche Beobachtungen kennen zu lernen, hatte Tschernischewsky natürlich keine Veranlassung, sich in die historische Rolle desselben hineinzudenken. Wenn er auch prinzipiell anerkannte, daß das Proletariat sich aus eigener Kraft befreien muß, so neigte er doch mitunter ungemein befremdenden Plänen zur Hebung seiner Lage zu. Wir haben dabei einen Artikel im Auge, der in dem Maiheft des Sowremennik für 1861, in dem Abschnitt für ausländische Literatur abgedruckt war. Sehr möglich, ja wahrscheinlich, daß Tschernischew-sky persönlich diesen Artikel nicht geschrieben hat. Da aber dieser ökonomische Fragen behandelt, und im Sowremennik alles, was nur irgendwie ökonomische Fragen berührte, durch Tschernischewsky’s Hände ging, so hätte er natürlich nicht gedruckt werden können, wenn er den Anschauungen unseres Verfassers wider-sprechen würde. Jedenfalls muß dieser Artikel als sehr bezeichnend für die Anschauungen des Kreises des Sowremennik über die soziale Frage betrachtet werden. Der Aufsatz beginnt mit der sehr richtigen Bemerkung, daß das Proletariat eine ausschließlich der neuesten Geschichte eigenthümliche Erscheinung sei. „Erst in diesem Jahrhundert erschien es (das Proletariat) als ein bewußtes selbständiges Ganzes. Vor dem neunzehnten Jahrhundert gab es vielleicht mehr öffentlicher Hilfe bedürftige Arme als jetzt, aber von einem Proletariat konnte nicht die Rede sein. Dieses ist die Frucht der neuesten Geschichte.“ Weiter bemerkt der Verfasser sehr richtig, daß die industrielle Frauenarbeit die Emanzipation der Frau innerhalb der Familie verbürge. Jeder, der das liest, könnte glauben, daß er es hier mit einem Mann zu thun hat, der ganz auf dem Standpunkt des modernen Sozialismus steht. Man wird aber sofort enttäuscht, sobald der Verfasser auf die praktischen Mittel zur Hebung der Lage des Proletariats zu sprechen kommt. Bei Besprechung der Lage der Lyoner Seidenweber will er nämlich diese durch eine „Dezentralisation der Produktion, durch Errichtung von Werkstätten außerhalb der Stadt, durch Verbindung der Weberarbeit mit der Landwirthschaft retten. Eine solche Verbindung, meint er, werde den Wohlstand des Arbeiters bedeutend heben. Eine andere Quelle für die Hebung des Wohlstandes der Weber sieht er in der Billigkeit der Rohmaterialen in den Dörfern. Hier seine eigenen Worte: „Der Anfang der Befreiung des Lyoner Arbeiters von der Tyrannei des Patrons ist die Gründung einer eigenen Werkstätte außerhalb der Stadt. Wie aber dies durchführen? Woher kriegt er das nöthige Geld? Auf Meister und Fabrikanten kann man nur in Ausnahmsfällen rechnen, und daher muß also der Staat seinen Beistand, sein Geld hergeben. Nur wenn die Regierung dem Lyoner Proletarier Kredit giebt, kann dieser sich von der Ausbeuthung seiner Arbeit durch den Kapitalisten befrei-en und sich auf eigene Füße stellen.“ Es sei aber zu befürchten, daß die Arbeiter nicht auf das Land würden ziehen wollen: „Das Stadtleben bietet vielen Arbeitern angenehme Seiten, die sie im Landleben nicht finden werden ... Das ist aber ein vorübergehendes Uebel. Man darf natürlich nicht erwarten, daß alle Arbeiter auf einmal aus Lyon in die umliegenden Ortschaften übersiedeln werden; doch hat man auch keinen Grund, daran zu zweifeln, daß der Nutzen einer solchen Uebersiedelung den Arbeitern mehr und mehr zum Bewußtsein kommen wird. Einige gelungene Versuche – und der Arbeiter wird den Ausweg aus seiner gegenwärtigen traurigen Lage schon erblicken. Für den Anfang würde es genügen, kleine Wirthschaften und Werkstätten für einzelne Familien zu errichten; später würde es nicht mehr schwer fallen, zur Gründung von Genossenschaften und zur Errichtung von Fabriken mit mechanischen Motoren auf gemeinsame Rechnung zu schreiten.“

