Parvus (Aleksandr Helphand)

Die Eroberung der politischen Macht


II. Die parlamentarischen Aussichten
der deutschen Sozialdemokratie


Es ist eine Frage, die angesichts der fortschreitenden Wahlerfolge der Sozialdemokratie sich allgemein aufdrängt: Ob es der Sozialdemokratie gelingen könnte, beim Fortbestand des jetzigen Reichtagwahlrechts die Majorität der Abgeordnetensitze im Reichstage zu erlangen. Es gab eine Zeit, wo die deutsche Sozialdemokratie selbst derartige Perspektiven als Utopien von sich wies, und zwar aus der Erwägung, dass die herrschenden Klassen es nie soweit kommen lassen würden. Allein nachdem die Sozialdemokratie sich schon an so vielen Reichstagswahlen beteiligt hat und, trotz des Geschimpfes und Gezeters der bürgerlichen Parteien und der Regierung in den Besitz einer bereits sehr erheblichen Zahl von Mandaten gelangt ist, sieht man auch in unseren Reihen den Gedanken einer sozialdemokratischen Reichstagsmajorität nicht mehr mit demselben Unglauben entgegen; ja, es scheint sich sogar bei manchen eine umgekehrte Vorstellung herausgebildet zu haben, die sich etwa so ausdrücken lässt: „Sollten wir nicht einmal die Reichstags-Majorität erlangen können, wie könnten wir da an eine Eroberung der politischen Macht denken“; so ungefähr denkt man, vergessend, dass, als die deutsche Sozialdemokratie daraufhin ausging, sich die politische Macht zu erobern, sie nicht einmal jene parlamentarischen Erfolge erwartete, die wir jetzt bereits erreicht haben. Wir werden später zeigen, dass es ein durchaus oberflächliches, ungeschichtliches Verfahren ist, die Frage einer politischen Umwälzung mit jener der Erlangung einer parlamentarischen Majorität zusammenzuwerfen. Zunächst wollen wir immerhin untersuchen, inwiefern die soziale Möglichkeit für die Sozialdemokratie vorhanden ist, die Majorität der Reichstagssitze zu erobern. Das Material zur Beleuchtung dieser Frage bietet die deutsche Berufsstatistik von 1895.

Verschaffen wir uns ein Bild von der Berufsstellung der Wahlberechtigten. Leider ist bei der Ausarbeitung der Berufstatistik die Altersgrenze von 25 Jahren nicht berücksichtigt worden. Wir behelfen uns damit, dass wir die Hälfte der Altersgruppe von 20 [im Original: 25] bis 30 als über 25 Jahre alt zu den Wahlberechtigten zählen. Die so berechnete Gesamtzahl der über 25 Jahre alten Männer betrug 1895 im deutschen Reich 11.735.583. Darunter sind aber noch 304.762 aktive Militärs enthalten [2], die bekanntlich nicht wahlberechtigt sind. Bleiben 11.431 Reichstagswähler. Die Zahl der wegen Armenunterstützung u. s. w. nicht Wahlberechtigten betrug etwas über 170.000. Bleiben 11.260.000. Rechnet man noch die über 25 Jahre alten Ausländer ab, so bleiben rund 11.000.000. Nach Professor Hickmanns Berechnung betrug bei der letzten Wahl die Zahl der Wahlberechtigten 11.200.000 Der kleine Unterschied erklärt sich genügend durch das Wachstum der Bevölkerung seit 1895. Da sich die Zahl der Ausländer aus den einzelnen Berufen nicht ausscheiden lässt, so ziehen wir sie auch von der Gesamtzahl nicht ab: wir nehmen also an, dass der Zuwachs der heimischen Wahlberechtigten genau so viel ausmacht wie der Wegfall der Ausländer.

Die soziale Gruppierung der Wahlberechtigten weicht im Vergleich mit den Erwerbstätigen oder der Gesamtbevölkerung erheblich zu Gunsten der besitzenden Klassen ab. Das rührt von der bekannten Tatsache her, dass das Kapital Massen von Kindern, Jugendlichen und Frauen, die alle nicht wahlberechtigt sind, zur Lohnarbeit zwingt. Allein von den männlichen Lohnarbeitern sind 43 Prozent unter 25 Jahren alt, dagegen von den Selbständigen bloß 5 Prozent! Die Heruntersetzung der Grenze der Wahlberechtigten etwa bis auf das 22. Lebensjahr, also gleich nach Absolvierung der Militärpflicht, würde rund einer Million Arbeitern das Wahlrecht verleihen, denen es jetzt entzogen bleibt. Es ist gut, diese Tatsache überhaupt einmal festgestellt zu haben zur Charakterisierung des in Deutschland herrschenden „allgemeinen“ Wahlrechts.

