F. Domela Nieuwenhuis

Die Phänomenologie
des sittlichen Bewusstseins

(1880)


Quelle: Jahrbuch für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, herausgegeben von Dr. Ludwig Richter, 1. Jahrg. 2. Hälfte, Zürich 1880, S. 166–182.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Eduard von Hartmann
Die Phänomenologie des sittlichen Bewusstseins
Berlin, Karl Duncker’s Verlag. 1879. 871 S.

Bücher, wie die Philosophie der Erlösung von Philipp Mainländer und Hartmann’s Phänomenologie des sittlichen Bewusstseins, sind keine Eintagsfliegen, sondern bemerkenswerthe Erscheinungen einer Zeit, durch welche zweifelsohne ein pessimistischer Hauch weht. Und dieser Pessimismus ist wieder ein natürliches Produkt der heutigen sozialen Missstände, der natürliche Ausdruck einer sich auflösenden Gesellschaft. Das Heute muss den Menschen zum Pessimisten machen

Die Zustände unserer Zeit weisen mit den von Gibbon in seiner Geschichte des Verfalles und Unterganges des römischen Weltreiches so meisterhaft geschilderten eine grosse Aehnlichkeit auf; die Darstellungen des Tacitus, Sueton und Juvenal passen treffend auf unsere Gesellschaft. Waren die römischen Kaiser schlechter als Andere? Nein, ihre ganze Umgebung passte zu ihnen. Höchstens bildeten sie den Kulminationspunkt der innerlichen Faulheit, aber in allen Ständen und Hängen herrschte dieselbe Korruption. Man benutzte die Errungenschaften der Kultur, genoss das Leben so gut wie möglich, und wenn man es in der gewohnten Weise nicht fortführen konnte, legte man selbst Hand an sich. Spekulationen und Schwindel waren an der Tagesordnung. Die heutigen Gründungs- und Schwindelperioden finden in der damaligen Zeit ihr Vorbild. Sah man den sicheren Ruin vor sich, so gab man seinen Freunden noch ein Festmahl und trank dann gleichmüthig ein tödtliches Gift oder öffnete sich die Adern.

Der Malthusianismus hatte theoretische Anhänger und wurde auch in der Praxis geübt, die Ehen nahmen ab, und wenn man sich verheirathete, so sorgte man doch dafür, sich nicht mit zu vielen Kindern zu belästigen. Gegen die infolge dessen drohende Gefahr wurden Staatsgesetze erlassen, und an Eltern mit drei Kindern Privilegien gewährt (jus trium liberorum). Caesar setzte Belohnungen für diejenigen aus, welche viele Kinder hatten, und verordnete, dass Frauen, welche über 45 Jahre alt wären und weder Männer noch Kinder hätten, sich weder mit Edelsteinen schmücken, noch der Sänfte bedienen dürften. Augustus erliess sehr strenge Bestimmungen gegen Zölibat und Kinderlosigkeit, Steuer auf Hagestolzen und dergleichen. Aber Alles umsonst!

Ungeachtet vieler Unterschiede weist die heutige Zeit doch gleiche Symptome auf. Unter solchen Verhältnissen muss sich aber eine pessimistische Philosophie herausentwickeln. Und so geschah es.

Sozialismus und Pessimismus sind keine Gegensätze. Der Sozialismus ist zwar für die Zukunft Optimismus, in der Kritik des heutigen gesellschaftlichen Lebens aber Pessimismus. Hartmann dagegen ist Pessimist in Bezug auf die Zukunft. Diese Welt ist die beste aller möglichen Welten, sagt er mit den Optimisten. Aber diese beste Welt ist schlecht genug, so schlecht, dass es besser wäre, es gäbe überhaupt keine Welt. Das ist sein Pessimismus.

„Die Bejahung des Willens zum Leben ist das vorläufig allein Richtige, nur in der vollen Hingabe an das Leben und seine Schmerzen, nicht in feiger persönlicher Entsagung und Zurückziehung ist etwas für den Weltprozess zu leisten“, sagt Hartmann und mit ihm jeder Sozialist. Was nach dem „vorläufig allein Richtigen“ geschieht, liegt uns nicht so am Herzen, als was in unserer Nähe praktisch gethan werden kann. Vorläufig gehen wir als Brüder Hand in Hand, und später, viel später – Mainländer spricht von einem Minimum von 3.000 Jahren – kommen wir beim Scheidewege an. Der Pessimismus ist dann vielleicht schon längst widerlegt. Kein Optimismus, kein Pessimismus, sondern Omnismus; von Allem , das Gute. Für heute – die Welt der Wirklichkeit weist uns dahin – sind wir gemeinsam Pessimisten.

Hartmann behandelt in seiner Phänomenologie das sozialeudäinonistischc Moralprinzip oder das Moralprinzip des Gesammtwohles, er bestreitet das Moralpxinzip des Sozialismus. Wir müssen daher auf seine Gründe eingehen, die ihn in den Stand setzten, dasselbe zu verurtheilen.

Nach Hartmann Hast sich kein schrofferer Gegensatz denken, als zwischen dem Egoismus – da der Egoist als höchstes und alleiniges Prinzip seines Handelns nur sein eigenes Wohl anerkennt und demgemäss fremdes Wohl gerade nur insoweit fördert, als sein eigenes dadurch gewinnt – und dem Sozial-Eudämonismus, dessen Anhänger sein Leben und Streben ganz dem Dienste fremden Wohles weiht, unter völliger Hintenansetzung des eigenen. So opfert der Erstere Alles, was nicht er ist, seinem Ich, der letztere dagegen sein Ich dem Nicht-Ich. Hartmann nimmt hier augenscheinlich den Egoismus im schlechten Sinne; sonst besteht dieser Gegensatz eigentlich gar nicht. Gesunder Egoismus und Altruismus vervollständigen einander vielmehr. Jemand verbraucht seine Kräfte zu rasch, um seinen Angehörigen grösseren Wohlstand zuzuführen. Er untergräbt somit seine Gesundheit und stirbt desto eher. Ist diese Opferwilligkeit lebenswerth? Vielleicht muss er, aber beim Müssen hört Alles auf, da giebt es kein gut oder schlecht mehr, es ist, und wie bei Ungewittern und anderen Naturereignissen fällt jede Werthschätzung weg. Sonst aber ist seine Opferwilligkeit nicht gut, sein augenblicklicher Altruismus schadet seinem und der Seinigen Wohlstand für die Zukunft In sehn Jahren versehrt er vielleicht seine Kräfte für zwanzig oder dreissig Jahre, während sein grösserer Wohlstand vielleicht die Hälfte ausmacht; ein gut überlegter Egoismus muss ihn die Sparsamkeit seiner Kräfte dem grösseren augenblicklichen Wohlstand, dessen Folge später ein Nothstand der Seinigen ist, vorziehen lassen.

