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Aus: Arbeiterpolitik, 3. Jg, Nr. 50, 14. Dezember 1918, S. 303–4.
HTML-Markierung und Transkription: J.L.W. für das Marxists’ Internet Archive.
Die Frage der Demokratie ist jetzt die große Streitfrage in der Reorganisation Deutschlands. Die vorläufige Regierung tut ihr Möglichstes die alte Staatsgewalt zu festigen gegen die neue revolutionäre Gewalt der Arbeitermassen. Ihr kommt dabei die ganze geistige Erbschaft der alten sozialdemokratischen Partei zu Gute; mit den „altbewährten“ Sätzen, die viele Jahrzehnte lang durch die Partei in ihrer Agitation den Massen eingepaukt wurden, hofft sie die weniger klar blickenden Arbeiter zu beruhigen. Demgegenüber können die revolutionären Wortführer des Proletariats sich stützen auf alles, was die Erfahrung der letzten Jahre uns Neues gelehrt hat. Und diese neuen Einblicke beziehen sich vor Allem auf die Demokratie.
Was bedeutet, was soll die Demokratie? Regierung des Volkes. Das Volk soll sich selbst regieren, nicht von anderen regiert werden. Es soll seine Angelegenheiten selbst, nach eigenem Willen besorgen.
In diesem Satz ist sofort zu bemerken, daß er, so wie er buchstäblich lautet, außerhalb der Realität steht und nur über unwesentliche Begriffe handelt. Denn ein „Volk“, das seine eigene Angelegenheiten regeln könnte, gibt es nicht. Das Volke ist gespalten in Klassen; Ausbeuter und Arbeiter stehen einander scharf gegenüber. Arbeiter und Ausbeuter haben keine oder nur sehr nebensächliche gemeinsame Angelegenheiten; einen gemeinsamen „eigenen“ Willen können sie nicht haben. Und wenn nach der strengsten, radikalsten formellen Demokratie Arbeiter und Bourgeoisie richtig nach ihrer Zahl in einem Parlament vertreten wären, wie könnten sie zusammen regieren?
Was könnten sie sonst als fortwährend hadern und einander in der Arbeit lähmen?
Wenn wir vom Volk reden, meinen wir die Volksmasse im Gegensatz zu der besitzenden Minorität. Dieses Volk, das arme, arbeitende Volk, die Proletarierklasse soll sich selbst regieren. Das Proletariat bildet die Masse, die Mehrheit; ihr Interesse soll also alles Geschehen in der Gesellschaft beherrschen.
Es soll nicht vorherrschen, indem zu 10 Prozent auch das Bourgeoisinteresse ein Bißchen mitzählt — das ist ebenso unmöglich, als die Vorstellung des Reformisten, daß früher das Arbeitsinteresse ein Bißchen mitzählte, als in Wirklichkeit das Kapitalinteresse allbeherrschend war. Das Interesse der arbeitenden Masse soll allein herrschen. Von zwei völlig entgegengesetzten politischen Zielen kann nur eins verfolgt werden.
Wir haben früher auch bisweilen Kritik an dem allgemeinen Wahlrecht geübt. Wir sagten: die Menschen sind einander nicht gleich, also sollen auch ihre Stimmen nicht gleich sein. Ein Mensch, der nur von seinem Kapital lebt, nicht arbeitet, nur als Parasit, als Drohne am Körper der Gesellschaft schmarotzt, soll doch nicht ebenso viel dareinzureden haben, wie ein Arbeiter, der durch seine Arbeit die Gesellschaft in Stand hält. Dieser Grund war gewissermaßen ein ethischer. Jetzt können wir noch besser sagen: das Ziel unserer Politik, die jetzt notwendige Arbeit des sozialistischen Aufbaus der Gesellschaft, ist so völlig dem Interesse der Bourgeoisie entgegengesetzt, daß sie diese Arbeit möglichst zu hindern und zuhintertreiben suchen wird. Wer wird bei dem Bauen einer Wohnung Leute dabei aufnehmen, die nach Kräften zu hindern und zu zerstören suchen? Steht es einmal fest für die Arbeitermassen, daß sie ihre politische Herrschaft zum Ausbau des Sozialismus benutzen wollen, so muß sie die Bourgeoisie von der Mitarbeit ausschließen; Kapitalinteressen dürfen nicht mitreden. Das ist zwar keine formelle Demokratie; aber in der Tat eine höhere, bessere Demokratie. die Arbeiterdemokratie, die die Lebensinteressen der Masse vertritt. Sie ist dasselbe was Marx die Diktatur des Proletariats nannte. Sie ist was früher Kommunismus und jetzt Bolschewismus genannt wird. Sie ist im großen Maßstabe jetzt in Rußland durchgeführt worden, nachdem die Pariser Kommune im Jahre 1871 die ersten Anfänge gezeigt hatte.
