Parvus

E. Bernstein als „armer Tom“

(März 1898)


Aus: Sächsische Arbeiter-Zeitung, Nr. 57 (11. März 1898), 68 (24. März 1898), 70 (26. März 1898).
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I

Es gibt viele in der Partei, die mit großer Spannung des Ausführungen E. Bernsteins in der Neuen Zeit entgegen sahen. Denn noch nie ist eine Frage von so weittragender theoretischer und politischer Bedeutung in der Partei zur Diskussion gestellt worden wie diesmal. Nachdem wir uns während der letzten Jahre in der mannigfaltigsten Weise auf den Parteitagen und in der Presse über die Parteitaktik herumgestritten haben, so dass tatsächlich kein einziger Punkt mehr geblieben ist, der nicht von irgend einer Seite bestritten oder angezweifelt wäre, gelangen wir nunmehr dazu, die Frage prinzipiell zu stellen: Sozialreform oder soziale Revolution? Wenn auch dieser oder jener vielleicht dadurch, dass er die Worte anders deutet, den oft gebrauchten Begriffen eine andere Bedeutung unterschiebt, sich noch über die Kluft, die sich vor uns eröffnet, hinwegzutäuschen vermag, so ist es doch nicht nur die Auffassung der bürgerlichen Presse, sondern der allgemeine Eindruck in der Partei, dass der Gegensatz tatsächlich so ist, wie wir ihn gekennzeichnet haben. Und es ist einer jener auserlesenen Manen, die auf Seiten der Sozialdemokratie den Tross bürgerlicher Sozialreformer unter dem Hohngelächter der Öffentlichkeit zurückzuschlagen pflegten, jener „Großinquisitoren“ des Sozialismus, deren Name schon den sozialpolitischen Professoren den Angstschweiß auf die Stirn trieb und die Galle an den Lippenrand, einer von diesen ist es, der kehrt macht, verflucht, was er segnet, und segnet, was er verflucht hat, beweist die Undurchführbarkeit der sozialen Revolution, die schon seine Devise und sein Kampfruf war, und sieht das Heil in jenem System sozialpolitischer Maßnahmen innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft, das die bürgerlichen Gelehrten selbst im besonderen und in der Gesamtheit als Sozialreform anpreisen und das er selbst stets mit kritischer Schärfe als unzulänglich nachwies. Man war überrascht, aber man sagte sich: „Wenn ein Mann wie Bernstein derartiges tut, so muss doch was dahinter stecken“, und selbst diejenigen, welche aus den ersten Ausführungen Bernsteins erfahren – und dazu gehörte nur eine leidliche Kenntnis der sozialistischen Literatur – dass er nichts Neues hervorbringt, nichts, was nicht bereits von bürgerlichen Gelehrten gesagt und von sozialistischen Kritikern, zum Teil von ihm selbst, zurückgewiesen worden wäre, wagten doch nicht, ein endgültiges Urteil zu fällen, sondern warteten ab, ob nicht Bernstein nunmehr, nachdem der Streit aufgegriffen wurde, und die gesamte Öffentlichkeit von Bernstein Auskunft und Aufklärung heischt, doch gewichtigeres Material und neue Gesichtspunkte in die Waagschale zu werfen imstande sein wird. Indessen kann sich Bernstein rühmen, auch einige Anhänger gefunden zu haben. Viele sind es freilich nicht, aber eine sehr distinguierte Gesellschaft. Herr Dr. Quarck meldete sich in Frankfurt an Main, ferner in Berlin Herr Rechtsanwalt Heine, der binnen weniger Tage als sozialdemokratischer Reichstagskandidat, sozialdemokratisches Parteimitglied und sozialdemokratischer Prinzipienstürmer bekannt wurde – welch eine Karriere – und Herr Dr. G. Borchardt, der als Lehrer der Naturwissenschaften bekannt ist. Das stellte sich in den Schatten von Bernstein, bereit, ihn auf das Schild zu erheben. Auf der anderen Seite ist in einer Reihe von Parteiblättern gegen Bernstein eine scharfe Kritik gerichtet worden. Es kam die Erklärung Bernsteins im Vorwärts und nun kommt nach mehreren Wochen sein Artikel in der Neuen Zeit. Bernstein weiß, woran er ist, dass man von ihm auf der einen Seite das lösende, auf der anderen Seite das entscheidende Wort erwartet, dass es gilt, seinen Standpunkt klarzulegen und mit aller Macht zu verteidigen, er hatte auch Zeit, seinen Artikel auszuarbeiten – und also tritt er in die Schranken!
 

Vom „Endziel“

Ein Satz aus dem ersten Bernsteinschen Artikel ist besonders viel herumbesprochen worden. Wir haben zwar jene einzelne Äußerung nicht zum Zentralpunkt unserer Kritik gemacht, sondern wir wandten uns gegen die gesamten Ausführungen von Bernstein in ihrem logischen Zusammenhang und mit ihrem statistischen und theoretischen Beweismaterial, aber wir anerkannten ihre Bedeutung zur Charakteristik der neuen Bernsteinschen Anschauungen. Es ist der Satz vom „Endziel“. Bernstein schließt in Nr. 18 der Neuen Zeit (wir geben den ganzen Passus wieder):

„Ich gestehe es offen, ich habe für das, was man gemeinhin unter „Endziel des Sozialismus“ versteht, außerordentlich wenig Sinn und Interesse. Dieses Ziel, was immer es sei, ist mir gar nichts, die Bewegung alles. Und unter Bewegung verstehe ich sowohl die allgemeine Bewegung der Gesellschaft, z. B. den sozialen Fortschritt, wie die politische und wirtschaftliche Agitation und Organisation zur Verwirklichung dieses Fortschritts.“

Da man nun „gemeinhin“ unter dem „Endziel des Sozialismus“ die vollkommene Durchführung einer auf kommunistischer Produktionsweise organisierter Gesellschaft versteht, also vor allem eine wirtschaftliche Reorganisation der Gesellschaft, so hat man „gemeinhin“ im Bürgertum wie in der Partei Bernstein so aufgefasst, dass es ihm gleichgültig sei, ob wir zu einer vollständigen Vergesellschaftung der Produktionsmittel gelangen oder nicht. Man war zu dieser Annahme um so mehr berechtigt, als der ganze Inhalt des Bernsteinschen Artikels in gar nichts anderem besteht als in dem Nachweis, dass die Vergesellschaftung der Produktionsmittel ein sehr schwieriger, komplizierter, langwieriger und zweifelhafter Prozess sei und die erwähnte Äußerung dem Sinn wie der Stellung nach all diese Ausführungen abschließt. Und man hat sich nun „gemeinhin“ gefragt: Kann sich jemand „Sozialist“ nennen, dem das Erreichen des Endziels des Sozialismus, also desjenigen Moments, dem die ganze Bewegung dient, gleichgültig ist? Bernstein spricht vom „sozialen Fortschritt“, der ihm „alles“ ist – er nennt sich einen „sozialen Fortschrittler“ (gemeinhin heißt man das „Sozialreformer“), aber unter einem Sozialisten hat man bis jetzt stets jemanden verstanden, der nicht nur den „sozialen Fortschritt“ überhaupt, sondern eine bestimmte Gesellschaftsordnung erstrebt. Wer will nicht den „sozialen Fortschritt“? Aber jede Partei gibt eben dem Begriff einen anderen Inhalt, und die sozialistische – einen sozialistischen Inhalt.