Das sozial-eudämonistische Prinzip duldet keine bevorrechteten Gesellschaftsklassen, keine bevorzugte Minderheit, keine Förderung des Glückes Weniger auf Kosten Vieler. Das Postulat, ein Maximum von Glückseligkeit zu verbürgen, wird für den Gesetzgeber zu dem Postulat, das grösstmögliche Glück der grösstmöglichen Zahl zu erstreben, weil bei dem Gleichwerth der Menschen als unbenannter statistischer Einheiten das Maximum von Glückseligkeit nur durch Beförderung der Glückseligkeit der grösstmöglichen Zahl von Individuen erreicht werden kann. Der Zustand der modernen Gesellschaft ist bei der gesetzlich geschützten Eigenthumavertheilung und der heutigen Volkswirthschaft die Anwendung des Prinzips: wer da viel hat, dem wird gegeben, wer aber wenig hat, dem wird auch das genommen, was er hat. Denn das Kapital ist als solches werbend, indem es seinem Besitzer beständig neue Güter zuführt, welche thatsächlich der Arbeit der Besitzlosen entstammen, aber deren Genusa entzogen werden. Eine Abänderung dieses Verhältnisses ist nur möglich, wenn das Kapital aufhört, werbend zu sein, oder wenn es aufhört, Individual-Eigenthum zu sein; da ersteres äusser der Macht der Menschen steht, so bleibt nur letzterer Ausweg übrig, d. h. das sozial-eudämonistisohe Prinzip verlangt gebieterisch als sittliche Forderung die Aufhebung des Privat-Eigenthums am Kapital und die Ueberführung alles Kapitals in gesellschaftliches Eigenthum. Kann dies unter Einwilligung der bisherigen Kapitalisten oder doch ohne Verletzung ihrer erworbenen Rechte geschehen, um so besser; kann es nur durch soziale Revolution verwirklicht werden – auch gut –, denn das Gesammtwohl ist das alleinige und höchste Prinzip des Rechtes und der Sittlichkeit, und unsittliche Zustände, die ihm widersprechen, sind eben damit auch als Unrecht erkannt, gleichviel, ob sie von der irrenden Menschheit bisher als zu Recht bestehend betrachtet wurden. Es ist unsittlich, dass Wenige schwelgen, während Viele darben; unsittlich, dass reiche Familien 5–20 heizbare Räume bewohnen, während zahllose arme sich mit einem begnügen müssen, oder selbst den einen nicht haben; unsittlich, dass irgend Jemand das Recht hat, einen Thaler für unnöthigen Luxus auszugeben, so lange noch ein einziger lebt, der an den nothwendigsten Lebensbedürfnissen Mangel leidet; unsittlich, dass der Reiche sich neben seiner Ehefrau beliebig viele Maitressen kaufen kann, so lange noch einer durch seine Armuth verhindert ist, sich ein Weib su nehmen; unsittlich ist alles dies darum, weil es dem alleinigen und höchsten Prinzip des Rechtes und der Sittlichkeit, dem Prinzip des grösstmöglichen Glückes der grösstmöglichen Zahl, schreiend Hohn spricht.

So lange die Ungleichheit des Standes und Besitzes als göttliche Ordnung respektirt wurde, konnte das historische Recht sich in seiner heteronomen Begründung sicher fühlen; seit aber die irdische Glückseligkeit der Gesellschaft als Quelle des Rechtes vom Volke selbst mehr und mehr erkannt worden ist; seit sich der Satz Bahn gebrochen hat: salus publica suprema lex esto, kann die bisherige Gleichstellung Aller dem Gesetz gegenüber nur als eine schwache Abschlagszahlung auf die eigentlich entscheidende Fundamentalforderung, der Ausgleichung der Gütervertheilung, betrachtet werden, d. h. mit anderen Worten: Die Sozialdemokratie ist die naturnothwendige Konsequenz und die Enthüllung des innersten Kernes des sozial-eudämonistischen Prinzips.

So hat Hartmann die Frage gestellt, und er verneint sie. Natürlich, denn die Wahrheit dieses Prinzips ist die Unwahrheit des Pessimismus, und wo dieses der alleinseligmachende Glaube ist, da ist jede Abweichung als Ketzerei verurtheilt.

Hartmann nennt das Verlangen nach „menschenwürdigem Dasein“ eine faule und sinnlose Agitatorenphrase. Und doch ist es ein durchaus natürliches. Jedes Wesen strebt in seiner Art, seine Anlage auszubilden, warum soll es der Mensch nicht? Man kann sehr verschiedener Meinung über den Inhalt des menschenwürdigen Daseins sein, aber nicht über das Prinzip. Ich bin Mensch – nun als solcher strebe ich, die Bedingungen des Menschseins zu erfüllen. Das thut Jedermann, das thut auch Hartmann. Warum ist die Behauptung denn eine Phrase? Wenn man sagt: Deshalb, weil Alles vom Inhalte abhängt – so sind wir damit einverstanden. Hartmann selbst nennt einige Zeilen darauf das „gesteigerte Genussleben“ ein ganz reales Programm der „enterbten“ Klassen der Gesellschaft, aber damit ist auch das menschenwürdige Dasein ein ganz reales Programm und keine Phrase. Für Viele ist das „gesteigerte Genussleben“ der Inhalt des menschenwürdigen Daseins. Qui bene distinguit, bene docet!

Als Folgen der Durchführung des sozialdemokratischen Programms nennt Hartmann das Herabziehen des Hervorragenden auf das Niveau der Mittelmässigkeit ohne entsprechende Hebung des hinter diesem Niveau Zurückstehenden, und zweitens das allmähliche Sinken des Niveaus der Mittelmässigkeit selbst, da dieses sich nach jeder neuen Phase des Nivellements von Neuem bestimmt und zwar niedriger als zuvor.

Wenn diese Beschuldigungen des Herrn Hartmann richtig sind, dann ist der Sozialismus verurtheilt. Niemand wünscht das Sinken des allgemeinen Niveaus, und wenn eine Partei nach Unterricht, Erziehung, allgemeiner Bildung strebt, so ist es die sozialdemokratische.

Er nimmt ein Beispiel: die Arbeitsleistung eines einfachen Arbeiters. Der Antrieb zur Vervollkommnung seiner Leistungsfähigkeit besteht in der Hoffnung, durch bessere oder reichlichere Leistungen höheren Lohn zu erhalten. Fällt diese Aussicht in Folge der gleichen Gütervertheilung weg, so sinkt die Arbeitsleistung der geschickteren und fleissigeren Individuen nothwendig bald auf das Niveau des mittelmässigen Arbeiters herab; und wenn je noch ein von der Hoffnung auf Belohnung unabhängiger Trieb in Einzelnen vorhanden war, so sorgen der Neid und die Eifersucht der Uebrigen in terroristischer Weise dafür, dass das Ideal der Gleichheit nicht alterirt werde.

Diese Behauptungen sind sehr apodiktisch, aber genügend sind sie nicht. Es fehlt ihnen an Beweiskraft. Wer spricht von gleicher Gütervertheilung? Ist sie nothwendig? Muss Jedermann gleiche Nahrung haben, ob er guten Appetit habe oder keinen? Ist der in seinen Bedürfnissen befriedigte Mensch nothwendig eifersüchtig, weil Andere, welche noch nicht befriedigt sind, mehr bekommen? Selbst gesättigt, ist die Begier verschwunden. Welcher Sozialist begreift nicht das Einmaleins, dass bei besseren oder reichlicheren Leistungen eine Unterscheidung stattfinden muss. Der Grad der Unterscheidung differirt, aber nicht die Unterscheidung selbst.