Die Wahlberechtigten zeigen nun folgende allgemeine Gliederung:

Lohnarbeiter in Industrie, Handel und Landwirtschaft

5.164.626

Lohnarbeiter wechselnder Art

   155.807

Selbständige in Industrie, Handel und Landwirtschaft

4.172.269

Höheres kaufmännisches und technisches Personal

   425.238

Beamte und freue Berufsarten

   497.875

Dienstboten

     12.076

Berufslose

   836.000

Amtliche Berufsstatistiken stellen sich nicht die Aufgabe, ein genaues Bild der Klassengliederung der Gesellschaft zu geben. Darum ist es unumgänglich, um dieses zu erlangen, an der amtlichen Rubrizierung wenigstens einige grobe Korrektionen anzubringen.

Die 4.172.269 Selbständige verteilen sich folgendermaßen:

Industrie

1.422.923

Handel

   603.786

Landwirtschaft

2.145.560

Nun befinden sich aber nach der Betriebsstatistik unter den selbständigen männlichen „Industriellen“ 793.996, die allein arbeiten, ohne Gesellen, ohne Lehrlinge und auch ohne Motorbenutzung, kurz – Handarbeiter. Dass diese in ihrer wirtschaftlichen Stellung viel mehr gemeinsam haben mit den gewöhnlichen Lohnarbeitern, als mit den Herren Krupp, Stumm, Bleichröder etc., mit denen sie in einer Reihe aufgeführt werden, wird wohl kaum bestritten werden. Da die Zahl der unter 25 Jahre alten Selbständigen in der Industrie nur ca. 120.000 beträgt, so kann man wohl mindestens 700.000 Personen rechnen, um die die Zahl der wahlberechtigten Selbständigen in der Industrie, als Klasse der „Besitzenden“ betrachtet, zu hoch erscheint. In Wirklichkeit noch viel mehr, wie es die Einkommensstatistik beweist.

Unter den Berufslosen sind alle Empfänger von Invaliden- und Altersrenten mitgerechnet. Das sind alles Lohnarbeiter, die als solche selbst vom Staat anerkannt werden. Der Umstand, dass sie vom Kapital verkrüppelt oder bis zur Arbeitsunfähigkeit verbraucht worden sind, ist am wenigsten geeignet, sie mit der kapitalistischen Gesellschaft zu versöhnen. Ihre Gesamtzahl betrug zur Zeit der Berufszählung 318.000. Die Zahl der Frauen darunter dürfte ca. 80.000 sein.

So ist man wohl berechtigt, anzunehmen, dass es den wirklichen Verhältnissen mehr entspricht, wenn man diese rund 90.000 Wahlberechtigten dem Proletariat zuzählt. Nach dieser Korrektion erhalten wir folgende Zahlen:

Proletarische Wähler

6.220.000

Wähler der besitzenden Klassen

4.008.000

Kaufmännisches und technisches Personal

     426.00

Beamte

   498.000

Dienstboten

     12.000

Absolute Majorität

5.587.001

Was bedeutet:

Wenn es gelungen wäre, sämtliche proletarische Wähler dazu zu bringen, einen sozialdemokratischen Wahlzettel abzugeben, und wenn diese Wählermassen gleichmäßig auf alle Wahlkreise verteilt wären, so würde die Sozialdemokratie alle 397 Mandate in Besitz nehmen. Aber die Ungleichheit der Besetzung der einzelnen Wahlkreise würde bei der sehr bedeutenden Überzahl der proletarischen Stimmen – fast 700.000 über die absolute Majorität – das Ergebnis nicht einmal viel ändern, höchstens könnten die bürgerlichen Parteien unter solchen Verhältnissen auf etliche Sitze rechnen, sie wären also jedenfalls platt an die Wand gedrückt.

