Parvus

Und abermals die Kandidatur Heine!

(13. April 1898)


Aus: Sächsische Arbeiter-Zeitung, Nr. 83 (13. April 1898).

Der heranrückende Wahlkampf und die Notwendigkeit, besonders in den erst 1893 eroberten Berliner Wahlkreisen geschlossen vorzugehen, bringen es mit sich, dass man höchst ungern mit dieser leidigen Angelegenheit sich beschäftigt. Allein es darf doch bei alledem nicht vergessen werden, dass es sich um ein sozialdemokratisches Reichstagsmandat handelt, dass Herr Rechtsanwalt Heine im Reichstage seine Ansichten als die der Sozialdemokratie vor der gesamten Öffentlichkeit zum Ausdruck bringen wird. Und dass Herr Rechtsanwalt Heine nicht zu dem Zweck in den Reichstag hinein will, um bloß an den Abstimmungen teilzunehmen, dass er vielmehr sehr eifrig an den Debatten sich beteiligen wird, das ist mit der größten Sicherheit anzunehmen. Weshalb soll er denn eine Ausnahme machen von den anderen Juristen? Es wäre auch unbegreiflich, wenn er es nicht täte, da seine Redegewandtheit und seine juristischen Kenntnisse ihn dazu be fähigen. Und wenn jemand von der Tribüne des Reichstags aus spricht, das ist denn doch etwas andres als wenn z. B. in einer Parteizeitschrift verschrobene Ansichten zum Ausdruck kommen. Es handelt sich beim Fall Heine darum, ob die Partei so oder anders im Reichstag vertreten sein will? Es ist eine Frage der Parteitaktik, die hier personifiziert wird.

Als die Erklärung der Fraktion erschienen war, zeigten wir, wie wenig sie in Wirklichkeit aufklärt. Wenn man sich nun dennoch jene Erklärung gelten ließ, so geschah es nur um des lieben Friedens willen. Allein Herr Rechtsanwalt Heine selbst ist es, der durch sein weiteres Vorgehen jenen Fraktionsbeschluss in ein reines Nichts verwandelt hat. Die Tatsachen sind folgende:

Am Montag den 4. April sprach Herr Rechtsanwalt Heine in einer großen Volksversammlung in Berlin, in der Genosse G. Ledebour das Referat über Sozialdemokratische Weltpolitik hielt. Hier erklärte er nun, dass er seine bekannten Ausführungen, welche die Veranlassung zu den Fraktionserörterungen gaben „durchaus aufrecht erhalte“ (Wir zitieren nach dem Bericht des Vorwärts.) Er dachte also gar nicht daran, sich darauf zu berufen, dass er „missverstanden“ wurde, im Gegenteil, er war soweit davon entfernt, etwas vom Gesagten zurückzunehmen, dass er vielmehr in Aussicht stellte, dass er zu gegebener Zeit seine Ansichten in der Neuen Zeit verfechten werde. Das ist nur in Ordnung. Herr Rechtsanwalt Heine hat eben seine bestimmten Überzeugungen, und es charakterisiert ihn aufs Beste, dass er sie solange aufrecht erhält, als er nicht eines Besseren überzeugt wurde. Aber da komme man uns doch nicht damit, dass alles auf einem „Missverständnis“ beruhe und Herr Rechtsanwalt Heine hätte es anders gemeint, alle er gesagt hat. Er wehrt sich selbst auf das Entschiedenste gegen eine derartige Unterlegung.

Noch kennzeichnender aber ist die Rede, die er am Donnerstag den 7. April im 6. Berliner Wahlkreis gehalten hat. Hier war er Referent, er wurde also nicht erst von anderer Seite provoziert, er hatte auch Gelegenheit, seine Darlegungen vorzubereiten, und es ist anzunehmen, dass nach den Erfahrungen, die er bereits gemacht hat, er dabei mit der größten Vorsicht zu Werke gegangen sein muss. Hier gab nun Herr Rechtsanwalt Heine über Kolonialpolitik folgendes zum Besten:

