Parvus (Aleksandr Helphand)

Keinen Mann und keinen Groschen!

Einige Betrachtungen über das bayerische Budget

(Oktober 1894)


Aus: Die Neue Zeit, XIII. Jahrgang 1894–95, I. Band, Heft 3, S. 80–87.
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Die parlamentarische Stellung der Sozialdemokratie unterscheidet sich wesentlich von der bürgerlicher Parteien. Die Sozialdemokratie ist revolutionär der heutigen Gesellschaftsordnung wie dem heutigen Staat gegenüber. Sie verwirft den herrschenden Zustand der Dinge, weil er schon in seiner ökonomischen Grundlage die Klassenspaltung und die Ausbeutung und Unterdrückung des arbeitenden Volkes durch die Kapitalistenklasse bedingt; sie will diese Grundlage umwälzen, damit eine neue Gesellschaftsform sich frei entwickeln könne.

Deshalb sind ihr aber die Erscheinungen des politischen Lebens keineswegs gleichgültig, ebenso wenig wie die ökonomischen Änderungen. Eine gesellschaftliche Revolution muss ihre Stützpunkte schon in der untergehenden Gesellschaft haben. Eine Gesellschaftsform wächst aus der anderen heraus. Es gibt Einflüsse, welche die gesellschaftliche Entwicklung fördern und solche, die sie hemmen: letztere zu beseitigen oder mindestens zu schwächen, jene zu stärken ist die Aufgabe der revolutionären Partei. Die Sozialdemokratie verwirft die Gesamtheit des Kapitalismus, die herrschende Ordnung, das System, sie erkennt aber in der sich vollziehenden Entwicklung die Ansätze einer künftigen Gestaltung, sie unterscheidet die Dinge und Bewegungen, die ihr günstig oder die unerlässlich sind, von denen, deren Schwächung oder Vernichtung mit der Schwächung oder Vernichtung der kapitalistischen Ausbeutung organisch verbunden ist.

Dem entsprechend war auch bis jetzt das parlamentarische Verhalten der Sozialdemokratie: Ablehnend im Ganzen, zustimmend in machen Einzelheiten.

Dagegen stehen die „Ordnungsparteien“ prinzipiell auf dem Boden der heutigen Gesellschaft. Mag im Einzelnen ihr Tadel bzw. ihre Opposition noch so weit gehen, sie sind stets bereit, das Ganze, das System bis aufs Äußerste zu verteidigen. Sie verhalten sich parlamentarisch von vornherein und prinzipiell zustimmend, wenn auch ablehnend in einzelnen Fällen.

Es ist daher begreiflich, dass die sozialdemokratische parlamentarische Fraktion bisher viel öfter in die Lage gekommen ist, ihr Votum gegen als für eine staatliche Maßregel abzugeben.

Besonders scharf tritt die prinzipielle politische Stellung der Sozialdemokratie in der Ablehnung des Budgets hervor.

Die Zustimmung zum Budget ist gleichwertig mit der Zustimmung zur herrschenden politischen Ordnung, weil dadurch die Mittel bewilligt werden, um diese Ordnung aufrecht zu erhalten; sie ist ferner ein Vertrauensvotum für die Regierung, für die politischen Vollzugsorgane. Den Ordnungsparteien fällt es daher auch nicht ein, gegen das Gesamtbudget zu stimmen. Ganz konsequent, denn obzwar ihnen mancher Budgetposten reformbedürftig erscheinen mag, so ist dies doch kein Grund, deshalb das Ganze, von ihnen anerkannte politische System in die Brüche gehen zu lassen.

