Parvus

Der Opportunismus in der Praxis


1. Der Opportunismus und die sozialrevolutionäre Entwicklung


„Das beweist wieder einmal, von welch unheilbarer Unbeständigkeit jener schreckliche Despot der guten Gesellschaft ist: die öffentliche Meinung der Mittelklasse, und rechtfertigt wieder einmal die Verachtung, die wir Sozialisten einer vergangenen Generation stets für diese öffentliche Meinung hegten.“
Friedrich Engels

Kein Zweifel mehr, wir haben jetzt in Deutschland einen vollkommenen, ausgewachsenen Opportunismus. Es gab eine Zeit – es ist noch nicht lange her, die jüngsten in der Partei können sich ihrer erinnern – da die deutsche Sozialdemokratie als immun gegen den Opportunismus galt. Während jener Zeit genügte es, den opportunistischen Charakter einer politischen Handlung nachzuweisen, um sie innerhalb der Partei unmöglich zu machen. Denn dass die Partei nicht opportunistisch sein darf, nicht opportunistisch sein kann, das galt als Axiom. Wer etwa noch vor zwei oder drei Jahren gegen eine Parteigröße den Vorwurf des Opportunismus zu erheben wagte, wurde als Schwarzseher verschrien und musste sich in Acht nehmen, um nicht als Krakeeler, wegen „persönlicher Verunglimpfung“ aus der Partei hinausgeschmissen zu werden.

Nunmehr scheut man weder das Wort noch den Inhalt des Opportunismus. Politische Modefexe – es gibt solche auch innerhalb unserer Partei – prahlen mit ihrem Opportunismus und tragen ihn auf allen Märkten zur Schau. Dagegen hat der Revolutionismus in den Augen dieser Politiker vom allerneuesten Schnitte entschieden etwas Altväterliches, Provinzlerisches, wie die langen Röcke und die unförmigen Zylinder von Anno 1848. Kurz, der Opportunist ist da und freut sich seines Daseins. Und seine Existenz dient ihm als Hauptargument seiner Daseinsberechtigung und seines Wertes. Er erklärt:

„Bin ich nicht wiederholt verleugnet, widerlegt und sonst vernichtet worden? War nicht schon oft alle Welt überzeugt, dass, nachdem meine Geistesarmut, meine Ignoranz und meine Zitatenfälschungen so schonungslos und mit so viel Recht aufgedeckt wurden, ich nicht mehr werde aufkommen können? Aber ich komme immer wieder und werde nur noch unverschämter. Liegt nicht darin der Beweis, dass ich das naturnotwendige Produkt einer geschichtlichen Entwicklung bin? Wo bleibt da die sozialrevolutionäre Erkenntnis?“

Die Entwicklung der Sozialdemokratie kann nicht losgelöst werden von der allgemeinen politischen Entwicklung der kapitalistischen Welt. Die sozialrevolutionäre Aktivität des Proletariats ist nicht gleichwertig mit seiner sozialrevolutionären Erkenntnis. Und die sozialrevolutionäre Erkenntnis ist nicht einfach das Produkt der sozialrevolutionären Propaganda. Der Fleiß und die Zielklarheit unserer Agitation bestimmen allein noch bei Weitem nicht den sozialrevolutionären Effekt. Die großen Zusammenhänge des Weltmarktes, welche das Tempo der industriellen Entwicklung bestimmen, der periodische Wechsel von Aufschwung und Krisis, Stagnation der Bevölkerung auf dem Lande oder ihr Zusammendrängen in den Städten, Auswanderung, Entwicklung kapitalistischer Kolonien, die Entstehung neuer Industrieländer und der Untergang alter Wirtschaftsformen, die Bildung neuer Großstaaten und die Schwächung oder Zersplitterung alter, Krieg und Frieden, der Nationalitätenkampf, der Kampf zwischen Kirche und Staat, das alles sind Momente, die einen gewaltigen Einfluss auf die sozialrevolutionäre Aktivität des Proletariats ausüben. Wie in der ökonomischen und politischen Entwicklung des Kapitals, so gibt es auch im Emanzipationskampf des Proletariats Perioden einer potenzierten und einer verlangsamten Entwicklung, Zeiten eines begeisterten Stürmens und Drängens, da die Arbeiterklasse durch die mutige Entschlossenheit ihres Auftretens und die Kühnheit ihrer Pläne die Welt in Staunen setzt, Zeiten der Depression, da sie unschlüssig, zaghaft wird und ihre weltbewegende Kraft in Kleinigkeiten zu verausgaben scheint.

