Parvus

Partei-Angelegenheiten

Der Vorwärts und der Fall Heine

(6. Mai 1898)


Aus: Sächsische Arbeiter-Zeitung, Nr. 103 (6. Mai 1898).
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
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Der Vorwärts und der Fall Heine. Die Berliner Pressekommission veröffentlicht im Vorwärts folgende Erklärung:

Nach Berichten aus der Versammlung des sechsten Wahlkreises ist die Antwort der Pressekommission an den Genossen Ledebour nur teilweise vorgetragen worden. Demgegenüber sehen wir uns veranlasst, unseren damaligen Bescheid im Wortlaut zu veröffentlichen und überlassen es den Genossen Berlins, sich ein Urteil zu bilden.

„Laut Beschluss und Aufruf der Pressekommission in Nr. 269 des Vorwärts vom 17. November v. J. sind in Gemäßheit des § 17a des Organisationsstatutes der Partei alle Wünsche und Beschwerden über den Vorwärts fortan stets in erster Reihe an die, von den Parteigenossen Berlins erwählte Pressekommission zu richten. Erst wenn diesem berechtigten Verlangen keine Abhilfe schaffen kann, wäre die Öffentlichkeit damit zu befassen.

Die Pressekommission kann Ihnen keine Ausnahme von diesen im Interesse der Partei gegebenen Bestimmungen zubilligen und bedauern wir es aufs ernstlichste, das Sie den Widerstreit in die Parteipresse hineingetragen, ohne vorher den für jeden organisierten Genossen maßgeblichen Weg zu beschreiten – Schon aus diesem Grunde wurde der einstimmige Beschluss gefasst, Ihren Artikel die Aufnahme zu verweigern.

Wir waren ferner der Ansicht, dass die Redaktion des Vorwärts nur im Interesse der Partei handelt, wenn sie jetzt, bei bevorstehender Reichstagswahl, derartige Polemiken auf das allernotwendigste Maß beschränkt. – Die Pressekommission konnte nicht finden, dass Sie persönlich angegriffen seien, noch viel weniger, dass es nützlich und ersprießlich wäre, den Artikel, der nur Ihre persönlichen Anschauungen über einige taktische Fragen widerspiegelt, grade jetzt in solcher Breite abzudrucken; dass es vielmehr höchste Zeit sei, die Diskussion über die nun einmal im dritten Berliner Reichstagswahlkreise feststehende Kandidatur zu schließen und nicht die trennenden, sondern nunmehr die einigenden Momente hervorzukehren.

Wir ersehen in der uns übermittelten Veröffentlichung Ihres Artikels in der Sächs. Arb.-Ztg. keinerlei Vorteil für die Partei, halten daher auch den gewünschten weiteren Abdruck im Vorwärts nicht für nötig und lehnt deshalb die Berliner Pressekommission wie schon bemerkt, Ihre Beschwerde einstimmig ab.“

Die Pressekommission
 

Dazu schreibt uns Genosse G. Ledebour:

Die Berliner Pressekommission glaubt mich zensieren zu können, weil ich „den Widerstreit in die Parteipresse hineingetragen“ und weil ich nicht den vorgeschriebenen Instanzenweg eingeschlagen hätte. Die Kommission irrt in ihren gesamten Voraussetzungen: der Streit wurde in die Parteipresse hineingetragen durch die Veröffentlichung des Auszuges aus der Heineschen Rede durch den Vorwärts, der bekanntlich auch zur Parteipresse gehört. Dieser Auszug enthielt einen persönlichen Angriff auf mich. Die Anzweiflung dieser Tatsache durch die Kommission noch ausdrücklich zu widerlegen, überhebt mich der klare Wortlaut der Veröffentlichung des Vorwärts. Auf einen öffentlichen Angriff sofort öffentlich zu reagieren, ist das gute Recht eines jeden. Der richtige Ort für [die Reaktion auf] einen Angriff durch die Presse ist die Presse. Weigert sich das angreifende Blatt zur Aufnahme eines Abwehrartikels, so ergibt sich naturgemäß die Zuflucht zu einem anderen Blatte der Partei. Das schließt durchaus nicht die Beschwerde bei der Kommission aus, oder umgekehrt. Beides sind parallele Aktionen. Da ich obendrein sechs Tage auf die Antwort der Pressekommission warten musste, wäre meine Erwiderung umso mehr verspätet worden. Das Partei-Statut verleiht nun der Berliner Pressekommission nur die Aufsicht über den Vorwärts, aber weder ein Zensoramt über die öffentliche Tätigkeit der Parteigenossen Berlins noch über die übrigen Parteizeitungen. Meine Veröffentlichung in der Sächs. Arbeiterzeitung war zunächst meine eigene Angelegenheit und die der Redaktion dieses Blattes. In zweiter Linie hat sich unter Umständen die Dresdner Pressekommission, eventuell auch der Parteitag damit zu befassen, der Berliner Pressekommission steht da keine Einrede zu. Der Versuch einer Kompetenzerweiterung muss energisch zurückgewiesen werden.