Dann kam die Erklärung im Vorwärts, in der sich Bernstein vor allem sehr lebhaft dagegen verwahrt, dass er es ablehne, sich „mit dem sogen. „Endziel des Sozialismus“ zu befassen.“ Obwohl er soeben verkündet hat, dass er für dieses Endziel „außerordentlich wenig Sinn und Interesse“ habe, will er sich jetzt damit doch „befassen“ und er würde es „bedauern“, wenn man ihn so verstände, als ob ihm die Sache gleichgültig sei, obwohl er für sie „außerordentlich wenig Sinn und Interesse“ habe! Für uns ist aber vor allem wichtig festzustellen, was er jetzt unter dem Ziel des Sozialismus versteht. Wir wollen die einschlägigen Stellen anführen.

„Dieses Ziel ist aber nicht die Verwirklichung eines Gesellschaftsplanes, sondern die Durchführung eines Gesellschaftsprinzips. Soweit sich die Aufgaben der Sozialdemokratie nicht aus den jeweilig gegebenen Bedürfnissen des Kampfes der Arbeiter für ihre politische und ökonomische Emanzipation ergeben, kann man in der Tat das Ziel der sozialistischen Bewegung, will man nicht in Utopisterei verfallen, nur als Prinzip formulieren, etwa als die „allseitige Durchführung der Genossenschaftlichkeit.“ ... Aber wenn es auch das Ziel bezeichnet [das „Ziel“, formuliert als „Prinzip“, bezeichnet das „Ziel“ – welche Verlegenheit!], so sagt es doch nichts über Wege und Mittel. Diese können nur aus den gegebenen Bedingungen gefunden werden, müssen im jeweiligen Verhältnis zum Stande der Bewegung stehen. Darum ist das allgemeine Ziel gegeben, die Bewegung selbst und ihr Fortschritt in Richtung auf dieses Ziel die Hauptsache, während es recht gleichgültig ist, wie man sich das Endziel dieser Entwicklung ausmalt.“

Was sich aus diesem Wirrwarr ergibt, ist jedenfalls das eine: dass Bernstein hier noch immer unter dem Endziel des Sozialismus die vollkommene Durchführung der Vergesellschaftung der Produktion versteht.

Man höre aber, was Bernstein in seinem letzten Artikel schreibt:

„Meine Worte konnten auf die „Vergesellschaftung“ der Produktionsmittel schon deshalb nicht bezogen werden, weil diese Maßregel gar kein Endziel ist, sondern nur ein Mittel zu einem solchen, weshalb denn auch das sozialdemokratische Programm lediglich die Vergesellschaftung des kapitalistischen Privateigentums fordert und dies nicht damit begründet, dass das Privateigentum an Produktionsmitteln an sich ungerecht sei, sondern dass nur durch seine Vergesellschaftung „der Großbetrieb und die stets wachsende Ertragsfähigkeit der gesellschaftlichen Arbeit für die bisher ausgebeuteten Klassen aus einer Quelle des Elends und der Unterdrückung zu einer Quelle der höchsten Wohlfahrt und allseitigen harmonischen Vervollkommnung“ werden könne.

Das Letztere und nicht das Erstere ist das Ziel der sozialistischen Bewegung. Darum ist aber auch vom sozialistischen Standpunkt die Vergesellschaftung von Produktionsmitteln nur dann und nur in dem Maße erstrebenswert, als von ihr vernünftigerweise die Erfüllung jenes Zieles erwartet werden kann. In diesem Sinne halte ich durchaus an dem Satze fest, dass ein gutes Fabrikgesetz mehr Sozialismus enthalten kann als die Verstaatlichung einer ganzen Gruppe von Fabriken.“

Also erst erklärt er uns, der „soziale Fortschritt“ sei ihm „alles“ und er habe „außerordentlich wenig Sinn und Interesse“ dafür, ob das zu einer vollkommenen Vergesellschaftung der Produktion zum „Endziel des Sozialismus“ führe – und jetzt will er so verstanden sein, dass ihm „nichts“ daran liege, ob der „soziale Fortschritt“ zur „höchsten Wohlfahrt und allseitigen harmonischen Vervollkommnung“ führe, dagegen habe er ein außerordentliches Interesse an der „Vergesellschaftung der Produktionsmittel“! Und obwohl er uns soeben seiner Sympathien für die „Vergesellschaftung der Produktionsmittel“ versichert und früher und später und soeben erst wieder uns belehrt, nicht das „Endziel“ sei die Hauptsache, sondern die „Bewegung“, das „Mittel“, führt er in dem unmittelbar nachfolgenden Satz aus, die Vergesellschaftung sei „nur dann und nur in dem Maße erstrebenswert“, als dadurch das „Ziel“ – diesmal die „höchste Wohlfahrt“, auf die er seine Äußerung von dem „kolossal wenig Interesse“ bezogen haben will – erreicht werde, und bekräftigt dies damit, dass ihm ein „Fabrikgesetz“ lieber sei als eine „Verstaatlichung“! Was ist nun „Endziel“? Was „Bewegung“? Was ist Bernstein „alles“? Was ist ihm „nichts“? Wofür hat er „kolossal wenig Interesse“ und was erwärmt seine Brust? So schlägt dieser Mann mit dem großen geistigen Ansehen Purzelbäume, dass man nicht weiß, wo augenblicklich Kopf, wo Bein ist. O Bernstein, Bernstein!