Nach dem großen geschichtlichen Stürmen der achtundvierziger Revolution, das die Regierungen stürzte und die kapitalistische Welt beinahe aus den Angeln hob, trat eine starke Depression ein, in den sechziger Jahren ein neuer Aufschwung, der in der Internationale, der Kommune und den großangelegten politischen Organisationen der deutschen Arbeiter seinen Ausdruck fand, nach den Ereignissen von 1870/71 abermals in Rückschlag, der begreiflicher Weise in Frankreich am längsten dauerte, und dann ein neuer Aufschwung. Diese letzte Periode ist gekennzeichnet durch die Sammlung des Proletariats zu großen parlamentarischen Parteien. Vor allem in Deutschland, wo unter der raschen Entwicklung zum kapitalistischen Großstaat Massen von Fabrikarbeitern sich sammelten, ganze Gewerbezweige revolutioniert wurden, wie die Schneiderei durch die Konfektion, die Schuhmacherei durch die Schuhfabriken, da mit dem Wachstum der Großstädte eine moderne Bauarbeiterschaft entstand, die ganz anders war als die Maurer und Tischler der Kleinstädte, überall sich ein neues politisches und kulturelles Leben regte, in welches die Sozialdemokratie fertige Organisationen und ein zielklares Programm hineinbrachte; während die Bourgeoisie, die nichts hinter sich hatte als die politische Tradition der Halbheit, der Schwäche, der Feigheit, des Verrats, Bismarck zu Füßen kroch, weil dieser Hausknecht des Hauses Hohenzollern ihr die deutsche Einheit, die sie nicht zu erringen wusste, als Gnadengeschenk des Königs von Preußen zuwarf, und der Eiserne selbst sich in einen ebenso törichten wie, bei aller Brutalität, unentschlossenen Streit mit dem katholischen Klerus verwickelte, der mächtig wachsenden jungen Sozialdemokratie aber durch das Sozialistengesetz Klassenbewusstsein und Zusammenhalt einpaukte! Aber auch in Frankreich, Österreich, Italien, Belgien, Holland, der Schweiz, Dänemark, Schweden-Norwegen, Spanien.

Ihren höchsten Glanzpunkt hat diese neue Aufschwungsperiode des sozialrevolutionären Kampfes vorläufig 1889 in Paris erreicht. Zwar sind seitdem die Organisationen gewaltig erstarkt, doch ist eine solche Energie der revolutionären Initiative, wie auf dem ersten internationalen sozialistischen Arbeiterkongress, dessen Zusammenberufung schon selbst eine gewaltige Leistung war, nicht mehr erreicht worden. Etliche Jahre hielt sich die Bewegung auf der gleichen Höhe, dann trat die Verflauung ein, innerhalb der wir uns jetzt befinden. Das Wachstum der Organisationen dauert fort, aber die Oberfläche der großen geschichtlichen Strömung ist nicht mehr so einheitlich, wir sehen Neben- und Querströmungen, die sich in dünnen Fäden hinschlängelnd, auch finden wir Öl auf den Wogen. Die Erscheinung lässt sich durch mannigfaltige, positive und negative Gründe erklären.

Die parlamentarische Sammlung war zunächst agitatorischer Selbstzweck. Aber auf die Dauer konnte der Parlamentarismus nicht reines agitationsmittel bleiben. Mit dem Wachstum des parlamentarischen Wertes der Partei stellte sich das Bestreben ein, unmittelbare parlamentarische Erfolge zu erzielen. Als kleine und schwache parlamentarische Partei setzte die Sozialdemokratie manches auf das Konto des Klassencharakter des Staates, was nur das Ergebnis ihrer Schwäche war. Wenn dann die erstarkte Partei doch mancherlei im Parlament zu erreichen vermag, so spiegelt es sich im Kopfe das Parlamentariers leicht als Widerspruch zu der grundsätzlichen Bekämpfung des kapitalistischen Staates wider. Zugleich wird die politische Tätigkeit der Sozialdemokratie immer mannigfaltiger, reichhaltiger, geht massenhaft in die Details. Die politische Kleinarbeit des Tages ist nicht nur unvermeidlich, sie ist in ihrer Gesamtheit eminent revolutionär, aber Mancher, der sich auf eine Detailarbeit konzentriert, verliert die großen Zusammenhänge aus den Augen. Überhaupt kann man von einer geschichtlichen Bewegung wie jene des Proletariats, deren zahlreiche politische Erscheinungsformen das gesamte öffentliche Leben zu erfassen sich anschicken, nicht erwarten, dass sie in jeder Einzelheit ihren Grundcharakter offen zur Schau tragen wird. Je gewaltiger die sozialrevolutionäre Bewegung wird, desto leichter kann es in den Details Abweichungen und Störungen geben, desto schwieriger ist es überhaupt, aus den Details den Grundcharakter der Bewegung zu erkennen, desto mehr muss man auf den Massenzusammenhang die Aufmerksamkeit richten. Also, der Parlamentarismus stellt der Sozialdemokratie viele kleine praktische Aufgaben, die leicht von dem Wege der grundsätzlichen Bekämpfung des kapitalistischen Staates ablenken, noch leichter den Beobachter irreführen.