Nun sagt das instinktive politische Gefühl, dass ein derartiges Ergebnis unter normalen Verhältnissen undenkbar ist. Eine solche Organisation des Proletariats, die alle bis auf den letzten Mann umfasst, erscheint uns undenkbar. Doch wird man immerhin gut tun, sich daran zu erinnern, dass unsere Stimmenzahl seit 1887 sich verdreifacht hat, dass es ein noch tolleres Wagnis war, als die Partei zum ersten Mal, ohne Mittel, alle Parteien und den Staat gegen sich, in den Wahlkampf zog, und dass es der Gipfel der Tollheit war, als 1847 [im Original: 1877] ein Häuflein Flüchtlinge es unternahm, die „Proletarier aller Länder“ zu vereinigen.

Aber die Sache wird eben viel weniger befremdlich, wenn man sich anormale Zeiten denkt, wie sie politische Umwälzungen charakterisieren. Dann besagen die von uns festgestellten Zahlen folgendes: Zur Zeit der größten politischen Aufregung, zur Zeit, wenn die Klassenkämpfe ihre größte Schärfe erreichen, wenn nicht mehr um einzelne Gesetze, sondern um die Handhabung der Gesetzgebung überhaupt und die Regierungsgewalt gefochten wird, wenn es klar wird, dass das Proletariat entweder siegt oder im Fall einer Niederlage schlimmer geknechtet wird denn je, oder wenn es vielleicht sogar so weit ist, dass eine proletarische Regierung, bereits im Besitz der politischen Macht, an die Wählerschaft appelliert, um Unterstützung in ihren gesetzgeberischen Maßnahmen zu finden, – dann ist es wohl möglich, dass ein Reichstag gewählt wird, der durchweg sozialdemokratisch ist. Der Name dafür ist: die Diktatur des Proletariats!

Es soll noch erwähnt werden, dass von den 4 Millionen der „besitzenden Klassen“ die meisten von dem Kleinbauerntum und den kleinen Kaufleuten gebildet werden, die so verelendet sind, dass die soziale Revolution ihnen als Erlösung erscheinen muss, und dass von 500.000 Beamten ein bedeutender Teil – Eisenbahner, Postunterbeamten – schon jetzt sozialdemokratisch abstimmt.

Doch sehen wir von den außergewöhnlichen Verhältnissen ab und betrachten wir, wie die Dinge augenblicklich stehen. Die 2½ Millionen Stimmen, welche die Sozialdemokratie diesmal auf sich vereinigt hat, bilden nur ein Drittel der proletarischen Wählerschaft Deutschlands. Von den übrigen zwei Dritteln hat sich ein Teil der Abstimmung enthalten und ein anderer Teil stimmte für die bürgerlichen Parteien. Bekanntlich bilden die Landarbeiter in überwältigender Majorität noch immer die Gefolgschaft der Junker. Wir steht es aber nun mit der eigentlichen sozialdemokratischen Wählerschaft?

Es gibt unter den Wahlberechtigten

Lohnarbeiter in der Industrie

2.859.000

Lohnarbeiter in Handel und Verkehr

   545.000

Zusammen

3.404.000

Unter den Lohnarbeitern in Handel und Verkehr sind nicht etwa die Kommis zu verstehen, die vielmehr als höhere Angestellte besonders aufgeführt werden, sondern die Packer, Austräger usw., sowie die Schaffner und Kutscher der Straßenbahnen und ähnliche Arten der Lohnarbeiter. Zu diesen wollen wir von den alleinarbeitenden Handwerkern nur noch diejenigen Berufsarten hinzuzählen, in denen notorisch die Sozialdemokratie stark vertreten ist. Wir zählen da:

Handweber

  62.000

Hausindustrielle Stricker und Wirker

    9.000

Alleinschaffende Bauarbeiter

  63.000

Alleinstehende Schneider

  99.000

Alleinstehende Schuhmacher

138.000

Alleinstehende Tischler

  53.000

Zusammen

454.000

Das macht zusammen mit der vorigen Zahl 3.958.000. Nun ist auch noch ein Teil der Invaliden- und Altersrentenempfänger hinzuzurechnen, der auf die industrielle Arbeiterschaft entfällt. Leider lässt er sich auf Grund der Statistik, die wir bei der Hand haben, nicht ausscheiden. Man wird aber wohl allgemein zugeben, dass es nur sehr gering gerechnet ist, wenn wir unter Hinzuziehung der Rentenempfänger das eigentliche sozialdemokratische Rekrutierungsgebiet mit rund vier Millionen Wahlberechtigten angeben. Dabei ist noch nicht berücksichtigt:

    Dass nachweislich Tausende Landarbeiter für die Sozialdemokratie gestimmt haben;
     
    Dass in noch viel höherem Maße die unteren Beamten für die Sozialdemokratie stimmten;
     
    Dass es auch unter den Handelsangestellten und überhaupt so ziemlich in allen Volksschichten Sozialdemokraten gibt.