Man braucht kein Philosoph zu sein, um die Gleichmacherei In ihrer Sinnlosigkeit darzustellen, das thut heute jeder Bourgeois. Und doch ist die Thorheit von heute vielleicht die Weisheit von morgen. Christus kam, und „die Gleichheit vor Gott“ hat eine Welt umgestaltet. Im 15. und 16. Jahrhundert trat jene Reihe von Denkern und Gelehrten auf, die wir noch heute bewundern, „die Gleichheit von der Vernunft“ war das „widersinnige“ Band, das sie Alle umschlang. Die grosse Revolution kommt, und die „Gleichheit vor dem Gesetze“ wird zur Wahrheit. Und hat nicht unser eigenes Jahrhundert bereits eine neue Gleichheit geboren, das allgemeine Wahlrecht oder die „Gleichheit vor dem Staate“? Sollte die Menschheit jetzt auf diesem Wege plötzlich Halt machen? Bricht sich denn nicht mit immer grösserer Energie der Gedanke Bahn, dass alle diese „Gleichheiten“, welche die Menschheit im Laufe ihrer Entwicklung errungen, die Gleichheit vor Gott, vor der Vernunft, vor dem Gesetz, vor dem Staate, dass sie alle sinnlos wären und in sich selbst Zusammenbrüchen, wenn sie etwas anderes bedeuten würden, als Haltpunkte, sozusagen Etappen, auf dem Wege zur wirklichen, d. i. ökonomischen Gleichheit? [1]

Das Ideal der Gleichheit im ökonomischen Sinne, der äusserlichen Gleichheit, ist sehr gut vereinbar mit innerlicher Ungleichheit. Es ist reiner Unsinn, dem Sozialisten anzudichten, dass er ein Ideal wünsche, bei dem alle Menschen dieselbe Grösse, dieselbe Dicke, dasselbe Gewicht etc. haben sollten.

So sagt Mill z. B. in seiner National-Oekonomie vom Fourierismus, dass

„dieses System wenigstens in der Theorie keinen von den Beweggründen zur Anstrengung, welche in dem gegenwärtigen System der Gesellschaft vorhanden sind, beseitigt. Im Gegentheil, falls man voraussetzen könnte, dass die Anordnungen nach den Absichten ihrer Erfinder wirken würden, möchte es jene Beweggründe sogar noch verstärken, weil jede Person weit mehr Sicherheit haben würde, individuell die Früchte vermehrter körperlicher oder geistiger Geschicklichkeit oder Energie zu ernten, als unter den gegenwärtigen sozialen Einrichtungen von irgend Jemandem gesagt werden kann, ausser von denjenigen, die sich in den vortheilhaftesten Stellungen befinden, oder denen die Laune des Zufalls günstiger ist als gewöhnlich.“

Hören wir weiter, was dieser Denker sagt. Man behauptet, dass redliche und wirksame Arbeit nur von denen zu erwarten sei, welche individuell die Frucht ihrer eigenen Anstrengung ernten sollen. Wie klein muss dann heute die Zahl redlicher und wirksamer Arbeiter sein, wo die grosse Mehrheit für Andere arbeitet! Hat nicht ein Mitglied einer kommunistischen Assoziation viel grösseres persönliches Interesse an seiner Arbeit, als ein jetziger Fabrikarbeiter, der kein Theilhaber am Geschäft ist? Alle Staatsbeamten sind fest besoldet, in allen grösseren Privatunternehmungen hat man fest besoldete Beamte. Mill sagt sehr gut:

„Uebrigens wird die Stärke des Antriebes zur Arbeit, wo das Ganze oder ein grosser Theil des Nutzens der Extraanstrengung dem Arbeiter gehört, von mir durchaus nicht zu gering angeschlagen. Bei dem damaligen System der Erwerbsthätigkeit ist dieser Antrieb jedoch in der grossen Mehrzahl der Fälle nicht vorhanden. Wenn kommunistische Arbeit minder angestrengt sein mag, als die eines bäuerlichen Eigenthümers oder einer selbstständigen Handwerkers, so würde sie doch kräftiger sein, als die eines Taglöhners, der an seiner Arbeit gar kein persönliches Interesse hat. Alle kommunistischen Pläne enthalten nun aber insgesammt die Bedingung, dass Alle eine gehörige Bildung geniessen sollen. Wenn dies vorausgesetzt wird, werden die Pflichten der Mitglieder der Assoziation ohne Zweifel eben so sorgsam verrichtet werden, als diejenigen der grossen Zahl der besoldeten Beamten in den mittleren und höheren Klassen, bei denen eine gewissenlose Vernachlässigung ihrer Pflicht auch nicht vorausgesetzt wird, obwohl, so lange sie nicht abgesetzt werden, ihre Bezahlung die nämliche bleibt, wie lässig sie auch immer ihr Amt verwalten.“

Und ferner:

„Dass die Arbeit nothwendig schlechter sein muss, ist keineswegs so sicher, wie von denen angenommen wird, welche nicht gewohnt sind, ihren Ideenkreis über den ihnen einmal vertraut gewordenen Zustand der Dinge hinaus auszudehnen. Die Menschheit ist eines weit höheren Grades von Gemeinsinn fähig, als unser Zeitalter sich gewöhnt hat für möglich zu halten.“

Die Sache ist ausserordentlich wichtig, darum noch eine Stelle aus Mill: „Wir wissen noch zu wenig davon, was die individuelle Triebfeder in ihrer besten Gestalt und was der Sozialismus in seiner besten Gestalt ausrichten kann, als dass wir im Stande wären zu entscheiden, welche von den beiden (Sozialismus und persönliches Eigenthum) die schliessliche Form der menschlichen Gesellschaft sein wird. Wenn eine Vermuthung gewagt werden darf, so scheint die Entscheidung hauptsächlich von der einen Erwägung abzuhängen: welches der beiden Systeme sich mit der grössten Ausdehnung der menschlichen Freiheit und Entwickelung verträgt.

Nachdem der nothwendige Lebensbedarf gesichert, ist das nächst stärkste persönliche Bedürfniss unter den menschlichen Dingen die Freiheit. Ungleich den physischen Bedürfnissen, welche mit dem Fortschreiten der Zivilisation mässiger werden und leichter zu befriedigen sind, wächst das Bedürfniss nach Freiheit an Intensität, sobald die Intelligenz und die moralischen Fähigkeiten sich mehr entwickeln. Die sozialen Einrichtungen, sowie die praktische Moral würden hiernach ihre Vollkommenheit erreicht haben, wenn allen Personen völlige Unabhängigkeit und Freiheit des Handelns gesichert wären, ohne alle Beschränkung als nur die, andere nicht zu beeinträchtigen. Eine Erziehung oder soziale Einrichtungen, welche es mit sich brächten, dass man die freie Selbstbestimmung seines Thuns und Lassens zum Opfer bringen müsste, um einen höheren Grade von Lebensannehmlichkeit oder Ueberfluss zu erlangen, oder dass man der Gleichheit zu Gefallen auf die Freiheit verzichten müsste, würden einen der edelsten Züge der menschlichen Natur vernichten. Wir haben also zu untersuchen, in wie weit sich die Bewahrung dieser Eigenthümlichkeit mit einer kommunistischen Organisation der Gesellschaft verträgt. Man hat übrigens diese wie sonstige Einwendungen gegen kommunistische und sozialistische Projekte bedeutend übertrieben. Es ist gar nicht nothwendig, dass die Mitglieder der Assoziation mehr zusammen leben, als sie es Jetzt thun, noch auch, dass sie kontrolirt werden, was die Verwendung ihres Äntheils an dem Produktionserträge betrifft oder hinsichtlich der Benutzung ihrer Mussezeit, welche vermuthlich beträchtlicher sein wird, wenn die Produktion auf wirklich nützliche Dinge beschränkt wird. Die einzelnen Individuen brauchten nicht an eine bestimmte Beschäftigung oder Lokalität gebunden zu sein. Im Vergleich mit der gegenwärtigen Lage der Menschen würden die Beschränkungen des Kommunismus als Freiheit erscheinen. Die grosse Masse der Arbeiter, hat in England wie in den meisten anderen Ländern so wenig freie Wahl bei ihrer Beschäftigung oder ihrem Aufenthalt, sie ist, praktisch genommen, so abhängig von festen Regeln und fremdem Willen, wie es bei irgend einem System, mit Ausnahme wirklicher Sklaverei sein kann – abgesehen von der gänzlichen häuslichen Unterordnung der einen Hälfte unserer Gattung, welcher in jeder Rücksicht gleiche Rechte mit dem bisher vorherrschenden Geschlechte einzuräumen, dem Owen’schen und den meisten anderen Plänen des Sozialismus zur besonderen Ehre gereicht.“

Die Meinungen von Hartmann und Mill stehen einander diametral gegenüber. Mill ist vorsichtig, er sagt nicht mehr als er verantworten kann; er wagt eine Vermuthung. Hartmann weiss genau die Folgen in der Zukunft, ex kathedra verkündigt er seine apodiktische Wahrheit. Die Wissenschaft hat aber mit aller äusserlichen Autorität gebrochen, selbst die Autorität des Herrn Hartmann genügt ihr nicht, sie fragt nach Beweisen, ohne welche es nur individuelle Ansichten ohne Beweiskraft für Andere giebt.