Andererseits kann der ungemein schmerzhafte Prozess der Revolutionierung des Handwerkes, der zahlreich verzweifelte Existenzen in die Reihen der Sozialdemokratie brachte, nunmehr auch für das westeuropäische Festland im Wesentlichen als beendet gelten. Der ruinierte Handwerker findet schon in einer allgemeinen Kritik der kapitalistischen Zustände eine Genugtuung, einen moralischen Halt. Dem Industriearbeiter genügt das nicht. Er will vor allem aus seinem Elend heraus. Er will Änderungen, große, umwälzende, wenn möglich, kleine Änderungen, wenn es nicht anders geht. Ich kann mich hier nicht dabei aufhalten, wie das zu lösen ist, ich konstatiere bloß, dass daraus ebenfalls das Verlangen nach „positiver“ Tätigkeit entspringt. Schließlich ist in der Staatspolitik gegenüber der Sozialdemokratie eine wesentliche Änderung eingetreten. Man darf annehmen, dass im Allgemeinen die Epoche der politischen Entrechtung und Bevormundung des Proletariats vorbei ist. Ich will durchaus nicht behaupten, dass der kapitalistische Staat auf Anwendung von Gewalt gegen die Sozialdemokratie verzichtet hat, ganz und gar nicht, aber von der Nutzlosigkeit kleinlicher Polizeiarbeit hat er sich überzeugt. In diesem Augenblick ist er, nach den vielen Niederlagen im Kampf gegen die Sozialdemokratie, besorgt, mit dieser ein parlamentarisches Auskommen zu schaffen. Das ist nicht nur in Frankreich der Fall, wo ein förmliches Ministerium des „sozialen Friedens“ geschaffen wurde, sondern auch in Deutschland, in Österreich, seit jüngster Zeit in Italien. Diese Taktik wird noch durch den Umstand begünstigt, dass die Kolonialpolitik und die äußere Politik in den letzten Jahren für die kapitalistischen Staaten eine Bedeutung erlangt haben, wie schon lange nicht mehr; dadurch wird die Aufmerksamkeit der Regierungen von der inneren Politik abgelenkt und das Verlangen wird wach nach dem Frieden im Inneren, um freie Hand zu haben zum Unfrieden im Äußeren. Auch dieses Nachlassen der politischen Reaktion wirkt beschwichtigend und erzeugt in den Köpfen desto üppigere Illusionen, je fetter vorher der Boden durch sozialreformerischen Mist gedüngt wurde. [A] Zur Förderung dieser Illusionen hat auch der industrielle Aufschwung der letzten Jahre seinen Teil beigetragen.

Alle diese Momente sind selbstverständlich nicht im Stande, den sozialrevolutionären Charakter des proletarischen Klassenkampfes zu ändern, allein sie reichen vollkommen aus, um in den Köpfen etlicher Parlamentarier, Advokaten und Journalisten jenen Ideenmischmasch zu erzeugen, welchen den Opportunismus charakterisiert. Das Ganze findet in den Hohlköpfen bürgerlicher Zeitungsmenschen den nötigen Resonanzboden in der Öffentlichkeit.