„Es wäre eine Kolonisation einigermaßen von Wert, wenn es gelänge, die Ausgewanderten dem Deutschtum zu erhalten, da dadurch unter Umständen eine günstige Rückwirkung auf das Mutterland in freiheitlicher Beziehung möglich wäre und eine größere Machtstellung Deutschland sich ergeben würde. Die Kolonisierung in diesem Sinne sei aber nur von einem freiheitlichen Volke, dessen Einrichtungen im eigenen Lade gute seien, zu erwarten. Der Mangel an Selbstbewusstsein, den man in Deutschland durch die beständige Unterdrückung des Volkes planmäßig geschaffen habe sowie die Tatsache, dass die deutsche Sprache nicht so verbreitet wie andre und auch schwer zu erlernen sei, verhindere die Ausdehnung der Deutschen, die sich in anderen Ländern infolgedessen sehr bald den Verhältnissen anpassten und fast immer in fremden Nationen aufgingen.“

Das ist zunächst ein rücksichtsloser Bruch mit der bisherigen internationalen Stellungnahme der deutschen Sozialdemokratie. Warum sollen nicht auf die Franzosen, Engländer, Russen etc. eine „größere Machstellung“ erstreben?

Wir aber haben vielmehr stets erklärt, dass wir die Verbrüderung der Völker erstreben, nicht die Erweiterung der „Machtstellung“ des einzelnen Volkes, die nur auf Kosten der andren geschehen kann, sondern die Hebung der Kulturkräfte aller Völker und dadurch jedes einzelnen Volkes im Besonderen. Wir gehen in dieser Überzeugung von der Gleichberechtigung der Völker so weit, das wir auf unseren internationalen Kongressen jedem Volk und Völkchen ohne Unterschied der politischen „Machtstellung“ das gleiche Stimmrecht gewähren. Herr Rechtsanwalt Heine käme schön an, wenn er auf einem internationalen sozialistischen Arbeiterkongresse angesichts der amerikanischen, brasilianischen, australischen Vertreter die Erklärung abgeben würde, er wolle in Amerika, Brasilien das „Deutschtum“ zur Herrschaft bringen! Diese Auffassung des Herrn Rechtsanwalt Heine befindet sich aber auch in einem unüberbrückbaren Gegensatz zu der ganzen bisherigen sozialdemokratischen Auffassung der Kolonialpolitik. Selbst wenn man Mittel und Wege gefunden hätte, „die Ausgewanderten dem Deutschtum zu erhalten“, so wären wir doch grundsätzlich Gegner der Kolonialpolitik, weil wir vielmehr die „Deutschen“ davor schützen wollen, dass sie überhaupt in die Notwendigkeit versetzt werden, auszuwandern. Um das „Deutschtum“ zu erhalten, braucht man nicht erst die Deutschen aus Deutschland fortzujagen, indem man ihnen hier ihre Existenz zur Unmöglichkeit macht. Wir haben stets erklärt: Deutschland ist reich genug, um seine Bevölkerung und deren Zuwachs zu ernähren, es ist aber die kapitalistische Ausbeutung, welche die Leute zwingt, ihre Heimat zu verlassen und ihr Glück über dem Ozean zu suchen, und das ist ein großes Übel und eine große Ungerechtigkeit! Wir haben deshalb der Kolonisation nicht nur niemals, selbst spekulativ nur, einen gewissen „Wert“ für die „Erhaltung des Deutschtums“ abgewinnen können, sondern wir sahen gerade darin – selbst vom nationalen Standpunkt aus – die Zerstörung des Deutschtums durch fortschreitende Abbröckelungen.

Andererseits ist es denn nicht die welche die Regierung durch ihre Kolonialpolitik erstrebt? Wir sprechen nicht von kapitalistischen Interessengruppen, die einfach auf Beute hinausgehen, sondern eben von der Regierung, die zweifellos einen politischen Zweck verfolgt. Dieser ist gar kein anderer als eben die mehrfach erwähnte „größere Machtstellung Deutschlands“. Sieht man also von den freiheitlichen Erwartungen und Hoffnungen, die Herr Rechtsanwalt Heine nebenbei hegt, ab, so macht er wohl in Bezug auf die einzelnen Maßnahmen der Regierung Opposition, aber grundsätzlich unterscheidet sich seine Stellung von der Kolonialpolitik der Regierung in nichts! Und was besonders die „Erhaltung des Deutschtums“ anbetrifft, so ist die Regierung bekanntlich bestrebt, auf gesetzgeberischem bzw. polizeilichem Wege die Auswanderung in diesem Sinne zu beeinflussen!

