Franz Mehring

 

Ein Protest

(22./24. April 1912)


Bremer Bürger-Zeitung, Nr. 94, 22. April 1912 u. Leipziger Volkszeitung, 24. April 1912.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
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[Wir erhalten folgende Zuschrift:] Die Bremer Bürger-Zeitung ist wiederholt das Opfer der Unsitte gewesen, jeden Parteigenossen, der den bürgerlichen Parlamentarismus zu kritisieren wagt, in die anarchistische Wolfschlucht zu werfen oder sonst wie als „hochnäsig“ usw. abzutun. Da ich darin ihr Leidensgefährte bin, so wende ich mich an ihre Gastfreundschaft mit der Bitte, die folgenden Zeilen abzudrucken.

Vor einigen Wochen hatte ich in einer Polemik mit dem Vorwärts mich in der Neuen Zeit über die Frage verbreitet, ob in unseren Parlamenten im allgemeinen und von unseren parlamentarischen Vertretern im besonderen zu viel geredet werde. Mein Gedankengang war etwas der: Grade, weil wir den bürgerlichen Parlamentarismus als brauchbares Werkzeug betrachten und benutzen, haben wir allen Anlass, dies Werkzeug in gutem Stande zu erhalten. Deshalb darf es nicht zu sehr abgenutzt werden. Ich erinnere an das bekannte Gesetz der Kontrastwirkungen, wonach in allen Dingen ein bewissen Maß notwendig sei, wenn man nicht das Gegenteil des beabsichtigten Ziels erreichen will. Was ich mit diesen Ausführungen bezweckte, erkannte der Vorwärts, gegen den sich men Polemik richtete, in loyalster Weise an, und ein in Parteipolemik so zurückhaltendes Blatt wie das Hamburger Echo äußerte sich in einem Leitartikel ganz ähnlich wie ich; es zitierte meine Hauptsätze mit dem Bemerken, es seien Gedanken, die „von vielen unserer Parteigenossen im Laufe der Jahre oft ausgesprochen worden“ seien.

Nun richtet Genosse Bebel in der Neuen Zeit gegen meinen Artikel eine Berichtigung und Ergänzung, die weder etwas berichtigt noch etwas ergänzt. Wäre er, statt sich über meine „Galle“ zu empören, die „fast Jedermann vor den Kopf stoße“, auch nur mit einem Wort auf den sachlichen Inhalt meines Artikels eingegangen, so würde ich mich gefreut haben, die Streitfrage in der Neuen Zeit mit ihm zu diskutieren. So aber ziehe ich aus einem gewissen Korpsgeist vor, mich an ein Parteiblatt zu wenden das mit mir in gleicher Verdammnis steht.

In meinem Artikel hatte ich unsern verstorbenen Genossen Liebknecht als Muster angeführt, als einen Mann, der die Fallstricke parlamentarischer Beredsamkeit wohl erkannt, aber sie vermieden habe, indem er selten, dann jedoch mit prägnanter Kürze gesprochen und desto größere agitatorische Wirkungen erzielt habe. Ich hatte folgende Sätze aus seiner Feder zitiert:

„Das Wort Parlament stammt von parlieren, reden, schwätzen. Nomen est omen. In dem Namen ist die Krankheit des Parlamentarismus bezeichnet: die Rede- und Schwätzkrankheit. Um das Reden ist’s ja ein schön Ding, wenn einer gut redet, für den Redner wie für den Hörer. Schade nur, dass das Reden und das Schauspielern so nahe miteinander verwandt sind, dass bei diesem wie bei jenem vorgestellt, dargestellt und verstellt wird ... Es gibt freilich eine Art des Redens, welche mit dem Schauspielern nichts gemein hat, allein sie ist selten, und wenigen ist es gegeben, die Klippe des theatralischen Effekthaschens mit der rhetorischen Verstellung zu umschiffen. Man hat deshalb nicht ohne eine gewisse Berechtigung gesagt, dass große Redner keine großen Staatsmänner seien. Zwar gibt es große Staatsmänner, die auch große Redner waren, aber sie sind außerordentlich dünn gesät, und ihre Beredsamkeit war sachlich und klar. Es waren Sprecher, nicht eigentliche Redner. Und die Engländer, bei denen diese praktische sachliche Beredsamkeit zu Hause ist, nennen einen Redner auch Speaker (Sprecher) und eine Rede Speech (Spruch) ... Die Tatsache steht jedenfalls fest, dass selbst die gescheitesten Leute, die im ruhigen Gespräch Witz mit gesundem Menschenverstand haben, auf der Rednerbühne oft fürchterlich dummes Zeug schwätzen, dessen sie unter normalen Verhältnissen gar nicht fähig wären. Daher kommt es denn auch, dass parlamentarische Debatten im ganzen so gehaltlos sind und so wenig neue Gesichtspunkte wie Gedanken zutage fördern.“ [1]