Es lassen sich aber auch bereits deutlich genug die Anzeichen einer Entwicklung wahrnehmen, die zu einer neuen sozialrevolutionären Konzentration des Proletariats führen muss. Auf dem kapitalistischen Weltmarkt bereitete sich eine Verschiebung des kommerziellen Schwergewichtes vor. Alle Welt sieht, wie die Handelsmacht Englands bedroht ist. Das kann nicht ohne Einfluss auf die Politik der englischen Arbeiterklasse bleiben. Der englische industrielle Liberalismus hat seit dem Falle der Korngesetze eine glänzende Entwicklung durchgemacht, und es gelang ihm sogar, die Arbeiter vor seinen Triumphwagen zu spannen. Aber die goldene Zeit der englischen Handelssuprematie ist vorbei, das englische Kapital wird auf dem Warenmarkt und auf dem Kolonialmarkt gewaltig bedrängt, die Entwicklung seines Exports und seiner Industrie hält langsam nicht mehr Schritt mit der kapitalistischen Entwicklung anderer Länder, was nun? „Was wird die Folge sein, wenn kontinentale und besonders amerikanische Waren in stets wachsender Masse hervorströmen, wenn der jetzt noch den englischen Fabriken zufallende Löwenanteil an der Versorgung der Welt von Jahr zu Jahr zusammenschrumpft? Antworte, Freihandel, du Universalmittel!“ [1] Auf diese Frage, die Friedrich Engels 1885 stellte, wird jetzt die Antwort in Strömen von Blut gegeben: Imperialismus. Der englische Imperialismus ist der letzte Verzweiflungsschritt des englischen Kapitals, um sich noch auf eine Zeit lang die Handelsherrschaft auf den Meeren zu sichern. Es kann keinem Zweifel mehr unterliegen, der Versuch scheiterte. Wie auch der südafrikanische Krieg formell enden mag so wird er nicht die erwartete Grundlage bieten zur Schaffung eines britischen Welt-Imperiums, sondern er bildet die Ära einer beginnenden rückläufigen Entwicklung der englischen Weltmacht. Dem Kriege – einerlei ob sofort oder nach einem vorherigen Gründertaumel – wird eine furchtbare ökonomische und politische Liquidation nachfolgen.

Indessen zieht das Zarentum vor Aller Augen einen eisernen Halbring um die asiatische Machtsphäre Englands, der bereits von Peking bis an den Persischen Golf reicht und zahlreiche Stützpunkte besitzt. Indessen bedrängt der deutsche und amerikanische Export die englische Industrie auf dem Weltmarkt. Seitdem Engels seine Worte schrieb, hat der englische Liberalismus, die politische Vertretung des industriellen Kapitals, fortwährend an Schwäche zugenommen. Er hat sich gespalten und spaltet sich immerfort. Er wagt es nicht, die volle Verantwortung für die Politik der Regierung auf sich zu nehmen, und wagt es nicht, ihr grundsätzliche Opposition zu machen. So ereilt auch den englischen Liberalismus das Schicksal des bürgerlichen Liberalismus überhaupt: die politische Zerfahrenheit. Das macht die englischen Arbeiter frei und muss sie dazu bringen, eine eigene politische Partei zu bilden. Und je mehr der britische Staat sich gezwungen sehen wird, auf dem Wege des Militarismus fortzuschreiten, je kritischer die Situation auf dem Weltmarkt wird, desto mehr steigen die Aussichten der englischen Sozialdemokratie. „Jedes Jahr bringt England dichter vor die Frage: Entweder die Nation geht in die stücke oder die kapitalistische Produktion“ (Fr. Engels)

Die Industriellen des Festlandes freuen sich über den sich vorbereitenden Niedergang Englands, denn sie hoffen, sich in die englische Erbschaft teilen zu können. Besonders das deutsche Kapital dünkt sich als den prädestinierten Nachfolger Englands in der Handelssuprematie. Verfehlte Spekulation! Der Streit ist viel allgemeiner, als zwischen zwei Industriestaaten. Es handelt sich um die Konkurrenz ganzer Weltteile. Die industrielle Zukunft gehört Amerika und Russland. Diese Länder haben gegenüber dem alten Europa den Vorzug der geographischen Lage, der gewaltigen Ausdehnung, des Riesenmaßstabs, in dem sich dort die Industrie von vornherein entwickelt, der politischen Einheit. Diese Konkurrenz bedroht, ebenso gut wie England auch Deutschland und Frankreich. Nur die Staaten des Mittelländischen Meeres werden wegen ihrer Nähe zu den sich bildenden neuen Weltmachtzentren im Stillen Ozean und ihres Reichtums an Wasserkräften, deren Ausnützung zu elektrischer Krafterzeugung eine große Rolle in der Entwicklung der modernen Industrie spielt, der amerikanischen und russischen Konkurrenz Paroli bieten können. Vergebens wirft Deutschland seine Kriegsmacht in die Waagschale; es macht dadurch die Entfernungen des Weltmarktes nicht kleiner und die industriellen Potenzen Europas nicht größer. Der deutsche Imperialismus hat bis jetzt vorzüglich die Geschäfte der Sozialdemokratie besorgt. Und so wird es auch weiter sein, sofern nicht der Opportunismus die Politik der Partei zu bestimmen haben wird.