Indem die Sozialdemokratie gegen das Budget stimmt, zeigt sie, dass sie entschlossen ist, das herrschende System von Grund aus zu beseitigen, und zeigt gleichzeitig, dass sie die monumentalen politischen Vollzugsorgane vorzüglich als Vertreter kapitalistischer Interessen betrachtet. Sie befindet sich dabei im Einklang mit der allgemeinen Volksstimmung. Das Budget spiegelt getreulich in den Einnahmen wie in den Ausgaben den kapitalistischen Charakter des Staates ab. Die Steuern lasten hauptsächlich auf dem arbeitenden Volke, ihre Verwendung kommt aber ihm am wenigsten zu Gute. Deshalb weckt nichts so sehr die Unzufriedenheit wie die Steuererhebung. Die Sozialdemokratie bringt diese Stimmung in eine allgemeine Formel und sagt: „Wir wollen nicht das ausgebeutete Volk noch obendrein mit Steuern belasten und wir wollen nicht, dass gewaltige Summen für Zwecke ausgegeben werden, die dem Volkswohl wenig dienlich sind.“

Die Verweigerung des Budgets bedeutet keineswegs, dass man das Zweckmäßige in ihm nicht anerkennt. Aber es erscheint der Sozialdemokratie im kapitalistischen Staatsbudget das wenige Gute als unbedeutend gegenüber dem ganzen Aufbau, in dem sich grell und scharf die kapitalistische Herrschaft offenbart: „Diesem System keinen Mann und keinen Groschen!“

Noch ein eminent wichtiges Moment muss in Betracht gezogen werden. Die Budgetablehnung ist das schärfste parlamentarische Kampfmittel, das einer politischen Oppositionspartei zur Verfügung steht. Der Kapitalismus hat zwar mit seiner Entwicklung der Industrie und des Weltmarktes die Machtmittel des Staates ungemein erweitert und gestärkt, aber mit der ökonomischen Tätigkeit der Gesellschaft hat er auch die Macht des Staates in einem Punkt konzentriert – im Geldbesitz. So ist ein Zustand erreicht worden, bei dem die gesamte Staatsmaschinerie mit einem Schlag in Stockung gebracht werden kann, wenn man die Geldquellen des Staates verschließt. Der Geldbedarf macht den Staat abhängig von der Kapitalistenklasse, bzw. vermittelst der Staatsschulden von der Plutokratie, von der Börse, er liefert aber auch jeder entschiedenen Oppositionspartei ein Kampfmittel, dessen Anwendung mit dem Wachstum der Partei schließlich dazu führen muss, eine jede ihr entgegenstellende gesetzliche Regierung unmöglich zu machen.

Ganz besonders in Deutschland ist die Budgetablehnung das einzige parlamentarische Kampfmittel der Sozialdemokratie, dessen Wirkung sich die herrschende Klasse nicht entziehen kann. Denn die gesamte Gesetzgebung wird im Reiche durch den Bundesrat, in den Einzelstaaten durch die privilegierten Kammern in Schach gehalten. In dieser Beziehung haben die herrschenden Klassen Deutschlands eine stark verschanzte Position. Nur das Budget ist nicht genügend gesichert.

Die prinzipielle Stellung der Sozialdemokratie lässt selbstverständlich praktische Varianten zu. Im Allgemeinen verliert der Kampf um das Budget desto mehr an Intensität, an revolutionärer Schärfe, je größer die Machtbefugnisse des Parlaments sind und je weniger sich in der Volksvertretung die Herrschaft der Kapitalistenklasse geltend macht. Wir kennen aber nur ein einziges Land, in dem die Zustimmung zum Budget durch die sozialdemokratische Taktik geboten sein kann. Das sind die demokratischen Staaten der Schweiz.

