Parvus

Die Reichskrisis und die Sozialdemokratie


I. Die politische Situation


Das Reich macht eine Krisis durch. Das weiß jetzt jeder Zeitungsschreiber, jeder Parlamentarier, und selbst Herr Bethmann-Hollweg weiß es. Der einzige Trost der bürgerlichen Parteien und der Regierung inmitten der zerfahrenen Situation ist der Zwist, der jetzt innerhalb der Sozialdemokratie entbrannt ist. Mit der größten Spannung verfolgen sie es, ob die Geschlossenheit der Sozialdemokratie, in der sie angesichts ihrer eigenen Zersplitterung die größte Gefahr erblicken, aufgegeben werden würde. Hätten unsere Gegner mehr geschichtliches Verständnis, so würden sie begriffen haben, dass auch unsere Divergenzen das Ergebnis sind der widerspruchsvollen Entwicklung, die das Reich durchmacht. Aber während die staatserhaltenden Elemente enttäuscht und verärgert einander gegenüberstehen, weil sie den Glauben an sich selbst und das Vertrauen der Regierung verloren haben und nicht mehr wissen, wie sie sich helfen sollen, streiten wir uns darüber, wie wir die politische Situation, die für uns unzweifelhaft äußerst günstig ist, am besten ausnützen könnten.

Sucht man nach einer allgemeinen Idee, um die politische Situation vom Gesichtspunkte des proletarischen Klassenkampfes zu charakterisieren, so wird man als ihren hervorragendsten Zug die Lockerung der Staatsgewalt anerkennen müssen. Äußerlich steht der Apparat mit seinen Armeen, Panzerschiffen und seiner zentralen Kommandogewalt groß und mächtig da, aber im Innern treten starke Reibungen, Lockerungen hervor, da liegt die Schwäche, die Autorität ist geschwunden, und der Staat zeigt sich nicht mehr imstande, jenen alles bestimmenden Druck nach Innen auszuüben, an den man besonders in Deutschland gewöhnt ist.

Das ist aber zunächst keine spezifisch deutsche Erscheinung. In der ganzen kapitalistischen Welt, in Westeuropa vor allem, sehen wir die gleiche Inkongruenz zwischen der äußeren Machtfülle und der inneren Zersetzung des Staats, nur dass in den anderen parlamentarischen Staaten die Regierungen längst die Konsequenz daraus gezogen haben in der Gestalt von Konzessionen an die Demokratie. Der Umschwung geschah im Ausgang der 90er Jahre und bedeutet eine Wendung innerhalb einer Entwicklung, die bis auf 1848 zurück datiert. Die blutige Niederlage des französischen Proletariats in der Revolution hatte die preußischen Siege zur Folge, diese – eine lange Periode politischer Stagnation, der ganz Europa verfiel. Sie setzte sich zusammen aus der Furcht der Bourgeoisie vor dem Proletariat und dem großen Respekt aller vor der bewaffneten Macht, deren Hauptrepräsentant Preußen war. In Europa herrschte „die starke Faust“ oder, wie in Frankreich, die Sehnsucht danach. So bis in die 90er Jahre, dann trat der Zusammenbruch ein. Die Niederlagen und der Sturz Bismarcks im Reich, Massenkämpfe in Belgien, Italien, Österreich, eine turbulente Staatskrisis in Frankreich gingen ihm voran. Selbst in England, das eine gleichmäßigere politische Entwicklung aufzuweisen hat, gingen das starre Regime Salisbury und der Burenkrieg seiner jetzigen neodemokratischen Ära voran. Die Änderung geschah also nirgends spontan, sie ist das Ergebnis großer politischer bzw. parlamentarischer Kämpfe, in denen die in der Politik wirkenden sozialen Kräfte sich gemessen hatten und die zum Teil direkt von Massenaktionen und Straßenschlachten begleitet waren. Gegenwärtig sehen wir in allen Industrieorten um das deutsche Reich herum, neben einem ausschweifenden Imperialismus, ein ostentatives Werben der Regierungen um die Gunst der Massen, das, je nach der bisherigen Entwicklung, der Initiative und Energie, die die Volksmassen zu entwickeln verstehen, zu mehr oder weniger bedeutenden demokratischen Konzessionen führt. Europa geht seine eigenen Wege, Deutschland mit seinem preußischen System steht isoliert da und findet nur noch Verständnis beim Zaren, der, noch immer erschreckt durch Revolution, das Schreckensregime braucht, um nicht zu verzagen.