Dass man „gemeinhin“ unter dem „Endziel des Sozialismus“ sich doch etwas viel Bestimmteres denkt als die „allseitige harmonische Vervollkommnung“ – bei solcher Begriffsbestimmung würde selbst ein Freiherr von Stumm unter die Sozialisten gehen können – dass man damit eine soziale Umgestaltung bestimmter Art meint, braucht nicht erst bewiesen zu werden – das ist bereits bewiesen dadurch, dass man Bernstein allseitig so aufgefasst hat. Aber auch der Beweis, dass Bernstein selbst, als er seine viel besprochene Formulierung getan und seine Erklärung im Vorwärts schrieb, den Begriff genau so auffasste, als man es „gemeinhin“ tat, nämlich als vollkommene Vergesellschaftung der Produktion bzw. „allseitige Durchführung der Genossenschaftlichkeit“, auch dieser Beweis ist erbracht worden. Bernstein begeht jetzt eine Unterschiebung, die noch dazu äußerst plump ist, und wird dabei in flagranti ertappt. Das Drolligste ist, dass er es selbst gar nicht merkt und, nachdem er den Satz niedergeschrieben hat, durch den er seinen früheren Standpunkt vernichtet, schreibt er ihn, unmittelbar folgend, mit derselben Linie vom entgegengesetzten Ende um, so dass er innerhalb 17 Zeilen von die Vergesellschaftung der Produktionsmittel anerkennt, ohne Rücksicht auf das „Endziel“ und hintennach sie nur gelten lassen will, sofern sie der „Erfüllung jenes Zieles“ diene! Welche Hexenschaukel der Gedanken! [A]

Einen aparten Witz leistet sich Bernstein, indem er darauf verweist, dass sein ganzer erster Artikel sich um das „Problem der Überführung der Produktionsmittel in gesellschaftliches Eigentum“ drehe und er dort festzustellen suche – „wie nahe die sozialistische Bewegung diesem Ziele, wie reif die ökonomische Entwicklung für seine Verwirklichung ist,“ woraus sich doch ergebe, dass er ein Interesse an der Sache habe. Hier betrügt sich Bernstein wieder selbst durch neue Worte über seine eigenen Gedanken. Was er zu beweisen suchte, war, „wie fern die sozialistische Gesellschaft [gemeint: Bewegung] ihrem Ziele, wie unreif die ökonomische Entwicklung, und das „Interesse“ das er gezeigt hat, bestand darin, nachzuweisen, dass es gar kein Interesse biete, sich mit diesen Dingen abzugeben. Dieses Interesse am Sozialismus haben bis jetzt noch seine sämtlichen Gegner bewiesen. Man denkt unwillkürlich an den banalen Vergleich vom Wolf, der das Schaf „zum Fressen“ gern hat.

Man fühlt sich wie von einem dichten Nebel umgeben, wenn man sich in diese Bernsteinschen Gedankengänge hineinarbeitet. Und der Mann war doch sonst so klar und bestimmt! Armer Tom! „den der böse Feind durch Feuer und durch Flammen geführt hat, durch Flut und Strudel, durch Meer und Sumpf, der ihm Messer unter Kissen gelegt hat und Schlangen unter seinen Stuhl, der ihm Rattengift in die Suppe tat, der ihm Hoffahrt eingab, auf einem braunen trabenden Ross über vier Zoll breite Stege zu reiten und seinem eigenen Schatten wie einem Verräter nachzujagen. Gott schütze deine fünf Sinne!“
 

II

Verschiedene unaufschiebbare Arbeiten haben uns veranlasst, die Antwort auf Bernsteins Entgegnung zu unterbrechen. Wir wollen nun damit ein Ende machen, um unsere Artikelserie über die Grundlagen der sozialdemokratischen Politik fortsetzen zu können. [1]
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Der Statistiker Bernstein

Der eigentliche sachliche Inhalt der Bernsteinschen Kritik der sozialrevolutionären Stellung der Partei war die von ihm aufgeführte Statistik. Da er in seiner Entgegnung auch hier die Spuren zu verwischen sucht, so ist es notwendig, seine Ausführungen nochmals wiederzugeben.

Mit dem unzweideutig ausgesprochenen Zweck, die Unhaltbarkeit der bisherigen sozialrevolutionären Stellung der Partei im Sinne der Ergreifung der politischen Macht durch das Proletariat, um mittels dieser die Vergesellschaftung der Produktionsmittel herbeizuführen, zu beweisen, wendete sich also E. Bernstein gegen die in der Partei übliche Beurteilung der wirtschaftlichen Entwicklung und unternahm auf Grund der preußischen Statistik den Beweis, dass die wirtschaftlichen Verhältnisse für die soziale Revolution durchaus unreif seien. Jene statistischen Auseinandersetzungen füllen den größten Teil des Artikels und führen Bernstein zu folgendem politischen Gesamturteil:

“Man sehe sich die Zahlen an, die wir oben von Preußen, dem größten und einem der entwickeltsten Staaten Deutschlands gegeben haben. Es liegt auf der Hand, dass bei der aus ihnen sich ergebenden Zersplitterung der Betriebe in Industrie, Handel und Landwirtschaft der Sozialdemokratie, der einzigen Partei, die angesichts der vollzogenen Parteientwicklung in Deutschland noch durch eine Erhebung der Massen ans Ruder gebracht werden könnte – vor eine unlösbare Aufgabe gestellt sein würde. Sie könnte den Kapitalismus nicht wegdekretieren, ja ihn nicht einmal entbehren, und sie könnte auf der anderen Seite ihm nicht diejenige Sicherheit gewähren, deren er bedarf, um seine Funktionen zu erfüllen. An diesem Widerspruch würde sie sich unrettbar aufreiben und das Ende könnte nur eine kolossale Niederlage sein.“

Wir haben nun jene statistischen Darlegungen, die zu einem solch vernichtenden Urteil nicht nur über die politischen Aussichten und Absichten, sondern über die ganze bisherige politische Taktik der Sozialdemokratie, die auf die Eroberung der politischen Macht hinausging, führen, einer eingehenden Kritik unterworfen, und wir haben Bernstein nachgewiesen:

Wir haben dann selbst die Ergebnisse der deutschen Berufszählung von 1895 einer eingehenden Untersuchung unterworfen und den Versuch gemacht, ein zahlenmäßiges Bild der Klassengliederung des deutschen Reiches zu entwerfen. Und unser statistisches Endresultat war, dass die Kapitalistenklasse nebst ihrem politischen Anhang nicht einmal ein Zehntel der erwerbstätigen Bevölkerung ausmacht, während aber sieben Zehntel direkt dem Proletariat angehören und der Rest eine politisch unsichere und schwankende Stellung einnimmt.