In neuester Zeit scheinen sich auch deutsche Staaten, namentlich Bayern, dazu gesellt zu haben. Wenigstens zwingt der Umstand zu dieser Annahme, dass die sozialdemokratische Fraktion des bayerischen Landtags für das Budget gestimmt hat. Auf dem jüngsten bayerischen Parteitag wurde auch wiederholt darauf verwiesen, dass man nach genauer Untersuchung und reiflicher Überlegung an einem Budget von 328 Millionen nur etwa 13 Millionen herausgefunden hat, die zu verwerfen wären, also den dreißigsten Teil! Als wir das lasen, dachten wir unwillkürlich: „Das müssen doch rein paradiesische Zustände sein, die in Bayern herrschen. 300 Millionen, die doch offenbar aus den Taschen der Reichen fließen, zum Wohle des Volkes verwendet, das macht bei einer Bevölkerung von 6 Millionen rund 50 Mark pro Kopf, 200 Mark per Familie im Jahr – was kann man nicht alles damit beginnen!“ Andererseits waren uns aber noch die sehr instruktiven Ausführungen von A. Müller in dieser Zeitschrift in lebhafter Erinnerung, die gerade kein anmutiges Bild von den bayerischen Verhältnissen entwarfen, vom ökonomischen Zustand wie von den administrativen Usancen. Wir sahen uns deshalb das bayerische Budget etwas näher an. Nicht ohne einige Beklemmung als Nichtbayer. Denn, wie Vollmar sagt, wer die Verhältnisse in Bayern nicht kennt, lasse die Hände weg. Zu diesem Nachteil gesellt sich noch der, dass es uns leider nicht gelang, das eigentliche in Rede stehende Budget, das von 1894 und 1895, in der kurzen Zeit seit dem bayerischen Parteitag aufzutreiben. Unsere Bemerkungen können daher nur als die durchaus unmaßgebliche Meinung eines Dilettanten in bayerischer Politik gelten. Hoffentlich sind sie trotzdem nicht völlig wertlos.

Vor mir liegt das bayerische Budget „für ein Jahr der XXI. Finanzperiode 1892 und 1893“. Es genügt notdürftig für unseren Zweck, da es sich nur um seinen allgemeinen Charakter, nicht um einzelne Positionen handelt. Also zweijährige Budgetperiode! Schon hier ein Stein des Anstoßes. Denn die demokratischen Grundsätze erfordern möglichst kurze Finanzperioden, das ist alljährliche Budgetbewilligung.

Dieses Budget beträgt pro Jahr in Einnahme und Ausgabe 301 Millionen Mark. Doch ist darin noch die Anteilnahme Bayerns am Reichsbudget enthalten: in den Einnahmen die Reichsüberweisungen aus dem Ertrage der indirekten Steuern und Zölle nebst Vergütung der Erhebungskosten, diesmal 36 Millionen Mark, und in den Ausgaben der bayerische Matrikularbeitrag, diesmal 42 Millionen Mark. Da diese Beträge in keiner Weise von der Kompetenz des bayerischen Landtags abhängen, so müssen sie bei der Entscheidung der Stimmabgabe vom Budget abgezogen werden.

Es verbleiben bei den Einnahmen 265 und bei den Ausgaben 259 Millionen Mark.

Allein diese großen Zahlen geben keine richtige Vorstellung von den Summen, die in Bayern tatsächlich für Staatszwecke zur Verfügung stehen. Wie die Nahrung der bayerischen Bauern zwar sehr massenhaft ist, aber aus Ingredienzien besteht, die er, kraft der physiologischen Gesetze, gezwungen ist, der Natur wiederzuerstatten, so vermag auch die bayerische Finanzverwaltung von den Summen, die sie empfängt, nur relativ Weniges für Staatszwecke zu absorbieren.

Da ist z. B. der große Posten „Staatseisenbahnen“. Er erscheint in der Einnahme mit 109 Millionen, also mehr als einem Drittel des Ganzen. Aber gleich auf der anderen Seite stehen ihm 72 Millionen Ausgaben gegenüber. Bleiben 37 Millionen. Wer da glaubt, diese gehören dem Staat, der irrt sich.

Diese Millionen gehören der Börse, den Besitzern der Eisenbahnschuldscheine. Die Zinsen auf die Eisenbahnschuld verschlingen den gesamten Reingewinn. Und dieser reicht nicht einmal aus, 1.700.00 Mark mussten 1892 bzw. 1893 vom Staate noch zugezahlt werden. Für diese Schuldknechtschaft ist kein Ende abzusehen, denn es findet keine Tilgung der Eisenbahnschuld statt. Dagegen kostet den Staat die Verwaltung der Eisenbahnschuld noch extra an 200.000 Mark jährlich.

Woher aber die 2 Millionen zur Deckung des Ausfalls nehmen? Zu diesem Zweck leistet der Malzaufschlag willkommene Dienste.