Unfassbar ist es, wenn eine sozialdemokratische Körperschaft ihre Empfindlichkeit über einen angeblichen formalen Verstoß wesentlich genug erscheint, und damit die Zurückweisung der Beschwerde zu rechtfertigen.

Höchst eigenartig ist auch die Auffassung, dass es die Beschränkung einer Polemik „auf das notwendige Maß“ ist, wenn nur der angreifende Teil das Wort nehmen darf, dem angegriffenen aber die Antwort abgeschnitten wird. Das widerspricht dem ursprünglichsten, allgemein anerkannten alten Rechtsgrundsatz: „Eines Mannes Rede ist seines Mannes Rede, man soll sie billig hören beende.“

Dass wir jetzt allen Grund hätten, nur die einigenden, nicht die trennenden Momente hervorzuheben, ist ganz meine Ansicht. Leider wendet sich die Kommission mit ihrer Mahnung an die unrichtige Adresse. Wenn die eine Seite geflissentlich trennende Momente hervorhebt, um die Partei zu einer neuen Taktik zu bekehren, so müssen wir zur Abweisung solcher Versuche gleichfalls das Wort ergreifen. Schweigen käme da auf eine Verletzung des Parteiinteresses hinaus.

G. Ledebour
 

Wir haben unsererseits nach den klaren Ausführungen des Genossen G. Ledebour, denen wir uns in allen Stücken anschließen, nur noch folgendes hervorzuheben. Es waren offenbar die Rücksichten auf die Reichstagswahlen, welche die Berliner Pressekommission zu ihrem Verhalten veranlassten. Dass die Wahlzeit nicht gerade die geeignetste ist für Parteipolemiken, ist nicht gerade eine neue Entdeckung, und man hätte sich in Berlin billigerweise sagen müssen, dass man doch auch anderswo nicht minder auf die Parteiinteressen bedacht ist. Hätte man das getan und hätte man auch für uns, bei all unseren alt- und allbekannten Lastern, ein ganz klein wenig Parteitugend übrig gelassen, so würde man das nicht übersehen haben, was den Kernpunkt des ganzen bildet, nämlich, dass der Fall Heine ja gerade eine Wahlfrage war. Kommt es uns nur darauf an, überhaupt zu wählen? Nein, wir müssen Personen wählen, auf die wir uns als Sozialdemokraten verlassen können. Wenn nun aber ein Irrtum oder eine Irreführung eintritt und jemand als Kandidat aufgestellt wird, über dessen politische Stellungnahme große Zweifel entstehen – ist es nicht gerade eine Pflicht der Selbsterhaltung der Partei, völlig Klarheit zu schaffen? Man hatte, dank der eigentümlichen Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, bis jetzt in Deutschland mit solchen Eventualitäten nicht zu rechnen gehabt, aber man sehe sich doch um, wie es anderswo geschieht, wie z. B. in Frankreich bei den Wahlen niemand Bedenken trägt, sich einen Sozialisten zu nennen, wenn er nur auf diese Weise ein Mandat erhaschen zu können glaubt. Wenn man erst die bösen Erfahrungen gemacht haben wird, dann wird man freilich viel vorsichtiger sein. Aber weshalb sollen wir uns nicht die Erfahrungen zu Nutze kommen lassen, welche das Proletariat anderswo bereits gemacht hat? Und wenn die Berliner Pressekommission weniger um unsere Sünden besorgt wäre, so würde sie sich auch darüber klar geworden sein, dass es sich im Fall Heine gar nicht um Streitigkeiten innerhalb der Partei handelt, sondern einfach darum, festzustellen, ob eine bestimmte Person, der Herr Rechtsanwalt W. Heine, auf dem Boden des sozialdemokratischen Parteiprogramms und der sozialdemokratischen Parteipolitik stehe, oder nicht, und sie würde sich dann gesagt haben: es müsste doch eigentlich dem Herrn Rechtsanwalt Heine nur recht willkommen sein, alle Zweideutigkeiten über diesen Punkt aus der Welt zu räumen. Diese Furcht vor der Veröffentlichung des Ledebourschen Artikels ist doch nur ein verstecktes Geständnis, dass die parteipolitische Stellung des Herrn Rechtsanw. Heine eine sehr zweifelhafte ist. Das ist ein recht eigenartiger Parteimann, von dem es heißt: „Um Gottes willen, fragt ihn nur nicht, wie er sich zu den wichtigsten Parteifragen stellt!“ Wenn also die Berliner Pressekommission nicht einzusehen vermag, welchen Vorteil für die Partei unsere Veröffentlichungen gegen Heine hatten, so erwidern wir, dass der einzige „Nachteil“ für die Partei aus dem Abdruck der bezügl. Ledebourschen und unserer Artikel im Vorwärts nur der sein konnte, dass es sich herausgestellt hätte, unser Kandidat für den 3. Berliner Wahlkreis sei kein Sozialdemokrat, und diesem Schaden wäre leicht abzuhelfen gewesen.


Zuletzt aktualisiert am 27. May 2024