Und was hat nun Ed. Bernstein auf all dieses zu antworten? Außer Verlegenheitsphrasen in dem Sinne, als hätte er mit seinen statistischen Schlussfolgerungen gar nicht so weit gehen wollen, als er tatsächlich gegangen war – wir verweisen auf unser obiges Zitat – zur Sache selbst wörtlich dieses: „Dann wieder sucht er (Parvus) aus den Spezialtabellen der Betriebsklassen solche Erwerbszweige hervor, die recht krasse Gegenüberstellungen erlauben: Kleinbetriebe, an denen eine gewisse Lächerlichkeit haftet, werden mit Riesenbetrieben in Gegensatz gebracht, um den von mir konstatierten ungeschmälerten Fortbestand großer Massen von Klein- und Mittelbetrieben als eine Sache erscheinen zu lassen, der nur krasse Ignoranz Bedeutung beilegen kann. Über die große Zahl der Klein- und Mittelbetriebe der Metall-, Leder-, Holz usw. Verarbeitungsindustrien geht er dagegen stillschweigend hinweg.“ Und dazu noch in Anmerkung: „So hält er mir unter anderem vor, ich vergäße beim Verkehrswesen die Eisenbahnen und bewiese die „Unmöglichkeit der sozialen Revolution“ an den Droschkenkutschen. Ich will mich über die Manier dieser Art von Polemik nicht weiter aufhalten, sachlich hat mich das Beispiel nur an die weisen Leute erinnert, die von der Einführung der Eisenbahnen den Ruin der Fuhrhalter prophezeiten. Zwischen den Eisenbahnen, die für mich schon deshalb außer Betracht kamen, weil über ihre Fähigkeit zur Vergesellschaftung von Anfang an kein ernsthafter Streit bestand (selbst im manchesterlichen England sorgte die Gesetzgebung von 1844 für den Heimfall der Eisenbahnen an den Staat), und den Droschkenkutschern stehen Fuhr- und Speditionsgeschäfte aller Art, von hochkapitalistischen zu sehr kleinbürgerlichen Unternehmen, deren Zahl die Eisenbahnen nicht vermindert, sondern vermehrt haben. Obwohl nun gerade das Verkehrswesen aus leicht begreiflichen Gründen sich noch am ehesten zur Vergesellschaftung eignet, gibt es doch auch hier Geschäfte sehr kapitalistischer Natur, bei denen es als zweifelhaft bezeichnet werden muss, ob sie ohne weiteres würden vergesellschaftet werden können: die Überführung in staatlichen oder kommunalen Betrieb würde vielmehr auch hier nur schrittweise erfolgen können.“

Viele Worte haben wir nicht mehr zu verlieren. Die Behauptung, wir hätten die Metall-, Leder- und Holzbranchen nicht berücksichtigt, ist direkt falsch. Wir kamen ja deshalb unter Hinzurechnung der Bäcker u. a. m. zu einer Zahl von 650.000 selbständigen Handwerkern. Freilich haben wir dabei allerdings auch in Betracht gezogen, dass z. B. ein großer Teil der Tischler reine Hausindustrielle sind, die den Möbelhandlungen und Möbelfabriken nicht minder ausgeliefert sind wie die Schneider den Konfektionsgeschäften, dass besonders in der Metallbranche durch die Entwicklung der Großstädte – Wasserleitungen, elektrische Leitungen etc. – neue Gewerbearten entstehen, die ein Gemisch zwischen Lohnarbeit und Handwerkertum bilden, u. a. m. – wir sind kritisch verfahren, im Gegensatz zu Bernstein, der nach der Zahl der Näherinnen, Putzmacherinnen, Schuhflicker, Waschfrauen, Dienstmänner etc. den „ungeschwächten Fortbestand großer Massen von Klein- und Mittelbetrieben“ in Deutschland – „konstatiert“. Bernstein findet jetzt selbst an diesen selbständigen Handwerkern „eine gewisse Lächerlichkeit“ heraus – das tragische für ihn ist aber, dass jene Handwerke von einer „gewissen Lächerlichkeit“ den weitaus größten Teil seines selbständigen Handwerkertums bilden, auf das er seine Kritik der sozialrevolutionären Auffassung stützt.

Köstlich ist die Argumentation, warum er die Eisenbahnen und Dampfschiffe verschluckt und die ganze Zeitentwicklung in Droschken und Fischehrkähnen hat auslaufen lassen. Er habe bei seiner Beweisführung, dass die wirtschaftlichen Verhältnisse noch nicht reif genug seien für die Vergesellschaftung der Produktion die Eisenbahnen deshalb ignoriert, weil „über ihre Fähigkeit zur Vergesellschaftung“ keine Streit besteht! Weil er selbst zugeben muss, dass die Vergesellschaftung der Eisenbahnen durchführbar sei – und es wäre Wahnsinn, das leugnen zu wollen – ignoriert er die Eisenbahnen und stützt seinen Beweis für die Undurchführbarkeit der Vergesellschaftung im Verkehrsgewerbe – auf die Droschkenkutscher! Ja, er stützt darauf sogar die Behauptung, dass „im Handel und Verkehr ... das Verhältnis der Mittelbetriebe zu den Großbetrieben noch sehr viel stärker ist als in der Industrie“. Und als wir diese „Manier“ einer objektiven Kritik unterzogen haben, rümpft Bernstein die Nase über „die Manier dieser Art der Polemik“! Hinter solche lächerliche Mätzchen versteckt er sich. Armer Tom! Übrigens, wo er die große deutsche Handelsflotte, den Ruhm und Stolz des industriellen Deutschlands hingetan hat, darüber verrät uns Bernstein überhaupt nichts.

Und das ist alles, was Bernstein gegen unsere Kritik seiner Statistik sowie gegen unsere eigenen statistischen Berechnungen einzuwenden hat. Er vermag unsere Kritik nicht zu widerlegen, er fühlt sich von den gegen ihn aufgeführten Tatsachen und Argumenten hart bedrängt, er besitzt aber die geistige Elastizität nicht, nachdem er zu Fall gekommen, sich wieder emporzuschwingen. Es fehlt ihm dazu die Ruhe, Klarheit und Kühnheit des Denkens. Er fühlt sich schwach und umnebelt. Geistige Impotenz!
 

Polemische Unarten und allerlei Mätzchen

Die Menschen verstehen es überhaupt schlecht, das Unglück zu ertragen, und die Literaten, die eine empfindliche Eitelkeit besitzen, am allerwenigsten. Groß zu bleiben selbst im Unrecht ist nur einzelnen gegeben, die meisten greifen zur List, wenn sie der Scharfsinn verlässt, zur Niedertracht, wenn sie im offenen Kampf unterliegen. Wie wenig groß Bernstein ist, ersieht man aus der Art, wie er sich jetzt gibt, da er unterlegen.