Was ist also das Resultat der bayerischen Staatseisenbahnwirtschaft? Dass der Staatsmechanismus dazu verwendet wird, der Kapitalistenklasse einen Gewinn von vielen Millionen zu verschaffen, dass der Staat dafür den Kapitalisten noch ein Extrahonorar von 2 Millionen aus dem Steuersäckel abliefert und dass das Volk die Zeche zahlt, indem sein Bier verteuert wird, das bekanntlich in Bayern weit mehr als ein bloßes Genussmittel ist.

Wir können uns hier nicht in Erörterungen über die Ursachen dieser Misswirtschaft einlassen, nur ein paar Worte über ein einfaches Mittel, wodurch das Übel wenigstens bedeutend gemildert werden könnte. Bayern zahlt für seine Eisenbahnschuld 4 Prozent. Dagegen schließt das Reich seine Anleihen seit einer Reihe von Jahren faktisch zu 3½ Prozent ab. Zu diesen Bedingungen wäre es jetzt auch Bayern möglich, eine Anleihe zu erhalten. Es genügte also, die Eisenbahnschuld zu konvertieren, d. h. die alte Schuld durch eine neue Anleihe zu ersetzen, um ½ Prozent zu profitieren. Das macht eine Bruttoersparnis von 5 Millionen jährlich. [1] Der Eisenbahnetat würde dann wenigstens positiv abschließen. Es ist klar, dass die Kapitalistenklasse ein lebhaftes Interesse an dem jetzigen verkehrten Zustand der Dinge hat, vielleicht auch mancher Großbauer, der eine oder mehrere Eisenbahnobligationen besitzt. Allein das Großbauerntum ist nicht das Bauerntum überhaupt, und wie sich dieses, wie sich die Arbeiterklasse, wie sich das gemeine Volk überhaupt dazu zu stellen hat, braucht nicht erst auseinandergesetzt zu werden. Wir übergehen die übrige privatwirtschaftliche Tätigkeit des bayerischen Staates, da uns sonst die Untersuchung zu weit führen würde. Werfen wir dagegen einen Blick in die Art und Weise, wie sich das eigentliche Staatsbudget aufbaut.

Die Einnahmen (mit den oben begründeten Ausschlüssen) setzten sich 1892 und 1893 folgendermaßen zusammen:

I. Direkte Steuern

Absolut

Prozentsatz

Grundsteuer

  11.506.000 Mark

 

Haussteuer:

 

 

Arealsteuer

       733.000 Mark

 

Mietsteuer

    4.514.000 Mark

 

Gewerbesteuer

    6.503.000 Mark

 

Kapitalrentensteuer

    3.970.000 Mark

 

Einkommensteuer

    2.065.000 Mark

 

Erbschaftssteuer

    2.100.000 Mark

 

Summa I

  31.401.000 Mark

  21,1

II. Verwaltungseinnahmen

 

 

Gebühren und Stempelabgaben

   18.468.100 Mark

 

Strafen

       582.600 Mark

 

Summa II

  19.050.000 Mark

  12,7

III. Indirekte Steuern

 

 

Malzaufschlag

  35.551.900 Mark

 

Kleine Einnahmen

       185.400 Mark

nbsp;

Summa III

  35.737.300 Mark

  24,0

IV. Luxussteuer

 

 

Hundesteuer

    1.240.000 Mark

    0,8

V. Grundgefälle

 

 

Summa für sich

    7.268.011 Mark

    4,9

VI. Erwerbseinkünfte

 

 

Reinertrag

  52.778.517 Mark

  35,4

VII. Verschiedenes

 

 