In Betreff der Gleichheit ist noch zu sagen, dass die Ungleichheit gewiss nicht so gross sein würde, wenn jeder eine seinen Anlagen gemässe Erziehung bekäme. Der eine Mensch ist von Natur mehr zur Trägheit geneigt, aber wenn die Neigung richtig geleitet wird, wird er kein träger Mensch werden. Wir nehmen zwei Knaben: der eine hat Anfangs eine sehr kleine Neigung, nur einen Keim zur Verschwendung, und der andere zum Geiz. Der Unterschied ist sehr klein, bei guter Erziehung werden beide nicht so viel divergiren, dass der eine ein Verschwender, der andere ein Geizhals wird. Jede Tugend hat unächte Schwestern, welche der Familie Unehre anthun. Die ursprüngliche Neigung kann Ursache zur Tugend werden, aber auch zum Laster ausarten. Nicht Alle sind gleich geschickt, aber die Ungeschickheit Vieler, die grosse Ungleichheit ist ein Produkt der äusserlichen Verhältnisse und schlechter Erziehung. Wenn der eine Baum alles Nöthige zum Gedeihen bekommt und der andere nichts, ist es dann zu verwundern, dass der eine schön und stark wird und der andere verkrüppelt? Natürliche Ursachen haben natürliche Folgen. Der grosse Unterschied zwischen einem Genie und Anderen ist heute auch nicht mehr so enorm wie früher. Warum? Nicht weil das Genie kleiner ist, nein, weil das Niveau der Anderen erhöht ist. Man spricht nicht so oft von Genie, weil der Unterschied ein wenig ausgeglichen ist, und warum sollte das nicht weiter der Fall sein? Darum begreife ich nicht, wie bei dem Prinzip der Sozialdemokratie die Arbeitsleistung im Allgemeinen auf ein Niveau der Mittelmässigkeit reduzirt werden sollte. Im Gegentheil, der Stimulans zur Arbeit ist, wie Mill treffend anführt, grösser als jetzt, wo die Mehrheit immer Sklaven bleibt und die Ausnahmen Einzelner nur die Bekräftigung der allgemeinen Wahrheit sind.

Hartmann sagt, dass das Sinken des intensiven und qualitativen Arbeitswerthes überall in die Augen fällt, wo durch Gewerkvereine oder sozialdemokratische Verbindungen dem sozial-eudämonistischen Grundsatz der Lohngleichheit Geltung verschafft worden ist. Wiederum ein apodiktischer Satz. Erstens, wo besteht der Grundsatz der Lohngleichheit? Wo und wann ist das in die Augen gefallen? Beweise fordern wir, ohne diese sind es Worte – Worte – Worte. Lohngleichheit in jeder Beziehung ist noch nirgends gefordert worden, sondern ein Lohn, der zur Befriedigung der redlichen Bedürfnisse ausreicht, und wir haben gesehen, dass Unterscheidungen für tüchtige Leute nirgends gefehlt haben.

Die Wirklichkeit lehrt andere Dinge. So lieferte die Antheils- und Genossenschaftswirthschaft des Gutes Ruhaline in Irland [2] ein Beispiel, wie gross die Vortheile grösserer Gleichheit oder besser gesagt, kleinerer Ungleichheit sowohl für die Produktivität als auch für das Loos der Theilhaber sind. Unglücklicherweise verspielte Herr Vandeleur sein Eigenthum und löste daher die Genossenschaft auf. Bemerkenswerth ist die Erklärung der Mitglieder am 23. November 1833:

„Wir, die Unterzeichneten, sind Mitglieder der Ruhaline Agricultural and Manufacturing Cooperative Association und haben unter den von Herrn Vandeleur und dem Sekretair der Genossenschaft getroffenen Einrichtungen Zufriedenheit, Frieden und Glück genossen. Beim Beginn waren wir dem uns vorgeschlagenen Plan abgeneigt, aber mit seiner Einführung fanden wir unsere Lage verbessert, unsere Bedürfnisse regelmässiger befriedigt, und unsere gegenseitigen Gefühle wurden aus Eifersucht, Hass und Bache in Vertrauen, Freundschaft und Nachsicht umgewandelt. Auch die beim Beginn aufgestellten Hegeln haben sich in der praktischen Anwendung als nützlich erwiesen.“

Die Verschlechterung der Arbeitsleistungen bei Anwendung solcher Prinzipien ist ein Hirngespinnst des Herrn Hartmann, wie es dergleichen mehr in den Köpfen der Pessimisten giebt.

Herr Hartmann meint, dass der Antheil an der Gütervertheilung eigentlich der einzige Stimulus zur Arbeit sei. Er sagt:

„Weiss der Knabe, dass er sich den nämlichen Antheil an der allgemeinen Gütervertheilung sichert, wenn er vom vierzehnten Lebensjahre ab seine gesunden Arme gebraucht, so wird es ihm schwer beizubringen sein, dass er noch zehn Jahre länger über den verhassten Büchern schwitzen und sich zu höheren Arbeitsleistungen vorbereiten soll.“

Die Wirklichkeit lehrt selbst in unseren jetzigen traurigen Verhältnissen anders. Wirkt der Künstler nur, um einen grösseren Antheil an der Gütervertheilung zu bekommen? Geht das Streben eines Edison oder anderer Erfinder nur darnach, reich zu werden? Schreibt der Philosoph wie Hartmann nur um Honorar? Kennt der Soldat keinen anderen Wunsch als den, Geld zu verdienen? Nein, wie gross und vorherrschend der Trieb nach Geld ist, so sehen wir doch andere und höhere Triebe daneben, welche noch unendlich vermehrt werden, wenn die Oberherrschaft des Mammonismus hinter uns liegt. Die Diagnose des menschlichen Wesens ist bei unserem Philosophen sehr fehlerhaft.

Bezüglich der Konsumtion finden wir bei ihm dasselbe Resultat. Er sagt: „wie die feineren Genussmittel nur für Wenige vorhanden sind, so ist auch nur bei Wenigen die Empfänglichkeit zum Geniessen derselben vorhanden und erreichbar. Sollen diese Erzeugnisse der Natur überhaupt genossen werden, so können sie es nur von einer Minderheit, welche für die Genüsse erzogen wird; soll aber solche Begünstigung von Wenigen vermieden werden, so bleiben sie entweder ungehobene Schätze, oder sie werden ohne entsprechenden Genuss in der Reihe der roheren Genussmittel mit verzehrt.“

Die Priviligirten, „welche für Genüsse erzogen werden“ – das ist eine neue Kaste, das neueste Arkanum zur Bildung! Der Herr begreift nicht, wie übrigens diese Gaben der Natur die Krone des Verdienstes sein können. Wenn Feinschmeckerei gewünscht wird, dann sind diese feineren (warum feiner? welchen Massstab hat man dafür?) Genussmittel die Preise für die tüchtigeren und geschickteren Arbeiter. Genussmittel ist ein sehr relatives Ding. Der Mensch, welcher jeden Tag Kaviar und Austern, Lachs und Forellen, Wildpret und Konfituren, Fleisch und. Wein geniesst, hat eigentlich wenig Genuss bei allen diesen Gaben. Wenn die Luxusgenüsse nur einer Minorität zu Gute kommen können, warum nicht der Minorität der Geschickteren und Tüchtigeren? Niemand verlangt eine gleichmässige Vertheilung an Alle, da die Genussmittel nicht für Alle Genussmittel sind.

