Franz Mehring

 

Partei und Vaterland [1]

(28. August 1914)


Sozialdemokratische Korrespondenz, 22. August 1914.
F. Mehring, Krieg und Politik, Bd. I, Berlin 1959, S. 145–146.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Dem Weltkriege, der nun schon drei Erdteile in seine Strudel gerissen hat, ist die internationale Arbeiterklasse mit aller Kraft entgegengetreten, doch hat diese Kraft nicht ausgereicht, ihn zu hindern.

So treibt auch ihr Schiff auf dem tosenden Meere, aber deshalb darf es nicht ein willenloses Spiel der Wellen werden. Es muß nach wie vor seinen Kurs nach dem ruhig flammenden Lichte steuern, das vom Leuchtturm des Sozialismus strahlt. Und vor allem von der deutschen Sozialdemokratie, der mächtigsten Organisation des internationalen Proletariats, kann nur das deutsche Dichterwort gelten:

„Mit dem Schiffe spielen Wind und Wellen,
Wind und Wellen nicht mit ihrem Herzen,
Herrschend blickt sie in die grimme Tiefe.“

Eine harte Notwendigkeit zwingt sie, Schulter an Schulter mit denen zu kämpfen, die sie seit einem halben Jahrhundert bedrängt und bedrückt, geschmäht und verlästert haben. Deshalb erfüllt sie mit gleichem Eifer ihre Pflicht, so wie sie diese Pflicht aus der souveränen Kraft ihrer eigenen Grundsätze erkannt hat. Sie hütet sich, das stolze Erbe ihrer Vergangenheit der wohlfeilen Phrase vom großmütigen Vergeben und Vergessen zu opfern; ihre Proteste gegen den Weltkrieg wären Schall und Rauch gewesen, wenn sie nicht entschlossen wäre, ihren Emanzipationskampf fortzuführen, auch in dem Weltkriege und über den Weltkrieg hinaus.

Wenn sie Schulter an Schulter mit ihren bisherigen Unterdrückern kämpft, so mischt sie nur Blut mit Blut, aber nicht Geist mit Geist. An dem granitenen Bau ihrer Gedankenwelt fließt der sprühende Gischt der Phrasen spurlos ab. Krieg dem Zarismus! – Jawohl, aber diesen Krieg führen unsere russischen Brüder seit Jahrzehnten mit unvergleichlichem Heldenmut, und sie allein können ihn siegreich ausfechten, nicht aber diejenigen, die den Zarismus geschützt haben, auch gegen unsere Brüder, und die ihn wieder schützen und stützen werden, sobald sie sich nur selbst vor seinen räuberischen Tatzen gesichert haben.

Verteidigung des Vaterlandes! – jawohl, aber wann war das Vaterland tiefer erniedrigt als in den Tagen der Karlsbader Beschlüsse und in den Tagen des Sozialistengesetzes? Zum dritten Male in einem Jahrhundert ziehen die Massen der deutschen Nation in den Krieg, um Ströme von Blut für das Vaterland zu vergießen. Wie 1813 und 1870 lastet wieder auf ihnen die schwere Wucht des Krieges, aber sie hätten 1813 und 1870 noch ein glückliches Los gezogen, wenn ihnen auch der geringste Lohn geworden wäre. Was sie sich damals wirklich erkämpft haben, steht auf den dunkelsten Blättern der deutschen Geschichte geschrieben. Sechs Jahre nach 1813 kamen die Karlsbader Beschlüsse, acht Jahre nach 1870 kam das Sozialistengesetz.

Die Geschichte braucht sich nicht zu wiederholen, und wir hoffen zuversichtlich, daß sie sich in diesem Falle nicht wiederholen wird. Aber wir bauen unsere Zuversicht nicht auf die Verheißungen und Versprechungen der herrschenden Klassen, so gern wir annehmen, daß diese Verheißungen und Versprechungen ehrlich gemeint und nicht etwa bloß auf eine Täuschung der Massen berechnet sind. Das wäre eine bodenlose Nichtswürdigkeit, die wir auch unsern heftigsten Gegnern nicht zutrauen. Aber ist uns die Lehre unserer großen Meister, daß in geschichtlichen Kämpfen nicht der gute Wille der Menschen entscheidet, sondern der eherne Zwang der Dinge, nicht einmal hauttief gedrungen? Siegt das Deutsche Reich in diesem Kriege, so sind seine besitzenden Klassen um so viel mächtiger und seine arbeitenden Klassen um so viel schmächtiger; dann können die Überlieferungen von 1813 und 1870 nur beschworen werden durch die deutsche Sozialdemokratie, die, ob sie auch aus tausend Wunden blutet, auf der Wacht steht, entschlossen, fertig, klar. In diesem geschichtlichen Sinn ist die Ehre des Vaterlandes die Ehre der Partei, ist die Ehre der Partei die Ehre des Vaterlandes.

Das gilt in noch höherem Grade von den verhängnisvolleren Wechselfällen, die der Weltkrieg mit sich führen kann. Stürmen unsere Brüder in Waffen vorwärts in Feindes Land, so handeln wir in gleichem Geist und gleichem Interesse, wenn. wir rufen: Zurück auf die Schanzen! Der Weltkrieg ist die Feuertaufe auch des deutschen Sozialismus; sengt sie sein Haupt, so wird die Geschichte von ihm sagen: Gewogen und zu leicht befunden! Vor diesem furchtbaren Urteil sichern wir uns nur, indem wir auch in allem Sturm und Wettet des Weltkrieges unsern Grundsätzen treu bleiben und unserer glorreichen Vergangenheit.

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Anmerkung

1. Franz Mehring behandelt in diesem Artikel, der unter den Bedingungen der Militärdiktatur geschrieben wurde, die Haltung der Arbeiterklasse zu dem eben ausgebrochenen imperialistischen Weltkrieg. Die opportunistischen Partei- und Gewerkschaftsführer verrieten schmählich die Prinzipien des proletarischen Internationalismus und die Interessen des werktätigen Volkes, indem sie die Kriegskredite bewilligten und gemeinsam mit der imperialistischen Bourgeoisie nach „Burgfrieden“ und „Verteidigung des Vaterlandes“ riefen. Dadurch zwangen sie auch die in den Soldatenrock gepreßten Proletarier, „Schulter an Schulter mit ihren bisherigen Unterdrückern“ auf dem Schlachtfelde zu kämpfen. Trotz der ihm durch die Zensur aufgezwungenen „Sklavensprache“ entlarvt Franz Mehring in höchst treffender Art die Demagogie der verräterischen sozialdemokratischen Führer, die immer noch den Kampf gegen den Zarismus als notwendig propagierten und damit ihren Ruf nach „Verteidigung des Vaterlandes“ zu begründen suchten. Sein Artikel ist Ausdruck des ungebrochenen Willens der deutschen Linken, entschlossen gegen den imperialistischen Krieg zu kämpfen.


Zuletzt aktualisiert am 29. Juli 2024