Summa für sich

    1.690.100 Mark

    1,1

Insgesamt

149.164.928 Mark

100,0

Die Einnahmen aus direkten Steuern bilden nur ein Fünftel der Gesamtsumme. Aber auch diese bestehen in mehr als einem Drittel aus der Grundsteuer. Die Nachteile der Grundsteuer sind bekannt: sie unterscheidet nur die natürlichen Verschiedenheiten und in groben Zügen die Verschiedenheiten der Wirtschaftsweise, lässt dagegen völlig unberücksichtigt die Verschiedenheiten der Arbeitskräfte, des Vermögens und des Einkommens. Sie betrachtet den Grund und Boden als Kapital, währenddem er noch in vielen Fällen nur ein Produktionsmittel in den Händen des Arbeiters ist, der sich durch eigene Arbeit die Subsistenzmittel zu sichern sucht. Der Kleinbauer, der Kartoffeln baut, um damit seine kärgliche Existenz zu fristen, muss für seinen Hektar Land ebenso viel bezahlen wie der reiche Großgrundbesitzer, der die Kartoffeln zur Schnapsbrennerei verwendet. Außerdem ist sie trotz ihrer komplizierten und kostspieligen technischen Durchführung unsicher und lässt für Beeinflussungen aller Art Tür und Tor offen. Dass sie in einem Lande mit vornehmlich bäuerlichem Grundbesitz hauptsächlich auf dem Bauerntum lastet, liegt auf der Hand. Zum Überfluss möge noch erwähnt werden, dass in Bayern die Standesherren wenigstens eine teilweise Befreiung von der Grundsteuer genießen, ebenso ein Teil der Geistlichkeit. Es ist dies keine zur Begeisterung aufreizende Steuerart.

Die Haussteuer verschont nicht einmal die armselige Hütte des geringsten Parzellenbauern, dagegen bleiben die Schlösser der Standesherren von dieser Steuer völlig frei, die Schlösser nebst Wohnungen der Dienerschaft, Remisen, Stallungen etc.

Die Gewerbesteuer ist eine ungemein komplizierte bürokratische Einrichtung. Sie trifft selbst den kleinsten Höker, aber schon die geringste Summe, die sie einbringt, zeigt deutlich, dass sie nicht im Stande ist, den wirklichen Ertrag zu erfassen. Besonders hart wird dadurch das Gewerbe im Umherziehen getroffen.

Unseres Erachtens kann die Sozialdemokratie selbst von den direkten Steuern nur den Kapitalrenten-, Einkommens- und Erbschaftssteuern prinzipiell zustimmen. Wie zartfühlend sich bei diesen Steuern der bayerische Staat verhält, erhellt aus den lächerlich geringen Erträgen.

Zu bemerken ist noch, dass die bayerische Einkommenssteuer keine allgemeine ist. Sie hat vielmehr zum speziellen Zweck nur dasjenige Einkommen zu treffen, das durch die anderen direkten Steuern nicht berührt wird. Das Kapitaleinkommen wird also von ihr nicht getroffen. Der Steuersatz erhebt sich nicht über 1 Prozent. Nichtsdestoweniger sind die Standesherren nebst verschiedenen anderen bevorzugten Personen auch von dieser Steuer befreit. Und um den Klassengegensatz vollends zum Ausdruck zu bringen, kennt dieses Gesetz nur ein fakultatives Existenzminimum, d. h. die Befreiung von der Steuer tritt nur ein, wenn Jemand sich als unfähig zum Steuerzahlen amtlich angemeldet und den Nachweis seiner wahrheitsgetreuen Angabe führt. In diesem Falle beträgt das zulässige Existenzminimum die horrende Summe von – 400 Mark! [2]

Die Gebühren- und Stempelabgaben stammen aus der Justizverwaltung. Unser Programm enthält den Satz: „Unentgeltlichkeit der Rechtspflege“.

Über die Biersteuer (ein Viertel der Gesamtsumme) braucht man kein Wort zu verlieren.

Etwas ganz Apartes sind die „Grundgefälle“. Sie sind die Überreste der alten herrlichen Zeit der Leibeigenschaft. Sie bestehen noch jetzt zu einem Teil aus Naturalbeiträgen. Zum anderen Teil sind sie in Geldzinsen verwandelte feudale Naturalleistungen, auf jeden Fall Rudimente einer untergegangenen Form der Klassenherrschaft.

Die Bilanz aus unserer Analyse der Staatseinnahmen Bayerns mag der Leser selbst ziehen.

Wie steht es nun mit den Ausgaben? Sie müssten besonders volksfreundlich sein, sollten sie die Annahme eines auf diese Weise zusammengesetzten Etats rechtfertigen. Sehen wir zu!