Die Taktik des Staats dem Proletariat gegenüber ist jetzt eine andere als vor 10 bis 15 Jahren. Während wir damals in allen Dingen auf den erbittertsten materiellen und ideellen Widerstand stießen, finden wir jetzt äußerlich Anerkennung, das Proletariat wird also geradezu umschmeichelt, man lässt es aber doch nicht zur Geltung kommen und gibt sich alle Mühe, die Arbeiter durch Scheinkonzessionen abzuspeisen. Wir hatten früher die nackte Gewalt vor uns und haben jetzt Gewalt gepaart mit List – das diktiert auch uns eine kompliziertere Taktik. Der Änderung der Staatspolitik entspricht auch eine Umstimmung der öffentlichen Meinung. Diese entspringt verschiedenen Quellen. Zunächst sind 60 Jahre Furcht vor der Revolution gerade ausreichend, um dies Furcht etwas verblassen zu lassen. Die Pariser Kommune hat allerdings die rote Angst der Bourgeoisie wieder aufgefrischt – aber die Kommune blieb eine Episode in der Geschichte Europas. Die russische Revolution hat die Bourgeoisie der ganzen Welt mit Schrecken erfüllt, doch sie scheint überwunden zu sein, und man gedenkt ihrer nicht mehr. Die türkische Revolution betrachtet die europäische Bourgeoisie nahezu als ihr eigenes Werk. Die Angst vor der proletarischen Revolution ist deshalb gewiss noch lange nicht geschwunden, sie führt noch gelegentlich zu einem Ausbruch wilder Leidenschaft der Eigentumsbestie, aber sie ist nicht mehr der konstante Faktor, der alles politische Denken und Wirken der Bourgeoisie beherrscht, wie in den siebziger und achtziger Jahren. Die Bourgeoisie selbst hat sich in ihrer sozialen Zusammensetzung geändert. An Stelle der Handwerker und Kaufleute der Provinzstädte ist die moderne großstädtische Bevölkerung getreten – für diese ist der entwickelte Parlamentarismus mit seinem ganzen Apparat des politischen und kulturellen Liberalismus ebenso eine politische Notwendigkeit wie die städtische Kanalisation eine sanitäre; sie kann sich ohne diesen gar nicht ausleben und sie besitzt ganz andere politische Interessen und einen ganz anderen Betätigungsdrang als die Kleinstädter von ehemals. Andererseits hat das Bauerntum seine politische Rolle in Westeuropa ausgespielt; es war jenes soziale Element, das die meiste Konfusion in die Revolution hineintrug und am letzten Ende die breite Grundlage der Reaktion abgab. Das Bauerntum wirkte aber zugleich innerhalb des Parlamentarismus als Ballast der kapitalistischen Politik; dies um so mehr, als das Agrarkapital sich auf die politische Agitation verlegte, seinen wirtschaftlichen Einfluss, seine persönlichen Beziehungen und die kulturelle Rückständigkeit des Bauerntums benützte, um eine parlamentarische Kraft zu bilden. Die Agrarzölle Europas sind ein eklatanter Beweis dafür. Und nun sehen wir jetzt, dass der Kampf der großstädtischen Bevölkerung um den Liberalismus zugleich ein zu einer Auseinandersetzung zwischen den städtischen Konsumenten, der Industrie einerseits und dem Agrarkapital andererseits wird. Die Teuerung, dieses große Ergebnis der kapitalistischen Weltmarktentwicklung, verschärft diese Kämpfe und erweitert sie zu Gegensätzen, von denen man in den 70er und 80er Jahren, ja noch vor wenigen Jahren, sich kaum eine Vorstellung machen konnte. Eine tiefe Spaltung geht durch die besitzenden Klassen und ihren sozialen Anhang, und diese Spaltung bedingt mit dem zaghaften und vorsichtigen Auftreten der Regierungen den Arbeitermassen gegenüber. Dann auch noch der Militarismus und Marinismus mit ihren steigenden Lasten und ihrer steigenden Erbitterung, der Imperialismus mit seinen Kriegstendenzen, für die er die Volksmassen braucht. Als letztes, aber entscheidendes Moment das zielbewusste Auftreten des organisierten Proletariats. In seinen Massenaktionen der letzten 15 Jahre hat das Proletariat nirgends den Staat niederzwingen können, überall musste es am letzten Ende zurückweichen; aber es zeigte sich auch überall, dass diese Kämpfe den Staat in seinen Grundlagen erschüttern und eine politische Zersetzung schaffen, die vor allem seine Widerstandsfähigkeit nach außen schwächen, wenn nicht lahmlegen, und aus diesem Grunde sahen sich die Staaten zu Konzessionen und zu einer Änderung ihrer Politik der Sozialdemokratie gegenüber veranlasst.

Das sind allgemeine Erscheinungen, die für alle entwickelten kapitalistischen Länder gelten. Es kommen noch andere hinzu, so die gewaltige Konzentration des kapitalistischen Besitzes, die neben dem Proletariat auch andere soziale Schichten zur Auflehnung gegen das Großkapital treibt und die Regierungen selbst in Zweifel bringt. Sollen wir nun annehmen, dass diese Momente der politischen Zersetzung in Deutschland, das von ganz Europa in den letzten Jahrzehnten die stärkste kapitalistische Entwicklung durchgemacht hat, weniger wirken als anderswo? Das wäre ein Nonsens. Aber hier kommen sie weniger zum politischen Ausdruck, weil die starke und unabhängige Zentralregierung sie daran hindert. Darum müssen sie sich hier erst Bahn brechen im Kampf gegen die Regierung. Das gerade macht die Situation im Reich besonders kritisch.

Bevor ich zur Betrachtung der Reichspolitik übergehe, möchte ich an dieser Stelle nur noch eins hervorheben: ebenso wenig wie die Zusammenschweißung der Bourgeoisie zu einer „einzigen reaktionären Masse“ und die Entwicklung einer starken Regierungsgewalt, kann der jetzige Zustand der politischen Zersetzung von ewiger Dauer sein. Zugleich mit den Massen, die von unten herauf drängen und unter der Führung des Proletariats darauf hinauskommen müssen, mit Hilfe der Staatsmacht sich die wirtschaftliche Macht zu erobern, arbeitet das Großkapital daran, mit Hilfe seiner wirtschaftlichen Machtmittel den Staat sich anzugliedern. Die Kämpfe des Imperialismus werden ausgekämpft werden, die handelspolitischen Auseinandersetzungen werden ihre Lösung finden, und aus den Kartellen, Großbanken und dem Staat wird eine Macht zusammengeschweißt werden, die dem Kapitalismus wieder Stabilität sichern wird, wenn nicht das Proletariat seinen Willen durchsetzt.


Zuletzt aktualisiert am 29. May 2024