Man könnte nun fragen, wie sich das praktisch machen läßt, bestimmte Personen wegen ihrer Zugehörigkeit zur Bourgeoisie vom Wahlrecht auszuschließen — abgesehen noch davon, daß das immerhin äußerlich als ein ungerechter Willkürakt erscheinen wird. Aber man vergißt dabei, daß die Herrschaft der proletarischen Massen zur Reorganisation der Gesellschaft gar nicht die Form einer Parlamentsregierung annehmen wird. Das zeigte sich schon bei der Pariser Kommune. Diese Körperschaft teilte sich bald in eine Anzahl Arbeitskommissionen, die die verschiedenen Verwaltungsgebiete besorgten: Verkehrswesen, Arbeitsregelung, Lebensmittelversorgung, Heeresorganisation, Unterricht usw. Das konnte nicht alles von oben geschehen: diese Kommissionen mußten in Verbindung treten mit den selbstgebildeten Verwaltungskomitees einzelner Stadtteile; und hätte die Kommune länger bestanden, so hätte man sicher den Umweg der Wahl einer allgemeinen parlamentarischen Körperschaft abgeschafft und die zentralen Verwaltungskommissionen aus den Arbeiterorganisationen hervorgehen lassen. Aus der traditionellen Form des Parlaments bildeten sich von selbst im Kleinen neue Organe einer proletarischen Regierung.
Aehnliches, aber in einer viel vollendeteren Gestalt, hat sich in Rußland entwickelt. Die Arbeiterräte in der Stadt, die Bauernräte auf dem Lande und die Elemente, aus denen die Regierung von unten ausgebaut wird; sie bilden die Räte, die die verschiedenen Verwaltungen besorgen. Die Stadtverwaltung wird von den Arbeiterräten der Stadt gewählt; und die Arbeiterräte der Fabriken einer bestimmten Branche wählen die Verwaltung dieser ganzen Branche über das ganze Land. Ein allgemeiner Sowjetkongreß, der dann und wann zusammentritt, bestimmt die allgemeine Politik; aber für jeden besonderen Zweig: Produktion, Lebensmittel, Verkehrswesen, Gesundheitspflege, Unterricht, treten besondere Kongresse zusammen, wohin die örtlichen Sowjets ihre sachverständigsten Mitglieder schieben, um Erfahrungen auszutauschen und gemeinsame Maßnahmen zu beschließen.
Diesen beweglichen Apparat hat das russische Volk sich gebildet aus der praktischen Notwendigkeit heraus, das gesellschaftliche Leben neu aufzubauen. Er bildet zugleich das Organ der proletarischen Diktatur; denn die Bourgeoisie kann darin keinen Anteil nehmen. Die Bourgeoisie wird nicht künstlich durch Enthaltung vom Wahlrecht aus der Regierung ausgeschlossen, sie findet einfach keinen Platz in dieser Organisation. Denn dieser Verwaltungsapparat, der zugleich Regierung ist, ist nicht auf die Personen, sondern auf die Arbeit aufgebaut: wer nicht in der Arbeit seinen Platz einnimmt, stellt sich selbst außerhalb der Möglichkeit, über die Geschicke des Landes mitzubestimmen. Der ehemalige Direktor oder Fabrikbesitzer, der bereit war als technischer Leiter weiter mitzuarbeiten — unter Kontrolle des Arbeiterrates — kann mit den anderen Arbeitern der Fabrik gleichberechtigt mitbestimmen. Die geistigen Berufe, die Aerzte, die Lehrer, die Künstler, bilden ihre eigenen Räte, die bei den sie berührenden Fragen mitbeschließen. All diese Räte bleiben stets in engster Verbindung mit den Massen, da sie fortwährend neu delegiert werden müssen und durch andere ersetzt. In solcher Weise muß dafür gesorgt werden, daß sich aus ihnen keine neue Bürokratie bildet; und dies ist möglich, weil zugleich durch intensive Lern- und Lehrtätigkeit die nötige Fähigkeit kein Monopol Einzelner bleibt.
