Franz Mehring

 

Mein letztes Wort

(17. Mai 1912)


Leipziger Volkszeitung, 17. Mai 1912.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
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Dass Kautsky den von ihm und dem Genossen Bebel ohne jede Not an die Öffentlichkeit gezerrten Streit jetzt abzubrechen wünscht, ist mir begreiflich. Ich bin ihm auch dankbar dafür, dass er mir erleichtert, seine Wünsche zu berücksichtigen, indem er Waffen wählt, die ich verschmähen muss, weil sie die einfachsten Gebote der Schicklichkeit und des Taktes verletzen. Der „große Unbekannte“, mit dem Kautsky mich zu verhöhnen sucht, ist eine verehrungswürdige Persönlichkeit, die ihm ungleich näher steht als mir. In der Tat, die Wahl der Waffen zeugt für die Güte der Sache.

Es bleibt dabei, dass Kautsky zweimal in Anknüpfung an einige, dem Parteivorstande missfällige Artikel – die kategorische und positive Forderung an mich gestellt hat, ich solle mir das seit 21 Jahren gewohnte Maß publizistischer Bewegungsfreiheit einschränken lassen. Das ist dieselbe Methode, die in der kapitalistischen Presse herkömmlich ist, um unbequemen Mitarbeitern die Pistole auf die Brust zu setzen. Gegen die Tatsache kann Kautsky nichts einwenden, als dass ich den Vorschlag gemacht habe, während seiner Abwesenheit von Berlin die Spitzartikel einzustellen. Dieser Vorschlag, der jeden Konflikt ausgeschlossen hätte, soll ihn berechtigt haben, mir zweimal eine schimpfliche Demütigung anzusinnen!

Was den Parteivorstand anbetrifft, so sagt dieser in seiner neulichen Erklärung, zu dem Tadel meines Artikels: Kronprinzliche Fronde sei er durch die Jenaer Resolution gezwungen gewesen, die ihn beauftrage, gegen jede gehässige, persönliche Art der Diskussion einzuschreiten. Das erkenne ich gern an. Aber Kautsky verdächtigt mich, wegen dieses Tadels hätte ich dem Parteivorstand ewige Rache geschworen. Du lieber Himmel! Es gibt Dutzende von Parteigenossen, denen ich den Tadel aus freien Stücken mitgeteilt habe, und jeder von ihnen konnte mir bezeugen, dass ich dabei schlechterdings nichts von irgendwie düstren Empfindungen verraten habe. Und wie hätte ich bis auf den Tod betrübt sein sollen, nachdem ich schon vor dem Tadel des Parteivorstandes das Lob Kautskys eingeheimst hatte: „Ich habe den Artikel mit großen ästhetischen wie politischem Vergnügen gelesen. Er ist ebenso frisch und fein in der Form wie kernig im Inhalt, er zeigt Sie wieder ganz auf der Höhe. Ich freue mich sehr darüber.“ In der Tat hat mich das Lob des einen sowenig erschüttert wie der Tadel der Anderen Ich tue meine Parteipflicht nach bestem Wissen und Gewissen und hatte mich übrigens an den alten Spruch: wer da bauet an der Straßen, muss die Leute reden lassen.

F. Mehring


Zuletzt aktualisiert am 12. Juni 2024