In Tschernischewsky’s Zeitschrift macht dieser Vorschlag einen unerquicklichen Eindruck. Man sieht, daß weder der Verfasser jenes Artikels, noch die Redaktion der Zeitschrift sich darüber klar waren, auf welche Weise sich die Arbeiter durch eigene Kraft befreien werden. Für die modernen Sozialdemokraten ist die Sache ganz klar: die ökonomische Befreiung des Proletariats wird eine Folge seiner politischen Herrschaft sein, wenn es sich der politischen Gewalt bemächtigt hat. Der Verfasser jenes Vorschlags zur ökonomischen Befreiung der Lyoner Weber weist dagegen der Regierung Napoleon’s III. die Hauptrolle zu. Diese Regierung sollte die Initiative ergreifen, um die Arbeiter nach und nach an den Gedanken einer Uebersiedelung in die Dörfer zu gewöhnen. Die Arbeiter hätten also ein passives Objekt der wohlthätigen Einwirkung der bonapartistischen Regierung bilden sollen. Dies widerspricht grundsätzlich den Anschauungen der Sozialdemokraten, – von der gänzlich ungenügenden ökonomischen Seite des Vorschlags schon gar nicht zu sprechen. Freilich war aber das Erscheinen solcher Vorschläge im Sowremennik, wenn man will, begreiflich und natürlich. Wir haben ja schon gesehen, wie Tschernischewsky über das allgemeine Wahlrecht dachte: er betrachtete es nicht als eine nothwendige Waffe des Proletariats in seinem Kampfe gegen die Bourgeoisie. Wer aber sich über die Bedeutung des allgemeinen Wahlrechts in diesem Kampfe nicht klar ist, der ist auch über alle politischen Aufgaben desselben überhaupt im Unklaren, dem fehlt auch die Einsicht in die Nothwendigkeit der Vereinigung des Proletariats zu einer besonderen politischen Partei behufs Eroberung der politischen Macht. Und daher wird ein solcher, wenn auch noch so ehrlicher Freund der Arbeiterklasse nothwendig immer schwanken, sobald es sich um praktische Maßnahmen zur Hebung der Lage der Arbeiter handeln wird. Er wird von ganzem Herzen mit ihrer revolutionären Bewegung sympathisiren; in friedlichen Zeiten wird er aber keinen Anstand nehmen, die Sache der Hebung ihrer Lage den Händen der gerade bestehenden Regierungen anzuvertrauen: da er sich über die politischen Aufgaben der Arbeiter nicht klar ist, so kann er es auch nicht sein über die Bedeutung ihrer politischen Selbständigkeit. Ueberhaupt kann man sagen, daß das Verständniß für die modernen Aufgaben des Proletariats sich am deutlichsten in den Ansichten über die Taktik dieser Klasse in ruhigen, friedlichen Zeiten offenbart. Um mit einem revolutionären Ausbruch von Seiten der Arbeiter zu sympathisiren, braucht man nur an der Aufrechterhaltung der bürgerlichen Ordnung nicht interessirt zu sein. Um sich aber einen klaren Begriff zu bilden über die Taktik, die die Arbeiter befolgen müssen zu einer Zeit, wo es keine Revolutionen giebt und keine in absehbarer Zeit zu erwarten sind, – muß man alle Aufgaben, alle Bedingungen und den ganzen Gang der Emanzipationsbewegung der Arbeiterklasse klar erfaßt haben. Tschernischewsky war über dies Alles noch im Unklaren; daher auch das Erscheinen von Plänen, wie der oben angeführte, in den Blättern des Sowremennik.

Es ist merkwürdig, daß Tschernischewsky, trotzdem er energisch für die Einmischung des Staates in die ökonomischen Verhältnisse verschiedener Gesellschaftsklassen eintritt, nirgends von einer gesetzlichen Einschränkung des Arbeitstags spricht. Diesem Gegenstand legte er offenbar gar keine Bedeutung bei, oder, besser gesagt, er dachte gar nicht darüber nach.