Im Lichte dieser wirklichen Selbstregierung des Volkes wird erst klar, wie wenig auch das demokratischte Parlament eine Volksregierung verwirklichen kann. Es verwirklicht nur eine Regierung von Parlamentariern. Einmal vierjährlich oder jährlich müssen sie das Vertrauen des Volkes haben; durch schöne Reden, Versprechungen und Programme gewinnen sie die Stimmen, und dann sind sie Meister. Der unmittelbaren Einwirkung der Massen entzogen, nur einander beeinflussend, schalten sie während der ganzen Legislaturperiode, halten lange Reden und beschließen Gesetze. Aber doch nur zum Scheine sind sie allmächtig: die ganze Verwaltung liegt in den Händen der Beamtenschaft, der Bürokratie, die als Behörde über das Volk regiert. Diese sogenannte Trennung, der gesetzgebenden und der ausführenden Gewalt ist in den demokratischen Republiken der Welt das Mittel, die Massen zu beherrschen und ihnen doch den Schein vorzutäuschen, daß sie selbst herrschen; also das Mittel, die Herrschaft des Kapitals zu sichern. Die Praxis in Frankreich, Amerika, in der Schweiz, beweist, daß dort überall, trotz aller Demokratie, die Massen vom Kapital beherrscht und ausgebeutet werden. Und trotz des allgemeinen Wahlrechts sind die Massen machtlos und unfähig, dies zu ändern. Sie stehen einer kunstvollen Unterdrückungsmaschinerie gegenüber, die von Parlament. parlamentarischer Regierung und Beamtenschaft gebildet wird. Sie können nur an einer Stelle, dann und wann, bei den Wahlen, etwas beeinflussen: aber schon da kann sich ihr Wille nur halbwegs klären unter dem Dröhnen der Wahlreden und dem Rasseln der Programme. Soweit aber die gewählten Parlamentarier bemüht sind, dem Volkswillen zu genügen, sind sie bald umgarnt von dem parlamentarischen Schmutz: Parteidisziplin, Kulissenschieberei, Intrigen, Redeseligkeit; und die „Parlamentarische“ Regierung der Parteihäupter ist schon so gut wie unabhängig von Volkswillen. Und diese Regierung ist wieder halb machtlos gegen das feste Gefüge der Staatsbürokratie, der Behörden, die den Massen als eine fremde Herrschergewalt gegenüberstehen.
Parlamentsherrschaft ist das Steckenpferd der Fachpolitiker. die durch lange Reden in der „Quasselbude“ ihre Unentbehrlichkeit zeigen wollen. Ihnen graut vor dem Bolschewismus, denn wo bleiben sie dann? Wenn statt lange Reden zu holten. praktisch gearbeitet werden muß, sind sie in der Tat überflüssig.
Marx und Engels bezeichneten den Staat als die Organisation des Kapitals zur Niederhaltung der ausgebeuteten Klasse. Sie hätten hinzufügen können, daß die Demokratie daran nichts ändert, und bloß dazu dient den Massen den Schein vorzutäuschen, daß sie selbst Meister sind. Sie stellten daher als erste Aufgabe der proletarischen Revolution: die Zertrümmerung des Staates. Das heißt, daß diese Maschine, die die Massen beherrscht und die außerhalb ihres Bereichs liegt, dieser Behörden- und Parlamentsapparat beseitigt werden muß. Diese Frage bildet jetzt den Kernpunkt des Streites zwischen der revolutionären und der bürgerlichen Richtung. Von ihr hängt die nächste Zukunft ab; denn wenn die alte Staatsgewalt unausgesetzt bleibt, kann sie unter späteren Umständen wieder ein Werkzeug werden zur Niederhaltung der jetzt aufständischen Massen und die Kapitalherrschaft wieder herstellen.
Zuletzt aktualisiert am 30. Dezember 2019