Neben industriellen Konflikten stehen dem mit dem Fluche der geschichtlichen Tradition beladenen, politisch zerklüfteten Europa politische Konflikte bevor. Es gibt politische Zeitpunkte, da die Entwicklung auf den verschiedenen Gebieten zu einer entscheidenden Wendung herangereift ist und so alles zusammen auf eine große Umwälzung hinwirkt. So hatten wir während der Revolutionskämpfe von 1848 die Verquickung des Freiheitsgedankens mit der Idee der deutschen Einheit, der Einigung Italiens, der Selbständigmachung Ungarns. Auch jetzt befinden wir uns in einer Periode allgemeiner Unruhe. Die Orientfrage drängt zur Entscheidung, der österreichische Nationalitätenhader hat die Staatsmaschinerie lahmgelegt. Wer nicht von vornherein auf den Glauben verpflichtet ist, dass der österreichische Staat ewig dauern wird, der wird die bösen Zeichen der Zersetzung, deren Zeuge wir in den letzten Jahren waren, nicht kurzerhand von sich weisen. Das politische System Europas, das die Nationalitäten hier zerreißt, dort bündelweise zusammenpackt, ist wieder in Widerstreit geraten zu der geschichtlichen Tendenz der Bildung großer nationaler Verbände. Die ganze westeuropäische Kleinstaaterei wird angesichts der Bildung der gewaltigen wirtschaftlichen Komplexe von Amerika und Russland immer mehr ein Hindernis der ökonomischen bzw. der kapitalistischen Entwicklung. Die Bildung eines vereinigten Europas wird zu einem immer dringenderen Erfordernis des kapitalistischen Weltmarktes. Ein vereinigtes Europa ist aber nur denkbar als republikanisches Europa. Und während dieses in Westeuropa vor sich geht, zeigt sich das zarische Russland immer weniger im Stande, die durch die kapitalistische Entwicklung ausgelösten Kräfte zu bannen, erhebt das junge Proletariat kühn sein Haupt, – schließt trotz Knute und Verbannung – immer enger die Reihen und umlagert in immer dichteren Scharen den Zarenthron.

Wie man sieht, braucht man nicht erst an die soziale Revolution zu denken, um der Meinung zu sein, dass die politische Entwicklung Europas nicht gerade glatt und friedlich verlaufen wird. Ich glaube auch, dass Mancher, der – auf dem Papier – so ganz leise, ganz unmerklich den Kapitalismus in den Sozialismus verwandelt, vor der geschichtlich gewiss minderwertigen Aufgabe, wie man das Haus Habsburg und das Haus Savoyen und noch ein Schock politischer Formen von Gottes Gnaden schmerzlos ineinander verschmilzt und zur Bürgervertretung macht, stutzig werden wird. Mag nun aber die politische Entwicklung Europas mehr oder weniger stürmisch vor sich gehen, ihr Einfluss auf die sozialrevolutionäre Konzentration des Proletariats kann nach den gesamten Erfahrungen des vergangenen Jahrhunderts keinem Zweifel unterliegen. Diese Konzentration wird um so leichter vor sich gehen, als die parlamentarische Sammlung des Proletariats, die ununterbrochen fortschreitet, Organisationen geschaffen hat, deren grandiose Dimensionen nicht nur alle früheren Organisationsversuche des Proletariats tief in den Schatten stellen, sondern überhaupt einzig sind in der parlamentarischen Geschichte Europas. Zugleich findet seit einiger Zeit in der Industrie ein beschleunigter kapitalistischer Expropriationsprozess statt, der das kapitalistische Mittelgut bei Seite wirft und gewaltige Konglomeratikonen schafft, Riesenkartelle, die in dem gleichen Maße, in welchem sie die Produktion konzentrieren, auch den Klassenkampf der Arbeiter konzentrieren und die Eigentumsfrage auf das einfache Problem reduzieren: Monopol einer kapitalistischen Vereinigung oder Kollektivismus! Und zu gleicher Zeit wiederum vollzieht sich unter der Entwicklung der Elektrotechnik eine grundlegende Umwälzung der gesamten industriellen Produktionstätigkeit.