Wir waren schon im vorangegangenen gezwungen, die äußerst fragwürdige Art der Bernsteinschen Polemik zu charakterisieren. An dieser Stelle nur einige kurze Beispiele.

Wir haben in unseren statistischen Aufstellungen allein für die Industrie 80.000 rein kapitalistische Betriebe ermittelt. Wir haben das ausdrücklich hervorgehoben, dass es sich nur um die Industrie handle und die Rechnung unmittelbar fortgesetzt. Nichtsdestoweniger wirft sich Bernstein darauf, fasst diese Zahl als jene der gesamten Kapitalistenklasse auf und ruft aus: „Parvus hat sonderbare Rechenmethoden“. Nun kommt aber das schönste: Bernstein erhält unsere weiteren Artikel und kommt folglich um die Tatsache nicht herum, dass wir die Gesamtzahl der Kapitalistenklasse mit 416.000 berechnen. Seine einfache literarische Pflicht war dann offenbar die, seine erste Auslassung, die auf einer falschen Basis beruht, zu streichen. Das tut er aber nicht, sondern er lässt jene Ausführungen, obwohl er sich bereits selbst von ihrer Haltlosigkeit überzeugt hat, stehen und fügt hinzu in Klammern: „In einem Artikel, der nach dem vorstehenden erschien, holt er das Versäumte nach!“ Statt sich selbst zuzugestehen, dass er sich getäuscht hat, sucht er in dem Leser die Vorstellung zu erwecken, als ob wir uns selbst korrigiert hätten, wovon gar nicht die Rede sein kann! Weshalb das? Weil er seine Position sehr schwach fühlt und deshalb mit jedem Scheinbeweis geizen muss. Da war es ihm schade darum, auf die Redewendung von Parvus „wundervoller Rechenmethode“ verzichten zu müssen. Armer Tom!

Er schleudert uns entgegen: „Sie wollen z. B. dass der Staat alsdann (bei der sozialen Revolution) die Verzinsung und Abzahlung der Hypotheken übernehme. Das ist sehr rücksichtsvoll von Ihnen gegenüber den jetzigen Hypothekengläubigern, aber wenn nun das Landvolk sich weigert, überhaupt Zinsen zu zahlen?“ Die Leser wissen, dass wir weit davon entfernt sind, die Verzinsung der Hypotheken in dem Moment, wo wir den Mehrwert überhaupt expropriieren, auf den Staat übernehmen zu wollen, und dass wir das in jenem Artikel, auf den sich Bernstein beruft, mit größtem Nachdruck betont haben, ja selbst die Möglichkeit einer entschädigungslosen Expropriation des Großgrundbesitzes vorausgesehen haben. Wenn die Bauern wirklich soweit sind – dann beweisen sie ja eben dadurch ihre sozialrevolutionäre Reife. An „uns“ werden sie dabei sicher keinen Widerstand in diesen Dingen finden.

Bernstein, der uns zunächst stolz ankündigte, er wolle den Sozialismus „weiterführen“, nämlich darüber, wo ihn Marx und Engels verlassen haben, sucht jetzt im Schatten jener Männer – am Alter des Tempels – Schutz vor den vernichtenden Pfeilen. Was weiß er uns nun hierzu anzuführen? Schon das ist auffallend, dass er seine Mitteilungen aus Anekdoten und Privatbriefen schöpft, als ob Marx und Engels gar keine andere geistige Nachlassenschaft hätten, als ob die gewaltigen literarischen Denkmäler, welche diese Männer sich aufgerichtet haben, bereits zu Staub zerfallen wären. Doch immerhin, was weiß er uns zu sagen? Marx habe „selbst 1872 in Amsterdam [2] erklärt, dass in Ländern wie England und den Vereinigten Staaten (d. h. in demokratischen Republiken es möglich sei, die sozialistische Umgestaltung auf gesetzlichem Wege durchzuführen, und er hat ein anderes Mal hinsichtlich der Bodenfrage in England erklärt, man käme wahrscheinlich am billigsten fort, wenn man die Landlords auskaufte.“ Das erstere ist bekanntlich von der Sozialdemokratie oft gesagt worden und wir haben die theoretische Möglichkeit nie bestritten. Dass man aber auch auf dem „gesetzlichen Wege“ die Ergreifung der politischen Macht durch das Proletariat und die Vergesellschaftung der Produktionsmittel erstrebte, ergibt sich ja gerade aus der zweiten Äußerung vom „Auskaufen der Landlords“. Wir wollen die „Landlords“ und die Fabrikanten ebenfalls „auskaufen“ – nur wollen wir ihnen nicht durch Zinsgarantie den ewigen Renten- bzw. Profitbezug zusichern und glauben dort mit Marx überein zu stimmen. Marx erschien die soziale Revolution so nahe, dass er sich ernstlich mit dem Gedanken beschäftigte, wie wir die „Sippschaft“ – es hieß, so viel wir wissen, die „Bande“, lieber Bernstein! – am schnellsten los werden – Bernstein verschiebt die soziale Revolution in die Ewigkeiten, erklärt die Spekulation darüber für müßig, der „Auskauf“ erscheint ihm als höchst problematisch und er beruft sich dabei – auf Karl Marx!

Ferner beruft sich Bernstein auf Engels. Dieser hat ihm 1889 in einem Privatbrief geschrieben: „Dass die Pariser daran sind, für Boulanger ins Zeug zu gehen, ist ein schlimmes Symptom“ – und daraus folgert Bernstein 1898, dass die soziale Revolution eine Utopie sei! Armer Bernstein! Wie mag es in seinem Kopfe aussehen!
 

III

Wir haben gezeigt, wie haltlos die Bernsteinsche Kritik der sozialrevolutionären Taktik, und wir haben gesehen, wie ohnmächtig er selbst ist, seinen kritischen Standpunkt zu verteidigen. Nun fragen wir uns aber, wie stellt sich denn eigentlich Bernstein selbst die soziale Entwicklung vor. Die Frage ist:
 

Was will Ed. Bernstein?