Dass Kunst und Wissenschaft bei Durchführung des sozialdemokratischen Prinzips in Verfall komme, ward schon öfters behauptet, wie auch Hartmann es wiederum thut, aber bewiesen ist es nicht. Im Gegentheil fragen wir; blühen Kunst und Wissenschaft jetzt? Ist die Wissenschaft ihren bezahlten Zunftgelehrten oder Laien mehr verpflichtet? Ist die freie Wissenschaft nicht ein pium Votum? Spielt die gelehrte Kaste (wie Dühring sagt) nicht heute die Rolle fort, die in den Urzeiten der Völker allein die Priesterkaste ausfüllte ? Die Forschung ist frei – so heisst, es in Gesetzen und in feierlichen Reden, aber nahe besehen, lässt die Freiheit viel zu wünschen übrig. Die Unfreiheit und Unterthänigkeit der von Zunft- und Amtswegen verrichteten gelehrten Hantirungen wird durch diese Meinung verdeckt. Die Wissenschaft um ihrer selbst willen su treiben – wo geschieht das jetzt? Schliesst man nicht die freien Forscher wie Strauss, Feuerbach, Büchner u. s. w. aus? Lässt man nicht einige hungern und frieren, welche der Wissenschaft grössere Dienste leisteten, als alle Professoren sämmtlicher Universitäten?

Und die Kunst? Ist sie nicht Kunstfertigkeit? Wittich hat in der Neue Gesellschaft über Kunst und Sozialismus geschrieben und gezeigt, dass der Staat des Sozialismus ein vollendet harmonisches Kunstwerk von idealer Schönheit werden soll. Vischer sagt in seiner Aesthetik: „Dieses Wurzelschlagen der Kunst im Volksboden setzt nun freilich, wenn es zum Ziele gedeihen soll, neue Zustände des ganzen Staats- und Gesellschaftslebens voraus.“ Er begreift die Wechselwirkung zwischen den wirtschaftlichen und politischen Zuständen eines Staates und der Kunst. Richard Wagner sagt in dieser Sache:

„Ist unseren zukünftigen freien Menschen der Gewinn des Lebensunterhaltes nicht mehr der Zweck des Lebens, sondern ist durch einen tätig gewordenen neuen Glauben, oder besser Wissen, der Gewinn des Lebensunterhaltes gegen eine ihm entsprechende natürliche Thätigkeit uns ausser allem Zweifel gesetzt, kurz, ist die Industrie nicht mehr unsere Herrin, sondern unsere Dienerin, so werden wir den Zweck des Lebens in der Freude am Leben setzen und zu dem wirklichsten Genuss dieser Freude unsere Kinder durch Erziehung fähig und. tüchtig zu machen streben. Die Erziehung, von der Uebung der Kraft, von der Pflege der körperlichen Schönheit ausgehend, wird schon aus ungestörter Liebe zum Kinde und aus Freude am Gedeihen seiner Schönheit eine rein künstlerische werden, und jeder Mensch wird in irgend einem Bezüge in Wahrheit Künstler sein.“

Diese Freude am Leben als Zweck des Lebens ist natürlich fürchterliche Ketzerei für Hartmann, aber das ist hier für uns Nebensache. Hauptsache ist, dass die Sorge für Nahrung und Kleidung der Kunst schadet und die Sorge weggenommen wird, wenn die soziale Vernunft der Menschheit sieh die Natur in ihrer Fülle zum Wohle Aller zu eigen macht. Jeder Mensch bekommt mehr freie Zeit, und der wahre Künstler sucht seinen Genuss in der Ausübung seiner Kunst. Die Leistung der Künstler und der Diener der Wissenschaft wird nicht durch Absonderung erhöht, nein, auch sie müssen ins volle Menschenleben hineingreifen. Alle Einseitigkeit muss vermieden werden, und schon mancher Künstler hat gezeigt, dass die Absonderung, die von Vielen beanspruchte Einseitigkeit, keineswegs wirkliches. Bedürfniss für die Kunst ist. Rubens war nicht nur ein ausgezeichneter Maler, sondern auch ein trefflicher Diplomat; Michel Angelo war nicht nur genialer Maler und Bildhauer, sondern auch ein tüchtiger Baumeister; Leonardo da Vinci nicht allein Maler, sondern trieb auch Anatomie und Mathematik, baute Kanäle, Kriegsmaschinen und Festungen.

Kunst und Wissenschaft können im Gegentheil nur im sozialistischen Staate die Stelle einnehmen, die ihnen gebührt.

Die Beschuldigungen des Herrn Hartmann sind flüchtig hingeworfene Sätze, welche man annehmen oder verwerfen muss, aber welche er nicht beweist. Vielleicht hat er Beweisgründe – dann hat er es hier versäumt, sie an geben. Wenn er z. B. schreibt: „In der That wirken ja alle Momente der Produktion und Konsumtion zusammen, um das Niveau der Kultur zu erniedrigen; denn es vermindert sieh mit Lähmung des Wetteifers der Ausbildung auch die Geschicklichkeit und Leistungsfähigkeit der Arbeiter, mit dem Sinken des Geschmackes auch das Bedürfniss nach werthvolleren Leistungen auf allen Gebieten, mit dem Verfall von Wissenschaft und Kunst die befruchtende Kraft der höheren Geisteskultnr auf die technischen Grundlagen der Zivilisation, mit dem auf den Komfort Aller gelegten Gewicht die sittliche Statthaftigkeit jeder ausserhalb dieser Aufgabe stehenden produktiven Thätigkeit,“ so sind wir mit diesen allgemeinen Sätzen einverstanden, aber wir läugnen entschieden, dass der Wetteifer gelähmt wird, dass der Geschmack sinkt, dass Wissenschaft und Kunst verfallen. Es zeigt von grosser Kurzsichtigkeit, weil etwas bisher in gewisser Bahn gegangen ist, bei Eröffnung neuer ungekannter Bahnen zu sagen: das geht nicht. Man muss seinen Ideenkreis über den einmal vertraut gewordenen Zustand der Dinge hinaus auszudehnen wissen, besonders kann man das von einem Philosophen fordern. Man kann mit Mill sagen: wir wissen noch so wenig davon, was die individuelle Triebfeder in ihrer besten Gestalt und was der Sozialismus in seiner besten Gestalt ausrichten kann, als dass wir im Stande wären zu entscheiden, welche Form die schliessliche der menschlichen Gesellschaft sein wird, darf jedoch nicht so entschieden urtheilen, ja verurtheilen, als ob man selbst Alles genau wüsste. Bescheidenheit dient der Wissenschaft, und hievon ist bei H. keine Rede.