In Bezug auf die Kriegsflotte äußerte sich Herr Rechtsanwalt Heine: „In den 60er Jahren möge es berechtigt gewesen sein, dass der Handel eine Flotte verlangte, aber gegenwärtig sei eine Vermehrung derselben für den Handel unnötig.“ Würde nun der Sozialdemokrat Heine „in den 60er Jahren“ für die Flotte gestimmt haben? Die Konsequenz seiner grundsätzlichen Stellungnahme forderte es! Und wie, wenn ihm jetzt oder später seitens der Regierung der Beweis erbracht wird, „der Handel sei berechtigt, eine Vermehrung der Kriegsflotte zu fordern“? Wird er dann für die Marinevorlage stimmen? Die Konsequenz seines Standpunktes fordert es! Wir glauben aber, dieser Beweis wird der Regierung jemand gegenüber, der die Kriegsflotte für die 60er Jahre anerkennt, gar nicht schwer fallen!

Nach diesen Proben glauben wir durchaus nicht zu übertreiben, wenn wir die Meinung äußern: Es ist ein großes Missverständnis, wenn Herr Rechtsanwalt Heine glaubt, dass er auf sozialdemokratischem Boden steht. Er stimmt wohl mit uns gegen die Regierung, aber gegen die Regierung stimmen auch die [freisinnigen] Getreuen des Eugen Richter, die von der „Süddeutschen Volkspartei“ etc. Er macht wohl Opposition der Regierungspolitik, aber er vermag keine grundsätzliche kämpfende Stellung zu der kapitalistischen Politik einzunehmen. Sein grundsätzlicher Standpunkt ist nicht der wirtschaftliche Klassengegensatz, sondern der mangelnde deutsche Parlamentarismus. Seine ganze politische Kritik gipfelt in diesem: die Regierung ist schlecht, sie versteht nicht, was Not tut – wäre die Regierung besser, so würde auch seine Opposition in sich selbst zusammenfallen. In einem parlamentarisch entwickelten Lande wie England würde deshalb ein Mann wie Rechtsanwalt Heine sich ohne alle Bedenken den sogen. Radikalen anschließen. In Deutschland aber, wo der Kampf um parlamentarische Rechte im Vordergrund steht, schließt er sich der Sozialdemokratie an, weil sie die stärkste oppositionelle Kraft ist. Selbst wenn er des Gegensatzes seines allgemeinen wirtschaftlichen Standpunkts zu dem der sozialrevolutionären Arbeiterparteien bewusst wäre, so mag er sich sagen: Was tut‘, so lange dieses Regierungssystem besteht, können wir zusammengehen! Das ist vom Standpunkt des einzelnen Politikers durchaus logisch gedacht. Alle anderen politisch-radikalen Parteien des Reiches werden ja von der Sozialdemokratie immer mehr zurückgedrängt, ausgenommen die „Süddeutsche Volkspartei“, die aber einen örtlichen Charakter trägt. Die Versuche, neue „Volksparteien“ zu gründen, haben bis jetzt auch zu keinem glänzenden Resultat geführt. Dazu kommt noch vielleicht die Spekulation darauf, dass die deutsche Sozialdemokratie ebenfalls mit der Zeit eine andere wirtschaftliche Stellung einnehmen wird! Es ist also durchaus erklärlich, warum jemand, der kein Sozialdemokrat ist, jetzt, da die Sozialdemokratie groß geworden ist, sich ihr anschließt – unerklärlich aber und ein großer politischer Fehler wäre, wenn die Arbeiterpartei ihre parlamentarische Vertretung jemand übertragen würde, der durchaus auf bürgerlichem Standpunkt steht.

Die Wahl des Herrn Rechtsanwalt Heine wird der Partei viel mehr Schaden als Nutzen bringen. Man beuge vor, solange es noch Zeit ist!


Zuletzt aktualisiert am 27. May 2024