Abzüglich der Erhebungs-, Betriebskosten etc. bleiben für Staatszwecke 171 Millionen Mark. Davon ab der Matrikularbeitrag, so beträgt der zu bewilligende Rest rund 129 Millionen Mark. Wie wird er verwendet?

Als Hauptsumme gehen 50 Millionen Schuldzinsen weg. Darunter 39 Millionen Eisenbahnzinsen, über die wir uns schon verbreitet haben. Die übrigen Schulden sind hauptsächlich Kriegsschulden.

Für die politischen Aufgaben des Staats, den eigentlichen Zweck seiner Existenz, bleiben bloß 79 Millionen. Es liegt uns fern zu bestreiten, dass unter den Ausgaben sich vollkommen zu billigende befinden. Aber hier wie überall wird unsere Stellung durch das Ganze bestimmt und nicht durch den Teil. Überall, in jeder Einzelheit macht sich der Geist der kapitalistischen Klassenherrschaft geltend. Die Justiz und die administrative Verwaltung sind zweifellos unentbehrlich, aber in der kapitalistischen Gesellschaft kommen der Sicherheitsdienst wie die Rechtspflege überwiegendermaßen der Kapitalistenklasse zu Gute. Dass Gelder für die Justiz ausgegeben werden müssen, anerkennen wir wohl, aber wir anerkennen nicht die Zweckmäßigkeit der jetzigen Justiz mit ihrer Kostspieligkeit und den Einflüssen, denen sie ausgesetzt ist. Oder selbst die Ausgaben für Erziehung und Bildung. Sie dienen nicht dem arbeitenden Volke, sondern fast ausschließlich den Besitzenden. Wenn wir eine Institution verwerfen, so werden wir doch nicht gleichzeitig suchen, sie aufrecht zu halten.

5,4 Millionen beträgt der eiserne, nicht mehr zu vermindernde Etat des königlichen Hauses und Hofes. Eine Partei von Arbeitern kann nicht so viel Geld einer einzelnen Familie zuwenden. Als Republikaner können wir am monarchischen Prunk keinen Gefallen finden.

6 Millionen gehen an die Kirche, deren Trennung vom Staat unser Programm fordert.

Das Resultat unserer Analyse des bayerischen Staatsbudgets lässt sich in zwei Punkten zusammenfassen:

Danach sollte man annehmen, dass über unsere Stellungnahme zu dem Budget ein Zweifel nicht möglich sei. Heißt es doch unter Ziffer 10 des Programms: „Stufenweise steigende Einkommens- und Vermögenssteuer zur Bestreitung aller öffentlichen Ausgaben, soweit diese durch Steuern zu decken sind. … Abschaffung aller indirekten Steuern, Zölle und sonstigen wirtschaftspolitischen Maßnahmen, welche die Interessen der Allgemeinheit den Interessen einer bevorzugten Minderheit opfern.“

Allerdings ist das Steuerbewilligungsrecht des bayerischen Landtags in hohem Grade beschränkt. Nach der angeführten Zusammensetzung des Budgets hat der Landtag eigentlich nur über ca. 50 Millionen Einnahmen zu bestimmen. Aber von diesen entfallen allein auf die Grundsteuer und die Gebühren 30 Millionen, die doch entschieden zu verwerfen sind. Das sind 60 Prozent der zu bewilligenden Summe. Der Rest wird gebildet aus allen übrigen direkten Steuern, deren Charakteristik oben gegeben worden ist. Uns dünkt es, dass gerade die Kürzung des Budgetrechts zu einer desto schärferen Kritik des zu bewilligenden Teiles führen müsste. Ferner, soll denn bei der Bewilligung der Ausgaben nicht auch der Umstand in Betracht gezogen werden, dass ihre Deckung nicht in gleichem Maße vom Willen der Volksvertretung abhängt? Schließlich, ist denn diese Verstümmelung der Rechte des Parlaments nicht für sich schon Grund genug, gegen ein solches System zu stimmen? Wird nicht unter solchen Umständen die ganze Budgetabstimmung zum einfachen Vertrauensvotum für die Regierung bzw. Verwaltung? Und haben die bayerische Regierung bzw. Verwaltung dieses Vertrauensvotum verdient?