Das Prinzip des grösstmöglichen Glückes der grösstmöglichen Zahl hat zur unausweichlichen Konsequenz die möglichste Gleichheit der Gütervertheilung. Gewiss, das ist richtig. Wenn Lassalle die soziale Frage eine Magenfrage und Andere sie eine Bildungsfrage nennen, so ist das gar kein Gegensatz. Der Mensch ist was er isst, sagte Feuerbach, und Moleschott wiederholte es. Das Sein des Menschen hat das Essen zur Bedingung. Wenn man nicht isst, hört natürlicherweise das Sein, das Existiren auf. Wir antworten auf die Frage: ist die soziale Frage eine Magenfrage? zweifelsohne: ja, und auf die andere Frage: ist sie eine Bildungsfrage? ebenfalls ja. Nach Befriedigung der Magenbedürfnisse kommt man zur Bildung. Beim Hunger, im Elend verschwindet alle Bildung. Die Magenfrage ist also die erste Etappe in der Bildungsfrage. Gleichheit der Gütervertheilung ist die äussere Bedingung zur inneren Zufriedenheit. Man braucht dazu keine absolute Gleichheit – Niemand wünscht sie, aber die Ausgleichung der grossen Ungleichheit führt zur allmähligen Gleichheit. Neid und Begier entstehen nicht so sehr im Gemüthe von Denen, welche genug haben, als von Denen, welche entbehren. Ich selbst z. B. habe nie den reichen Mann beneidet, welcher in einer schönen Karosse mit glänzenden Pferden an mir vorüber fuhr, nie seinen Palast und Dienerschaft, nie seine Sorgen und Umgebung gewünscht. Wenn es schön war, habe ich mich gefreut, es zu sehen – die aesthetische Ordnung wirkt immer auf ein empfängliches Gemüth –, und damit war ich zufrieden. Ist das eine Tugend meinerseits? Gewiss nicht, denn ich selbst hatte genug, um auf redliche Waise die Bedürfnisse des Lebens nach Belieben zu stillen. Hätte ich aber, in Elend und Noth gelebt, so wäre ich nicht zufrieden gewesen. Weiter sagt Hartmann:

„Wenn die Sozialdemokratie die möglichste Gleichheit der Gütervertheilung, welche die unausbleibliche Konsequenz des Prinzipes des grösstmöglichen Glückes der grösstmöglichen Zahl ist, fürchtet und sich zu Konzessionen herbeilassen wollte um durch bessere Entlohnung des Fleissigen und Geschickten den Bestand, einer höheren Kultur zu sichern, so würde sie damit ihrem wirksamsten Agitationsmittel entsagen und die ganze Zukunft ihrer Propaganda in den untersten Volksschichten in Frage stellen.“

Das Gegentheil davon ist wahr. Wollte sie solche Thorheiten predigen, so würde sich der gesunde Sinn des Volkes abwenden und nicht auf sie hören. Nein, der Sozialismus und Kommunismus werden durch die beliebten banalen Ausflüchte, als: im Reiche der Vögel sind auch nicht alle gleich, die Blätter der Bäume sind verschieden, und eine Eiche ist keine Buche etc. nicht widerlegt. Ich sage: wer dem Sozialismus solches Zeug entgegenhält, der ist ein Blinder, welcher über Farben ein Urtheil spricht, denn er hat die sozialistischen Werke nicht gelesen. Selbst Babeuf hat niemals etwas dergleichen gewünscht. Es ist leicht, einen Gegner zu bekämpfen, wenn man erst ein Zerrbild, eine Karrikatur von ihm gemacht hat.

„Immer sollte irgend welche Aristokratie bestehen.“ – Wer läugnet das? Nicht aber die Herrschaft eingebildeter Aristoi, sondern die Herrschaft des wahrhaftigen Ariston, nicht derer, welche im Namen des Geldes, der Geburt, der Abkunft, der Autorität, der Wissenschaft sich selbst als die Aristoi erheben, sondern des Ariston, welches sich als solches bethätigt. Eine Aristokratie nicht von Gottes und Geldes Gnaden, sondern durch den Willen des Volkes.

„Alle Kultur hat auf Minoritäten geruht und wird, so lange die Geschichte dauern wird, auf Minoritäten ruhen.“ – Warum nicht? Der falsche Gleichheitsbegriff, den Hartmann den Sozialisten zuschiebt, bringt ihn zu falschen Schlussfolgerungen. Doch ist es ausserdem nicht richtig, wenn er sagt, dass das Kulturniveau der Massen sich langsamer hebt als das Kulturniveau der begünstigten Minoritäten, so dass der Abstand beider von Einander mit steigender Kultur sich beständig vergrössere. Im Gegentheil vermindert sich der Abstand, und das ist kein Sinken, sondern ein Erheben der Gesammtkultur. Mancher Schulknabe weiss mehr und besser als alte Gelehrte, und dabei ist der Abstand zwischen alten und neuen Gelehrten nicht so gross, wie mancher meint. Unterschiede wird es auch bei den günstigsten äusserlichen Verhältnissen geben, die Kluft aber zwischen Gebildeten und Ungebildeten wird immer kleiner.

So lange Hartmann nicht beweisen kann, dass das Prinzip des höchstmöglichen Gesammtwohles nothwendig den gleichen Inhalt des Wohles für Jedermann in sich schliesst, so lange hat er mich nicht überzeugt. Das höchstmögliche Gesammtwohl fordert doch nicht, dass alle Menschen denselben Dichter schätzen, dieselbe Musik bewundern, dasselbe Theaterstück wünschen, dieselben Bücher schön finden! Das Gesammtwohl fordert nur. dass Jedermann für seinen Genuss kein Hinderniss findet, so lange dieser Genuss nicht auf Andere störend wirkt. – Das Ideal einer fortschreitenden

Gleichheit aller Menschen im Glücke und Wohlbefinden liegt so tief in der Brust eines Jeden, dass man nicht zu verzagen braucht. Wenn 4.000 Jahre dazu gehörten, um nur die (formelle) Gleichheit des Rechtes, die papierne Gleichheit zu gewinnen, so dürfen wir nicht den Muth verlieren, weil die Gleichheit der Glücksgüter, diese unendlich viel schwerere Aufgabe, nicht sofort hat erreicht werden können. In dem Leben der Völker ist ein Jahrhundert, was im Menschenleben ein einzelnes Jahr ist.

Man will die Gleichheit mit einer Verweisung auf die Natur widerlegen, die Ungleichheit der Natur sei der schlagendste Beweis gegen die Gleichheitsbegriffe Vieler. So sagt man, indess hat Prof. von Kirchmann in einem Vortrage die Aufmerksamkeit auf drei Gesetze hingeleitet, welche die kommunistische Tendenz der Natur und ihr Bestreben, allen Menschen ein gleiches Maass von Glück zu gewähren, im hohen Grade bekunden. Natürlich fand man diese Behauptung staatsgefährlich, und der Verfasser wurde daher seines Amtes als Vize-Präsident des Appellationsgerichts zu Ratibor unter Verlust aller Pensionsansprüche enthoben, aber die Natur kehrt sich nicht um den staatsgefährlichen Charakter, und trotz dem Benehmen der allmächtigen Regierung von Gottes Gnaden bestehen ihre Gesetze nach wie vor. K. nennt die Natur die ärgste Kommunistin, welche unendlich mehr für die gleiche Vertheilung des Glückes, des Genusses unter alle Menschen gethan habe, als die Erfindungen und Zuthaten der Menschen vermögen.