Auch zu einer bestimmten Antwort auf diese Frage müssen wir uns durch ein Labyrinth von Widersprüchen und Konfusion hindurchtappen. Nach dem ersten Artikel konnte man wenigstens annehmen, dass er die sozialrevolutionären Maßregeln verwirft, nunmehr Wert lege auf die Entwicklung der Genossenschaften, der Kommunalisierungen etc. Der zweite Artikel bringt auch nach dieser Richtung hin eine Absage. Da dies sehr wichtig ist, wollen wir die ausschlaggebenden Stellen wörtlich aufführen:

“Die Vergesellschaftung kann in verschiedenen Formen vor sich gehen: als Verwandlung in Staatsbetrieb, als Verwandlung in Gemeindebetrieb, als Verwandlung in mehr oder weniger verantwortlichen Genossenschaftsbetrieb.

Dass der Staatsbetrieb nicht nach Willkür ausgedehnt werden kann, brauche ich vielleicht selbst Parvus nicht erst nachzuweisen. Und er wird auch wohl begreifen, dass eine Revolution keineswegs ein sehr günstiger Zeitpunkt dafür wäre.

Der Staat oder die oberste Vertretung der Nation, die in einer solche Epoche alle Hände voll zu tun und den Kopf voller Sorgen hätte, müsste wahnsinnig sein, wenn sie sich dann auch noch neue Aufgaben so schwieriger Natur wie die Einrichtung und Kontrollierung umfassender staatlicher Produktionsstätten in Massen aufladen wollte. Ganz abgesehen davon, dass sich nur ganz bestimmte Produktionszweige für den Betrieb auf nationale Rechnung eignen.

Kommt die Gemeinde. Ein Teil des hinsichtlich des Staates Gesagten trifft auch für sie zu. Unternehmungen, die nicht ein regelmäßiges, im Allgemeinen gleichförmiges Bedürfnis der Gemeindemitglieder versorgen, eignen sich nicht für den Gemeindebetrieb. Und selbst wenn Gemeinden sich auf Warenproduktion für den allgemeinen Markt verlegen wollten, könnten sie nur schrittweise vorgehen.

Die Masse der Industrien und Geschäfte bliebe somit dem Betrieb entweder durch private Unternehmer oder durch Genossenschaften überlassen. Und da ist es eine sehr große Frage, ob der Drang nach Genossenschaftsbildung wirklich so groß und kräftig sein würde, wie er von früheren Sozialisten vorausgesetzt wurde. Abgesehen von den Konsumgenossenschaften, die auf einem anderen Blatte stehen, sind die Erfahrungen noch immer sehr bescheidene ... Das Kapitalvermögen, welches die englischen Arbeiter in ihren Spar-, Hilfs- und Gewerkschaftsvereinen aufgehäuft haben, wird auf Hunderte von Millionen Mark geschätzt. Wäre ein starker Drang nach genossenschaftlicher Arbeit vorhanden, so würde er sich unter diesen Umständen immerhin merklich bekräftigen, aber von wenigen Ausnahmen abgesehen, bei denen zumeist auch noch Einflüsse ausschlaggebend waren, die mit dem Genossenschaften an sich nichts zu tun haben, hat sich noch sehr wenig davon gezeigt.“

Wir sind allerdings so verbohrt, zu behaupten, dass, wenn die Sozialdemokratie in den Besitz der politischen Macht gelangt und nicht sofort grundlegende wirtschaftliche Änderungen herbeiführt, von denen die wichtigsten sind: Vergesellschaftung der Industrie, Bergwerke, des Grund und Bodens, die Einführung des Achtstundentags, die Liquidation der Hypothekarschulden, so wäre das nicht nur ein Verrat am Volke, viel niederträchtiger noch als der Verrat der kleinbürgerlichen Demokratie 1848 in Frankreich, sondern eine nicht minder verhängnisvolle Taktik, welche die Revolution ebenso ruinieren würde wie damals in Frankreich. Denn nur durch diese wirtschaftlichen Maßregeln binden wir die ausschlaggebenden Volksklassen mit ihren materiellen Interessen an die Revolution. Doch das nur nebenbei.

Nach dieser formellen Absage an den Staats-, Gemeinde- und Genossenschaftsbetrieb bleibt selbstverständlich nur noch der kapitalistische Privatbetrieb. In seinem ersten Artikel versuchte Bernstein den Nachweis, dass die Vergesellschaftung der Produktion undurchführbar sei, weil die wirtschaftlichen Verhältnisse in ihrer kapitalistischen Entwicklung noch nicht weit genug fortgeschritten seien, in seinem zweiten will er uns auch noch klar machen, dass auch kapitalistisch entwickelte Betriebe sich zur Vergesellschaftung nicht eignen, und er äußert seine großen Zweifel darüber, ob man heute die „Hauptleute der Industrie“ entbehren könne. Unter diesen „Hauptleuten“ versteht er aber nicht etwa die Ingenieure und Fabrikdirektoren, sondern die Fabrikbesitzer bzw. die Aktienbesitzer, ja diese ganz besonders, denn er wendet sich mit großem Pathos gegen uns, weil wir diese übersehen haben sollen, was freilich gar nicht zutrifft.

Bernstein anerkennt also nur eins noch: die kapitalistische Ausbeutungswirtschaft. Das besteht und kann folglich nicht weggeleugnet werden. Das allein ist vernünftig, alles andere ist Utopie. Eine Entwicklung, so viel Worte er auch über „Fortschritt“ und „Vervollkommnung“ macht, sieht er in Wirklichkeit nicht. Hatte er seinen Marx auf Hegel umgestülpt, so fasst er jetzt Hegel ebenso borniert auf, wie es die preußischen Reaktionäre getan haben.

Nach alledem wird auch folgende Äußerung Bernsteins nicht mehr verwundern:

“Und darum sagte und wiederhole ich, dass wenn die Sozialdemokratie bei dieser Entwicklung des Wirtschaftsorganismus ans Ruder kommt, sie den Kapitalismus vorerst nicht entbehren könnte, soll nicht totale Stockung alles Geschäftslebens eintreten und eine Reaktion heraufbeschworen werden, gegen welche der Thermidor und der 2. Dezember [3] harmlos erscheinen würden. Könnte sie ihm aber die Sicherheit gewähren, deren er zur Erfüllung seiner Funktionen bedarf, könnte sie der Geschäftswelt Vertrauen in den regelrechten Gang der Geschäfte – Sicherheit des Eigentums, geordnete Rechtspflege etc – einflößen? Sicherlich am wenigsten, wenn sie unter den Verhältnissen an die Macht käme, die die Zusammenbruchstheorie voraussetzt.“

Die Insinuation, als ob die Revolution einen Zustand der Rechtlosigkeit schaffe, könnte Bernstein wahrlich den Rittern der „Kreuzzeitung“ überlassen. Das ist bekanntlich so allgemein gefasst wie in dieser Äußerung von Bernstein nicht nur eine Insinuation, sondern eine freche Verleumdung. Wenn er aber unter „Sicherheit des Eigentums“ die Unantastbarkeit des Privateigentums an den Produktionsmitteln versteht, so beweist Bernstein damit nur, dass eine soziale Revolution, die das Vertrauen der Kapitalisten selbst genießen soll, ein Unding sei. Dieser Aberwitz existiert aber nur in seinem Kopfe. Die Partei hat ihre sozialrevolutionären Ziele nie auf die Sympathien der Börse gegründet, sondern stets nur auf die materiellen Interessen des arbeitenden Volkes.