Wir ziehen die Schlussfolgerung: Die deutsche Sozialdemokratie ist wohl im Stande, unter normalen Verhältnissen allein aus ihrem städtischen Rekrutierungsgebiet im Verhältnis zu der jetzigen Wählerschaft noch 1–1½ Millionen Stimmen aufzubringen. Das Märchen von dem „Überschreiten des Gipfelpunktes“ ist eine Wahnidee, die auf nichts begründet ist als auf der Angst des Spießbürgers. Damit diese Zahl zum Vorschein kommt, ist gar nicht viel notwendig. Fiele die 98er Wahl nicht noch immer in eine Zeit des günstigen Geschäftsganges, oder wäre eine Auflösung des Reichstages erfolgt und die Marinevorlage wäre nicht bereits eine vollendete Tatsache, sondern das Volk hätte darüber erst durch seine Wahlabstimmung zu entscheiden, so hätten wir schon jetzt einen bedeutenden Teil davon abgetragen.

Was es aber bedeuten würde, wenn wir zu unseren 2⅛ Millionen noch eine Million Wahlstimmen in den Waagschale werfen, begreift man, wenn man sich vergegenwärtigt, dass wir schon jetzt bei der Hauptwahl ein Drittel sämtlicher Wahlkreise mit Beschlag belegt haben. Jedes 100.000 sozialdemokratische Stimmen wiegt jetzt ganz anders, als zu jener Zeit, wo die Sozialdemokratie überhaupt nur nach Hunderttausenden zählte, weil die Dinge jetzt fast überall bereits auf die Messerspitze getrieben worden sind. Würden sich nun da die bürgerlichen Parteien nicht schon bei den Hauptwahlen kartellieren, so wäre es allerdings sehr wahrscheinlich, dass die Sozialdemokratie die Majorität der Abgeordnetensitze erobert hätte. Eine einzige Majoritätspartei gab es nie im deutschen Reichstage. Die Nationalliberalen und die Fortschrittspartei haben 1874 zusammen über 204 Mandate verfügt – das war die größte Zahl, die jemals erreicht wurde. Ihre gemeinsame Stimmenzahl betrug 1.990.000, d. h. 23 Prozent der zu jener Zeit Wahlberechtigten. Die Sozialdemokratie würde aber mit 3½ Millionen Stimmen 30 Prozent der Wahlberechtigten umfassen.

Ein Kartell sämtlicher bürgerliche Parteien, und zwar, wie schon erwähnt, nicht erst bei den Stichwahlen, sondern bei der Hauptwahl, so dass in jedem Wahlkreis der Sozialdemokratie nur ein bürgerlicher Kandidat entgegengestellt wird, wäre allerdings im Stande, die Sozialdemokratie unter gewöhnlichen Verhältnissen auf die Dauer in der parlamentarischen Minderheit zu halten, vorausgesetzt, dass dieses Kartell selbst auf die Dauer aufrecht zu erhalten wäre. Und da glauben wir, dass dies doch eine etwas schwierige Sache ist, schwieriger z. B. als – die Abschaffung des allgemeinen, gleichen Wahlrechts, die der kürzeste und einfachste Weg ist, auf dem jenes Ziel, die Sozialdemokratie in parlamentarischer Minderheit zu halten, erreichbar ist.

Dies die parlamentarischen Aussichten der Sozialdemokratie. Wir werden nun zu untersuche haben, inwiefern die Weltgeschichte davon abhängt, ob die Zahl der sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten 199 erreicht.

* * *

Anmerkung

2. D. h. rechnerisch, weil wir die wirkliche Zahl der über 25 Jahre alten Militärs, die weit geringer ist, nicht haben ermitteln können und auch hier die Altersgruppe 20–30 Jahre in zwei geteilt haben, wie es unsere rechnerische Grundlage erfordert.


Zuletzt aktualisiert am 29. May 2024