Merkwürdig scheint es mir, dass man uns den Darwinismus ah die beste Widerlegung des Gleichheitsbegriffes entgegengehalten hat. Merkwürdig – denn die meisten Sozialisten sind bewusste Darwinisten. Bekannt ist der Streit zwischen Virchow und Häckel. Der Erstere als treuer Fortschrittler hat einen Abscheu gegen den Sozialismus und denunzirt die Entwickelungslehre, besonders die Abstammungslehre, ah gemeingefährliche sozialistische Theorien. Er sagt:

„Nun stellen Sie sich einmal vor, wie sich die Descendenz-Theorie heute schon im Kopfe eines Sozialisten darstellt! Ja, meine Herren, das mag Manchem lächerlich erscheinen, aber es ist sehr ernst, und ich will hoffen, dass die Deszendenz-Theorie für uns nicht alle die Schrecken bringen möge, die ähnliche Theorieen wirklich im Nachbarlande angerichtet haben. Immerhin hat auch diese Theorie, wenn sie konsequent durchgeführt wird, eine ungemein bedenkliche Seite, und dass der Sozialismus mit ihr Fühlung gewonnen hat, wird Ihnen hoffentlich nicht entgangen sein. Wir müssen uns das ganz klar machen!“

Die Politik hat den freien wissenschaftlichen Sinn des Virchow verwirrt. Darwinismus führt zum Sozialismus, Sozialismus ist der Satan, und darum hinweg mit dem Darwinismus! Vielleicht wünscht er, dass die Bücher Darwin’s und seiner Nachfolger als „Untergrabung des Staates“ auf Grund des Sozialistengesetzes verboten werden. Professor Oskar Schmidt dagegen meint:

„Wenn die Sozialisten klar denken würden, so müssten sie Alles thun, um die Deszendenzlehre zu verheimlichen; denn sie predigt überaus deutlich, dass die sozialistischen Ideen unausführbar sind. Aber warum hat Virchow nicht die milden Lehren des Christenthums für die Ausschreitungen des Sozialismus verantwortlich gemacht? Das hätte noch einen Sinn! Seine in’s grosse Publikum geworfene Denunziation, so mysteriös, so zuversichtlich, als handelte es sich am ‚eine sicher beglaubigte wissenschaftliche Wahrheit‘, und doch so hohl, vermag ich mit der Würde der Wissenschaft nicht in Einklang bringen.“

Auch Häckel fürchtet den Sozialismus und findet in der Deszendenzlehre ein Gegengift, indem er sagt:

„Der Sozialismus fordert für alle Staatsbürger gleiche Rechte, gleiche Pflichten, gleiche Güter, gleiche Genüsse; die Deszendenztheorie gerade umgekehrt beweist, dass die Verwirklichung dieser Forderung eine baare Unmöglichkeit ist, dass in den staatlichen Organisationsverbänden der Menschen, wie der Thiere, weder die Rechte und Pflichten, noch die Güter und Genüsse aller Staatsglieder jemals gleich sein werden, noch jemals gleich sein können.“

Mülberger antwortet darauf: „Während der kulturhistorische Prozess“ der Menschen in letzter Instanz nichts anderes darstellt als eine successive immer weiter schreitende Beherrschung der Natur, verkündet Häckel der staunenden Mitwelt, dass der Zweck unseres Daseins vielmehr der sei, sich von ihr beherrschen zu lassen. Er überträgt ein der thierischen Welt entnommenes Gesetz unmittelbar auf die menschliche Gesellschaft und sagt, dass dieselben Grundgesetze, welche den Zusammenhang der Thiere beherrschen, auch ein für allemal für die Zusammenhänge der Menschen gelten.“

Diese subjektiven Meinungen des berühmten Zoologen haben keinen objektiven Werth, wo er selbst anerkennt, ein Fremdling in der Politik zu sein. Sonst hätte er gewusst, dass der Sozialismus die menschliche Gesellschaft für einen lebendigen Organismus hält und nicht für einen Krystall, nicht für ein Konglomerat vieler Kräfte ohne innerlichen Zusammenhang, und dass er bestrebt ist, Mittel und Wege zur Einführung der theoretischen Folgerungen in’s wirkliche Leben zu finden.

Die Gleichmacherei, deren man den Sozialismus beschuldigt, findet sich bei ihm gar nicht. Bei Vielen ist diese Anschuldigung auch nur Verleumdung, – gegen den Sozialismus sind alle Mittel gut, der Zweck heiligt die Mittel; bei Anderen Unwissenheit, und auch sie ist in allen Schichten der Gesellschaft gross.

Gewisse Gleichheit aber findet man heute schon mehr als früher. Tocqueville meinte, dass die Franzosen der Gegenwart einander viel ähnlicher seien, als die der vorigen Generationen es waren. Auch Mill spricht von grösserer Uniformität als früher. So geht die Gesellschaft ihren Weg und bekümmert sich nicht um die Furcht gewisser Leute. Man verwirrt die zwei französischen Worte: „égalité“ und „identité“, beides Gleichheit. Identisch sind wir nicht und werden wir nicht; grössere Gaben und Anlagen geben jedoch keine Rechte, legen dagegen wohl Pflichten auf.

Hartmann nennt die Meinung, dass eine Kultursteigerung eine Erhöhung der Glückseligkeit, d. h. der Bilanz zwischen Lust und Unlust sei, eine Illusion. Es ist dies ein Streit um Worte. Was er Glück nennt, das nennen wir Unglück und umgekehrt. Und so stimmen wir Überein, wenn wir statt das grösstmögliche Glück der grösstmöglichen Zahl sagen: das grösstmögliche Unglück. Wenn wir behaupten: mehr Kenntniss, mehr Bildung ist nöthig zum Glücke der Menschen, so antwortet Hartmann: gewiss, das Erste ist richtig, aber die Kenntniss bringt Vermehrung der Sorge, und je mehr Kenntniss der Mensch hat, desto eher kommt er zum Pessimismus. Das ist und bleibt sein Ideal, und alle Meinungen werden von diesem Standpunkt aus geprüft und beurtheilt. Nicht die Frage: sind sie wahr? sondern die. andere: führen sie zum Pessimismus? das ist für Hartmann die Hauptsache. Die gewünschte Voraussetzungslosigkeit sucht man bei ihm vergebens, und das schadet seinen sogenannten Beweisführungen. Seine alleinseligmachende Lehre enthält eine Dreiheit in der Einheit und eine Einheit in der Dreiheit. Wirkliches Glück kann im Leben unmöglich erworben werden, wirkliches Glück im Jenseits eben so wenig, zukünftige Perfektibilität des menschlichen Geschlechtes ist ein Traumbild. Das ist der Katechismus des Herrn Hartmann. Er wünscht als „das vorläufig allein Richtige“ das, was wir wünschen, und der Scheideweg zwischen ihm und uns ist da, wo es sich um die Folgerungen in einer sehr fernen Zukunft handelt. Das „vorläufig allein Richtige“ ist der Optimismus oder das Streben nach Lust und Erhöhung des Bewusstseins, die Pflicht des Einzelnen wie Aller. Hartmann muss dies bejahen, denn nur dadurch kann dem Ziele, d. h. dem Pessimismus, der Peinlosigkeit des Nicht-Bestehens, näher gekommen werden. Wir bejahen es gleichfalls, denn nur dadurch kann dem Ziele, d. i. dem Sozialismus, dem grösstmöglichen Glück der grösstmöglichen Zahl, näher gekommen werden. Je mehr Kenntniss, desto eher kommt man zur Aufhebung des Willens – so sagt Hartmann. Das ist mir nicht klar. Wie? Ein Entschluss wird gefasst durch die Entwickelung des Geistes. Entschliessen setzt einen Willen voraus, aber ein Wollen zum Nicht-Wollen, das widerspricht sich, das ist eine Contradictio in adjecto. Sonst stehen wir „vorläufig“ nicht so weit von einander, wie es scheint. Wenn nach seiner Meinung durch unsrer Aller Arbeit erst das goldene Zeitalter des Pessimismus naht, so sind wir im Gegentheil überzeugt, dass dann der Pessimismus schon verschwunden und eine Wahl nicht nöthig ist. Faute de combattants le combat est fini. Wo es keine Pessimisten mehr giebt, da giebt es auch keinen Pessimismus mehr. Ueber diesen Punkt lässt sich viel und lange streiten, wie über den jüngsten Tag; die Zukunft ist Niemand bekannt, und die Verwirklichung liegt für uns Beide in weiter Ferne. Vorläufig wirke Hartmann, wie wir, an dem grösstmöglichen Glück der grösstmöglichen Zahl, denn er muss so Viele als möglich in seinen Kreis ziehen. Wir geben ihm gern die Freiheit, es Unglück zu nennen und hoffen, dass er uns die Freiheit nicht raubt, von Glück zu sprechen.