Nachdem die deutsche Sozialdemokratie durch Jahrzehnte einen Kampf auf Leben und Tod gegen die politische Macht des Kapitals geführt hat, bleibt ihr nach Bernstein, falls sie endlich das politische Übergewicht erlangt, nichts andres übrig, als sich mit dem Kapitalismus schleunigst zu versöhnen und sich alle Mühe zu geben, dessen Vertrauen zu gewinnen. Wäre das möglich, ohne die Interessen des Proletariats zu verraten?

Geben wir uns doch keinen Täuschungen hin. Es handelt sich bei Bernstein nicht um irgendwelche taktischen Abweichungen, nicht um sozialreformerische Schrullen, sondern einfach um Waffenstreckung vor dem Kapital. Gewiss, er bleibt deshalb arbeiterfreundlich, er tritt für die Fabrikinspektion und ähnliche Dinge ein, aber das ändert nichts daran, dass er jetzt grundsätzlich auf dem kapitalistischen Standpunkt steht. Gibt es doch einen sozialpolitisch geläuterten Kapitalismus, wie es einen „aufgeklärten Despotismus“ gab. Und wir sehen wahrlich nicht ein, inwiefern, praktisch genommen, die letzte sozialpolitische Stellungnahme Bernsteins sich z. B. von der des bekannten freisinnigen Herrn Rösicke unterscheidet? Auch Herr Rösicke will den Arbeitern alles Gute gönnen, auch Herr Rösicke tritt für möglichste Ausbildung der Fabrikinspektion ein, auch er wünscht starke Gewerkschaften, und wenn er während des Berliner Bierboykotts dort gegen die Arbeiter kämpfte, so tat er es aus den selben Rücksichten der „Konkurrenz“, welche Bernstein veranlassten, den englischen Maschinenbauern sein Verdammungsurteil nachzuschleudern!

Man mag Bernstein bedauern, und auch wir sind dieses Gefühls nicht ledig. Armer Tom! „der in der Wut seines Herzens, wenn der böse Feind tobt, Kuhmist als Salat isst, die alte Ratte verschlingt, und den toten Hund, den grünen Mantel des stehenden Pfuhls trinkt.“ Aber zu ändern ist hier nichts mehr.

Mann über Bord!“ Das gab eine Unruhe auf kurze Zeit. Aber Hilfe nützte nichts mehr. Was nun? Wir halten auf unserem Kurs weiter. Volldampf voraus!
 

Die Redaktion der Neuen Zeit

Es sei uns noch ein kurzes Nachwort gestattet. Die Artikel von Bernstein sind in der Neuen Zeit erschienen, der „wissenschaftlichen Revue“ der Partei. War es nun schon sehr auffallend, dass die Redaktion kein Wort des Widerspruches oder selbst des Vorbehaltes gegen die Bernsteinsche „Vernichtung“ der sozialen Revolution fand und den Artikel ohne jede Anmerkung, ohne jeden Zwischensatz passieren ließ, als wenn sie mit den von ihrem ständigen Mitarbeiter, dem „alter ego“ der Redaktion geäußerten Ansichten völlig einverstanden wäre, so könnte das doch noch immerhin aus Versehen geschehen. Von einem Versehen konnte schon freilich nicht mehr die Rede sein, als der Bernsteinsche Artikel in der Parteipresse angegriffen wurde. Da durfte man erwarten und erwartete nun auch, nun werde die Redaktion – will heißen: Karl Kautsky – das Wort ergreifen und Klarheit schaffen, nach dieser oder jener Richtung hin. Es war die unbestrittene Pflicht der Redaktion der einzigen marxistischen Revue der Welt, in dieser wichtigen Angelegenheit Stellung zu nehmen, offen Farbe zu bekennen. Was tut aber Karl Kautsky, der bislang kühne Kämpfer des wissenschaftlichen Sozialismus, der „Unversöhnliche“, der „Papst“ etc. etc.? Er schreibt zu dem zweiten Bernsteinschen Artikel, den wir soeben kritisiert haben folgende Anmerkung:

„Dieser Artikel veranlasste neben zahlreichen Kommentaren in der bürgerlichen und Parteipresse auch eine Reihe von Einsendungen an unsere Zeitschrift, die gegen Bernstein polemisieren. Wir haben von ihrer Veröffentlichung absehen müssen, weil sie alle von missverständlichen Auffassungen ausgingen. Ein neuer Gedankengang, der nur in polemischer Form und noch dazu in dem engen Rahmen eines Artikels entwickelt wird, entgeht schwer dem Schicksal, missverstanden zu werden. Eine Diskutierung der Bernsteinschen Ideen erscheint uns daher erst dann zweckmäßig, wenn die von ihm begonnene Artikelreihe abgeschlossen ist. Wir bitten unsere Herren Mitarbeiter, etwaige weitere Einsendungen in der Sache bis dahin aufzuschieben. Vorläufig gedenken wir nur Bax das Wort zu erteilen, der uns eine Entgegnung angekündigt hat, und hoffen die Diskussion des besonderen Baxschen Standpunktes damit zu erledigen.“

„Ein neuer Gedankengang“ diese abgeschliffene sozialreformerische Salbaderei und diese dutzendfach widerlegte vulgärökonomische Bekrittelung des Sozialismus! Wenn das ein neuer Gedankengang ist, den wir erst zu diskutieren haben, dann enthalten die gesamten 15 Jahrgänge der „Neuen Zeit“ nichts als Irrtum und Aberwitz, dann war die gesamte wissenschaftliche Tätigkeit von Kautsky selbst nichts als ein großer Irrtum, ein „Missverständnis“. Da geht es schon ins 16. Jahr, dass dieser Mann an der Pforte der „Neuen Zeit“ niederkauert und emsig bemüht ist, die einlaufenden Manuskripte durch das Nadelöhr des marxistischen Prinzips durchzuziehen, um zuletzt die Bernsteinsche Absage an die soziale Revolution wie an den Sozialismus als „neuen Gedankengang“ zu feiern. Jetzt erst fällt es ihm ein, nachdem er unzählige Bände geschrieben und redigiert hat, dass er eigentlich stets Unrecht hatte. „Die Neue Zeit wurde stets von den bürgerlichen Ökonomen als Mördergrube aufgefasst. Jetzt feiern diese Toten ihre Auferstehung. Welche Freude für die Herren Platter, Julius Wolf etc. etc.!