Das bayerische Budget erscheint in seiner ganzen Veranlagung als ein Gemisch von kapitalistischen Tendenzen und Überresten der Feudalherrschaft, in dem sich kein Platz für Interessen des gemeinen Volkes findet. Dieses Beispiel rechtfertigt also vollkommen die von uns Eingangs entwickelte prinzipielle Stellung der Sozialdemokratie zum kapitalistischen Staat. Wenn man auch für manchen einzelnen Budgetposten stimmen könnte, so muss man das Ganze ablehnen.

„Das mag in der Theorie richtig sein“, könnte man vielleicht einwenden, „aber die Praxis geht ihre eigenen Wege. Sie hat mit den momentan gegebenen Verhältnissen des einzelnen Falles zu rechnen, und es wäre doktrinär, alles unter einer theoretischen Schablone bringen zu wollen.“

Gewiss hat die Praxis mit den tatsächlichen Verhältnissen zu rechnen, aber nichtsdestoweniger muss sie mit der Theorie übereinstimmen.

Zwischen Praxis und Theorie darf es keinen Gegensatz geben. Die Theorie ist nur die prinzipielle Zusammenfassung der Wirklichkeit. Ist sie richtig, so muss sie im Stande sein, die Praxis zu leiten.

Wenn man daher nicht mehr vermag, die Theorie und Praxis miteinander in Einklang zu bringen, die Praxis aus der Theorie zu erklären, die theoretischen Sätze in die Praxis umzusetzen, so ist dies ein sicheres Zeichen, das entweder auf der einen oder anderen Seite etwas falsch ist.

Wen ein solcher Zwiespalt innerhalb der Sozialdemokratie entstehen sollte, dann wäre es höchste Zeit die theoretischen Grundsätze, die bis jetzt die Arbeiterpartei durch ein halbes Jahrhundert von Sieg zu Sieg geführt haben, einer strengen Kritik zu unterwerfen, aber auch genau zu untersuchen, ob man die richtige Praxis befolgt, ob man nicht unmerklich vom Wege abgewichen ist, der zum erwünschten Ziele führt.

Wir wissen nicht, inwiefern die Eigentümlichkeit des bayerischen Volkscharakters wirklich eine Abweichung von dem bis jetzt bei der Budgetbewilligung eingenommenen Standpunkt erheischen. Wir können es nicht beurteilen. Aber wäre es nicht höchst sonderbar, wenn gerade dem bayerischen Bauern die Grundsteuer ans Herz gewachsen sein sollte, wenn er ein besonderes Gefallen an den „Grundgefällen“ hätte, die er zu entrichten hat, wenn er sein Bier lieber teurer als billiger bezahlen möchte, wenn er mit Vorliebe zahlreiche Millionen in die bodenlosen Taschen der Kapitalisten gleiten ließe etc.?!

Auch praktisches Bestreben kann ausarten. Und was als taktischer Scharfsinn erscheint, kann es nicht bloß übertriebene Vorsicht sein?

Es war ein faustischer Geist, der bis jetzt die Sozialdemokratie beseelte. Ein Streben nach gewaltigen Taten, ein umfassender Blick, ein Beginnen berechnet auf welterschütternde Geschehnisse.

Aber es ist auch in der Politik wie in der Forschung der Wagnersche Standpunkt berechtigt. Der Standpunkt, bei dem man

„Mit gier’ger Hand nach Schätzen gräbt
Und froh ist, wenn man Regenwürmer findet.“

Es fragt sich bloß, wie weit man damit kommt in einer Zeit der gewaltigsten Umwälzungen.

* * *

Fußnoten

1. Eine solche Konvertierung fand schon einmal 1879/80 statt, wobei der Zinsfuß von 4½ auf 4 Prozent herabgesetzt wurde.

2. Übrigens hat dies zur Folge, dass den Arbeitern das Wahlrecht gewährt wird, das in Bayern an die Entrichtung einer direkten Steuer gebunden ist.


Zuletzt aktualisiert am 15. April 2024