Dass die Forderungen der Sozialdemokratie nothwendig eine kulturschädliche Wirksamkeit haben müssen, das ist die Meinung des Herrn Hartmann und Vieler mit ihm. Anerkennung und Achtung für jede Meinung. Indessen ist diese nur eine Hypothese, ein Glauben, dessen Gründe immer Gegengründe finden. Nirgends hat es sich gezeigt, nirgends konnte man es beweisen, denn der Sozialismus ist nirgends verwirklicht. Dagegen beweist der Sozialismus, dass die kulturschädliche Wirkung der kapitalistischen Produktionsweise, des Industrialismus, des Individualismus sich Überall und in allen sogenannten Kulturländern zeigt. Das ist Thatsache, welche auch Hartmann nicht leugnet, indem er sagt: „Es wird sich noch weniger behaupten lassen, dass unsere gegenwärtigen Einrichtungen das letzte Wort der Menschheit wären und nicht in Zukunft vielleicht durch ganz andersartige mit Vortheil ersetzt werden könnten.“ Er erkennt an, dass die sozialdemokratische Partei die einzige der bestehenden Parteien ist, welche in dieser Richtung positive Vorschläge zu formuliren gewagt hat.

Hören wir weiter sein Urtheil über die Parteien: „Die konservativen und liberalen Parteien sind heute gleich impotent; erstere haben die Tendenz, unhaltbar gewordene Zustände zu erhalten, letztere erschöpfen ihre Kraft im Zerstören derselben. Was aber nach langem fortgesetzten Einreissen endlich noth thut, ein Aufbauen, eine soziale Reorganisation, dazu fehlen in beiden Parteigruppen die schöpferischen Keime, und es bleibt ihnen nichts übrig, als ihre Produktion durch sozialdemokratische Ideen zu befruchten, wie dies denn auch faktisch in Theorie und Gesetzgebung seit Gründung des norddeutschen Bundes vielfach geschehen ist und noch in steigendem Masse geschehen wird. Gelingt es den Regierungen zu rechter Zeit, die gesunden organisatorischen Keime der Sozialdemokratie ihrerseits gesetzgeberisch zu verwerthen, so steht zu hoffen, dass die moderne Kultur den „inneren Vandalen“, welche sie in sich erzeugt hat, nicht so zum Opfer fallen wird, wie die alte Kultur den von aussen anstürmenden Horden. Aber ohne der Sozialdemokratie in den Punkten Recht zu geben, wo sie wirklich im Rechte ist: in der Forderung sozialer Reorganisation auf dem Boden des entfesselten wirthschaftlichen Kampfes Aller gegen Alle, – ohne solche Konzessionen dürfte auf die Dauer die Macht des Staates nicht ausreichen, um sich gegen die kulturmörderischen Gewalten zu behaupten, welche in seinem dunkeln Schosse kreisen, und welche die Wurzeln ihrer Kraft lediglich aus dem sie faszinirenden Prinzip des grösstmöglichen Glückes der grösstmöglichen Zahl saugen.“

Das ist die beste Anerkennung der Kulturmission des Sozialismus, nur beeinträchtigt durch die Inkonsequenz des Verfassers. Der wirthschaftliche Kampf Aller gegen Alle ist gewiss kulturfeindlich, und wenn die Sozialdemokratie, wie Hartmann anerkennt, in diesem Streite im Rechte ist, dann steht die Sozialdemokratie auf Seiten der Kultur gegenüber allen Feinden, welche Handhaber der bestehenden Ordnung sind. Die kulturmörderischen Gewalten sind die Regierung und das Parlament, welche die Freiheit der Wissenschaft, die Freiheit der Presse, die Vereinsfreiheit – alles Mittel zur Beförderung der Kultur – gefesselt haben.

Einst wurde auch das Christenthum als kulturfeindlich (odium generis humani) betrachtet, und nun sagt man dasselbe im Namen des Christenthums vom Sozialismus. Der Positivist Littré sagt irgendwo: „Eine alte und grosse Welt, das Heidenthum, war in Verfall gerathen, und aus dem Schoosse dieses Verfalles entstand eine neue Lehre, welche eine grosse und heilsame Reform begann. Sie griff revolutionär an und wurde behandelt wie alle Revolutionäre, welche im Rechte sind, nämlich durch Laster, Verleumdung, Beleidigung und Verfolgung.“ Was Corneille in seinem Polyeucte den Polytheismus über das Christenthum sagen lässt, nämlich: dieser Polyeucte ist:

un méchant, un infâme, un rebelle, un perfide,
un traître, un scélérat, un lâche, un parricide,
une peste exécrable à tous les gens de bien,
un sacrilège impie, en un mot, un chrétien,

– dasselbe wird jetzt von den Sozialisten gesagt. Will man die Probe machen, so lese man die Zeitungen, und man wird das ganze Wörterbuch von Scheltworten wiederfinden. Was ich bedauere, ist, dass ein Philosoph, ein Freund der Weisheit, an der Verleumdung theilnimmt. Noblesse oblige! Die Waffe der Kritik kann die Kritik der Waffe nicht ersetzen. Sein Kollege im Pessimismus, Mainländer, hat es in seinem oben genannten Buche besser gemacht. Schliesslich erinnere ich an die schönen Worte des leider zu früh verstorbenen Albert Lange, die ich der Beherzigung Aller empfehle. Er fragt:

„Soll die Menschheit ewig wieder mit der Barbarei beginnen, wenn eine Kulturperiode sich ausgelebt hat und ein neues Zeitalter anfängt? Und er antwortet: wir sagen nein! Es ist der Aufklärung der Gegenwart unwürdig, diesen Gedanken zu fassen. Eine neue Blüthe der Kunst und Wissenschaft, der Humanität und Sittlichkeit wird sich über den Trümmern der vergangenen Weltordnung schnell und herrlich entfalten. Bildung und Brüderlichkeit werden dann die guten Genien sein, welche die Menschheit von Stufe zu Stufe aufwärts leiten. Jahrhunderte mögen vergehen, bevor der Kampf um das Dasein in ein friedliches Zusammenleben der Völker des Erdbodens verwandelt ist; allein der Wendepunkt der Zeiten, der Sieg des guten Willens zur Besserung unserer Zustände kann nicht in allzugrosser Ferne liegen. Gewiss wird dieser Sieg einmal ein vollkommener sein; allein es ist schon etwas Grosses, wenn der Grundsatz beständiger und aufrichtiger Arbeit am Wohl der Massen zur öffentlichen Anerkennung kommt und den Grundsatz der unbedingten Erhaltung aller bestehenden Rechte und Lasten aus dem Bewusstsein der Regierungen und der Völker verdrängt.“

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Fußnoten

1. Neue Gesellschaft, II. Jahrgang, 2. Heft.

2. Man vergleiche die Gewinnbetheiligung von Viktor Böhmert, Theil II.


Zuletzt aktualisiert am 23. Juni 2020