Ist aber Kautsky mit Bernstein nicht einverstanden, warum schweigt er? Allerdings erscheint jetzt aus seiner Feder eine Artikelserie über Kolonialpolitik, in der er, so weit sich bis jetzt beurteilen lässt, entschieden gegen die kapitalistische Kolonialpolitik Stellung nimmt. Aber das erschöpft nicht die Frage, das ist jetzt sogar in den Hintergrund getreten gegenüber den allgemeinen Fragen der sozialen Revolution und des Sozialismus. Hier heißt es Stellung nehmen. Wie stellt er sich zu den Bernsteinschen Artikeln, darüber hat uns Kautsky eine unzweideutige Antwort zu geben. Aber er schweigt – mehr noch, er ergeht sich in Redensarten, die ein gewisses Einverständnis mit Bernstein vermuten lassen, und er hält die Einsendungen zurück, die sich gegen Bernstein richten.

Heraus mit dem Flederwisch, Freund Kautsky! Haben sie „neue Gedanken“ à la Bernstein, dann bemühen Sie sich doch damit gefälligst an die Öffentlichkeit, damit wir sie prüfen können, wie wir soeben Bernstein geprüft haben.

* * *

Anmerkung

A. In seiner Berufung auf das Programm verwechselt Bernstein das „Endziel“ des Sozialismus als Resultat einer bestimmten geschichtlichen Entwicklung der Gesellschaft, das nur eine bestimmte soziale Umgestaltung sein kann, mit den idealistischen Wünschen und Hoffnungen, welche die Persönlichkeiten daran knüpfen. So wurde denn jene Äußerung des Programms stets nur in dem Sinne aufgefasst und nie als ein politischer Kernpunkt. Fragt man die Leute, was sie am allerletzten Ende wollen oder erstreben, so wird man lauter Übereinstimmung in den Wünschen finden – die Wirklichkeit aber ist eine Welt von Interessengegensätzen. Und das ist der Unterschied zwischen der materialistischen und der idealistischen Auffassung, dass die erstere ihre Ziele und Wünsche unmittelbar aus den bestehenden Gegensätzen und ihrer voraussichtlichen Entwicklung ableitet, währenddem die letztere bestimmte Wünsche und Hoffnungen, ein „Ideal“, ein „Prinzip“ zum Ausgangspunkt hat, daraufhin sich die Welt anschaut oder sogar eine Welt konstruiert. Darum haben wir Bernstein einen Ideologen genannt, als er das „Endziel des Sozialismus“ im Sinne der allgemeinen Vergesellschaftung der Produktion, das wir stets aus der Produktionsentwicklung und den vor sich gehenden Klassenkämpfen abgeleitet haben, beiseite schob, und an dessen Stelle den „sozialen Fortschritt“ setzte, einen verschwommenen Begriff, der sich nicht aus der geschichtlichen Entwicklung ergibt, sondern das Resultat ist der moralischen Beurteilung dieser geschichtlichen Entwicklung, ihre Nachprüfung an dem idealistischen Maßstab des Gut und Böse. Die Geschichte selbst kennt ebenso wenig Fortschritt oder Rückschritt wie die Natur – was aber dem einen Fortschritt erscheint, ist vielleicht dem anderen Rückschritt, behauptet doch die Bourgeoisie stets, der Sozialismus sei eine Rückkehr zur Wildheit, der Triumph der Barbarei! Wir haben Bernstein einen Ideologen genannt, weil jener Begriff des „sozialen Fortschritts“ gerade das idealistisch überkleistert, was die materialistische Triebfeder der Geschichte bildet: die Klassengegensätze, den politischen Kampf. Jener Sozialismus der „allgemeinen Vervollkommnung“, den jetzt Bernstein predigt, ist höchstens der Sozialismus von Owen, St. Simon, Fourier, also der alten Utopisten, er lässt gerade das fortfallen, was Marx und Engels hineingetan haben: die Erfassung des Sozialismus nicht als ausgedachtes Ideals, sondern als ein Entwicklungsprodukt. Ein „Gesellschaftsprinzip“ war der Sozialismus für Fourier und St. Simon, und darum glaubten sie, die Hauptsache sei, alle Welt von der Richtigkeit und Zweckmäßigkeit dieses Prinzips zu überzeugen. – Marx und Engels haben aber den Sozialismus als das Ergebnis des proletarischen Klassenkampfes, den nicht sie erfunden haben, sondern vorfanden, aufgefasst, und darum legten sie das Schwergewicht auf die Organisation und Leitung dieses Kampfes.

Den Vorwurf der „Ideologie“ scheint Bernstein am wenigsten vertragen zu können, aber was er zur Abwehr zu sagen weiß, ist: „selbst Ideologe!“ Er tut so, als ob wir, weil wir im Sozialismus nicht die Verwirklichung eines „Prinzips“, das nur als dem Reich der Phantasie in die Entwicklung hineingetragen werden kann, erblicken können, deshalb alle Rechtsformen und Rechtsgrundlagen überhaupt negieren müssen. Fällt uns nicht ein – die Rechtsformen haben eine sehr „materielle“ Vertretung: in den Gefängnissen, Richtern etc. Sie sind ebenso „materiell“ wie die politische Macht, die „wir“ uns erkämpfen wollen! Wir überlassen es dem Geiste Bernsteins, ein philosophisches Prinzip mit einer Rechtsform, welche die Entwicklung schafft, diese Rechtsform wieder mit den in der Entwicklung zum Ausdruck kommenden Gesetzen zu verwechseln, und aus einem abgeleiteten Gesetz eine „herrschende Regel“ zu machen!

1. Gemeint ist E. Bernsteins Umwälzung des Sozialismus, tatsächlich erfolgte in der Zeitung keine Fortsetzung. Sie hatte aber eine „wissenschaftliche Beilage“ in der eine Fortsetzung erschien.

2. Gemeint ist der Kongress der Ersten Internationale 1872 in Den Haag.

3. Politische Konterrevolutionen gegen die französischen Revolutionen von 1789–94 und 1848.


Zuletzt aktualisiert am 26. Mai 2024