Die kapitalistische Entwicklung geht viel rascher vor sich als die Entwicklung der sogenannten „öffentlichen Meinung“; sie ist den Ideen, welche in der Presse und in den Parlamenten den Ton angeben, immer um ein Bedeutendes voraus. Kaum haben sich die bürgerlichen Ideologen mit ihren Doktrinchen und ihrem Wunschzettelein auf eine ruhige, langsame, gelinde kapitalistische Entwicklung eingerichtet, da sprudelt sie stürmisch hervor, überstürzt sich und tut überhaupt so, als ob sie es extra darauf abgesehen hat, ihre wohlmeinenden Freunde zu prellen. Der Einfluss dieser stets mit Sack und Pack nachhinkenden bürgerlichen öffentlichen Meinung reicht bis in die Reihen der Sozialdemokratie. Wollte man über den politischen Charakter des proletarischen Klassenkampfs nach den Tagesansichten urteilen, die innerhalb der Arbeiterparteien sich breit machen, so könnte man allerdings mitunter sehr missgestimmt werden. Allein der sozialrevolutionäre Charakter der Arbeiterbewegung gründet in den Tatsachen, nicht in den Ansichten, welche Dieser oder Jener unter Denen, die jeweilig innerhalb der Sozialdemokratie das große Wort führen, sich über den Charakter des proletarischen Klassenkampfes machen. Es wird immer gewisse Pechvögel innerhalb der Partei geben, an welche die sozialrevolutionäre Erkenntnis meistens von außen herantritt, in Gestalt der literarischen oder politischen Prügel, die sie erhalten. Sieht man sich von diesem Gesichtspunkt die Entwicklung an, so wird man zugeben, dass die deutsche Sozialdemokratie auch in den letzten Jahren eine sehr bedeutende Quantität sozialrevolutionäre Erkenntnis zu Tage förderte. Denn stets und überall, wo sich opportunistische Anwandlungen zeigten, da kam auch gleich die sozialrevolutionäre Erkenntnis hinterher. Auf Schritt und Tritt verfolgte die sozialrevolutionäre Erkenntnis den Opportunismus und oft zog sie ihn erst aus dem dunklen Versteck heraus. Die uns von Marx und Engels überlieferte geschichtliche Methode gibt uns die Möglichkeit, Irrtümer und Fehltritte in der Politik des Proletariats in ihrem Ursprung und ihren Konsequenzen zu erkennen. So beugen wir Enttäuschungen vor, helfen Störungen zu beseitigen, und suchen die angesammelte sozialrevolutionäre Energie so lange vor Verzettelungen zu bewahren, bis unter dem Drucke der Verhältnisse eine neue sozialrevolutionäre Konzentration des Proletariats stattfindet.

Der Opportunismus selbst kann es aber gar nicht einmal erwarten, bis er von der fortschreitenden Entwicklung weggeschwemmt wird, sondern er bemüht sich aus Leibeskräften, sich früher schon durch die Praxis ad absurdum zu führen. Ihm dabei ein bisschen theoretisch behilflich zu sein, ist der eigentliche Zweck dieser Arbeit.

Sehen wir zu, wie der Opportunismus sich in der Praxis geäußert hat, was er geleistet hat, zu welchen Erwartungen und Hoffnungen er berechtigt. Und ziehen wir die Konsequenzen!

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Anmerkung

A. Ich darf wohl daran erinnern, dass ich schon auf dem Stuttgarter Parteitag [1898], wo bei der Begründung der sozialrevolutionären Taktik in unserer Partei die Gewaltpolitik der Regierung meines Folgendes ausführte:

„Dieses brutale Verhalten der Regierung tritt aber nicht in jedem kapitalistischen Staate zu Tage. Wir sehen in England eine andere Taktik, und in dem Moment, wo man auch in Deutschland zu der Einsicht kommt, dass man die sozialdemokratische Bewegung nicht mit Zuchthausmitteln bekämpfen kann, dass man es hier mit einem Produkt der ökonomischen Entwicklung zu tun hat, in dem Moment wird die Heinesche Idee gefährlich. Die Entwicklung wird dazu führen, dass man ein parlamentarisches Auskommen mit der Sozialdemokratie sucht, und dann werden die Ideen, die Heine jetzt schüchtern ausspricht, praktisch werden.“

Seitdem ist die Regierung auf den Weg zu einem solchen parlamentarischen Auskommen getreten, und obwohl sie sich keineswegs beeilt, in dieser Richtung vorwärts zu kommen, ist doch die Heinesche Kompromisspolitik uns praktisch näher gerückt.

1. Friedrich Engels, England 1845 und 1885, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Band 21, S. 191–197, hier S. 196


Zuletzt aktualisiert am 29. May 2024