Für die mit der europäischen sozialistischen Bewegung und Literatur bekannten Leser dürfte es nicht ohne Interesse sein, noch zu erfahren, daß unser Verfasser in Proudhon „den wahren Vertreter der von dem gemeinen Mann in Westeuropa erreichten geistigen Höhe“ erblickte. Zwar ist er keineswegs ein Verehrer Proudhon’s. Er erkennt wohl seine schwachen Seiten, sein Schwanken, seine Inkonsequenz. „Doch in allem diesem sehen wir wiederum die allgemeinen Züge des intellektuellen Zustandes, in dem sich gegenwärtig der westeuropäische gemeine Mann befindet. Dank seiner gesunden Natur, seiner herben Lebenserfahrung begreift er eigentlich die Dinge unvergleichlich besser, richtiger und tiefer, als die Angehörigen der besser situirten Klassen. Aber zu ihm sind noch nicht jene wissenschaftlichen Anschauungen gelangt, die am besten seiner Lage, seinen Neigungen, seinen Bedürfnissen entsprechen, und die mit dem jetzigen Niveau der Wissenschaften in Einklang stehen.“ [5] Von welchem „gemeinen Mann“ spricht hier Tschernischewsky? Versteht er darunter die Bauern, die kleinen selb-ständigen Handwerker, oder die Proletarier im eigentlichen Sinne dieses Wortes? Er spricht von allen diesen im Allgemeinen, ohne zwischen den verschiedenen Schichten der arbeitenden Bevölkerung irgendwie zu unterscheiden, denn sie alle verschmolzen in seinem Kopfe zu dem Gesamtbegriff des „gemeinen Volkes“. Anders denken darüber die modernen Sozialisten. Schon im Jahre 1848 hoben Marx und Engels in ihrem Kommunistischen Manifest den schroffen Unterschied zwischen Bauern und Handwerkern einerseits und dem Proletariat anderseits hervor. Für die Verfasser des Manifests sind die Bauern und die kleinen Handwerker, insofern sie an der ökonomischen Besonderheit ihrer Lage festhalten und sich nicht auf den Standpunkt des Proletariats stellen, Reaktionäre, die das Rad der Geschichte zurückdrehen möchten. Einzig im Proletariat erblicken Marx und Engels die wahrhaft revolutionäre Klasse der modernen Gesellschaft. Demgemäß mochten sie auch in Proudhon wohl einen Vertreter des „gemeinen Volkes“ sehen, aber eines „gemeinen Volkes“, welches noch in der kleinbürgerlichen Produktion steckt. Für Marx war Proudhon’s Sozialismus ein Sozialismus der Kleinbürger, oder, wenn man will, der Bauern, dieser Kleinbürger in der Landwirthschaft. Die Inkonsequenz und das Schwankende der Proudhon’schen Ideen erklärte Marx nicht daraus, daß zu ihm das letzte Wort der Wissenschaft noch nicht gelangt sei, sonder daraus, daß ihn die aus den kleinbürgerlichen Kreisen herübergenommenen Vorurtheile und vorgefaßten unfähig machten, dieses letzte Wort zu verstehen, – auch dann, wenn es zu ihm gelangt wäre. [6] Der Unterschied in der Beurtheilung Proudhon’s durch Marx und Tschernischewsky spiegelt so recht die Verschiedenheit ihrer Auffassung von der gesammten europäischen Arbeiterbewegung wieder.


Anmerkungen

1. Man darf nicht vergessen, daß die Zensur es sehr schwer machte, von Sozialisten zu sprechen.

2. Die Hervorhebung mit gesperrter Schrift geschieht durch uns.

3. Die Parteikämpfe in Frankreich unter Ludwig XVIII und Karl X.

4. Sowremennik, März 1861. Bibliographie, S. 71.

5. Das anthropologische Prinzip in der Philosophie, S. 21, 24.

6. Siehe Das Elend der Philosophie.


Zuletzt aktualiziert am 9.8.2008