Weshalb ich grade den alten Liebknecht zitierte, lag auf der Hand, und da es selbst die Kreuzzeitung begriffen hat, so durfte ich erwarten, dass es jeder parteigenössische Leser verstehen würde. Jedoch hat Genosse Bebel es anders verstanden. Nachdem er ausgeführt hat, was noch von niemandem bestritten ist, jedenfalls nicht von mir, dass der bürgerliche Parlamentarismus der Partei hinter dem Sozialistengesetze große Dienste geleistet habe, fährt er fort:

„Wenn nun Liebknecht trotz alledem die in jenem Artikel der Neuen Zeit veröffentlichte Kritik an unserer parlamentarischen Tätigkeit übte – leider hat der Verfasser des Neue-Zeit-Artikels weder das Datum des Briefes noch die Adresse angegeben, an die er gerichtet war, wie er sich denn bei seinen Veröffentlichungen eine unnötige Reserve auferlegte –, so weit er damals noch immer nicht seine übertriebene Geringschätzung der parlamentarischen Tätigkeit aufgegeben hatte und noch immer an den Anschauungen festhielt, die er in seiner bekannten Broschüre Die politische Stellung der Sozialdemokratie, ein Vortrag aus dem Jahre 1869, veröffentlicht hatte. Später hat er aber auf dem Kongress zu St. Gallen, Anfang Oktober 1887, in aller Form erklärt, dass er seine früheren Auffassungen über den Parlamentarismus nicht mehr aufrecht halten könne. Nebenbei bemerkt, gab es meines Wissens in der ganzen Partei nicht einen Mann von Namen, der die früheren Liebknechtschen Anschauungen über den Parlamentarismus teilte. Auch Marx und Engels nicht. Das weiß auch der Verfasser jenes Artikels. Er hätte daher im Interesse der „historischen Objektivität“ richtiger gehandelt, den Abdruck des Liebknechtschen Briefes zu unterlassen oder anzugeben, unter welchen historischen Verhältnissen er geschrieben wurde. Dann war es allerdings nicht möglich, sich auf Liebknechts Ansichten zu berufen, die dieser später selbst preisgegeben hat.“

Hier wirft mir also Genosse Bebel die illoyalste, ja geradezu ehrenrührige Kampfesweise, eine Kampfesweise wider besseres Wissen vor. Und mit welchem Rechte? Der Artikel, aus dem ich zitierte, ist von Liebknecht im Jahrgange 1886 (Seite 19 und 308) der Neuen Zeit unter dem Titel Parlamentarisches veröffentlicht worden. Also gerade zu der Zeit, wo Liebknecht von seiner übertriebenen Geringschätzung des Parlamentarismus nach dem eigenen Zeugnis des Genossen Bebel zurückgekommen war, und gerade zu der Zeit, wo der Parlamentarismus der Partei größere Dienste geleistet hat, als jemals vor- oder nachher. Auch hat kein „Mann von Namen“ gegen den Artikel Liebknechts protestiert, weder Engels – Marx war damals schon tot – noch Bebel selbst, noch Kautsky, der den Artikel ohne jeden redaktionellen Vorbehalt aufgenommen hat. Es war damals noch geistiges Gemeingut der Partei, dass sie den Parlamentarismus um so besser ausnutzen könne, je sorgsamer sie sich vor seinen Illusionen hüte.

Nun mache ich dem Genossen Bebel natürlich keinen Vorwurf daraus, dass er den Artikel Liebknechts vergessen oder vielleicht gar nicht gelesen hat. Aber dann hätte er wirklich eine kurze Anfrage an mich richten sollen, ehe er mich in dieser Weise öffentlich verdächtigte. Ich lasse mir sicherlich aus bekannten Gründen mehr von ihm gefallen, als von irgend einem andern Menschen [2} und habe mir gern Schweigen auferlegt, als er kürzlich bei einem andern Anlass meine Person durch eine ebenso grundlose wie kränkende Unterstellung verletzte. Aber in dem vorliegenden Falle handelt es sich nicht um eine Person, sondern um ein System, das leider immer weiter um sich greift, um das System jedem Parteigenossen, der leitende Parteiinstanzen, auch in der sachlichsten Weise kritisiert, sofort mindestens gehässige Beweggründe unterzuschieben.

Und dagegen sollte jeder protestieren, der darunter zu leiden hat.

Dass die Bäume nicht in den Himmel wachsen werden, ist freilich durch die Resolutionen der Berliner, Bremer und Hamburger Arbeiter in der Dämpfungssache verbürgt. Aber man kann den Tag gar nicht schnell genug herbeiwünschen, an dem die „Freiheit der Kritik“ innerhalb der Partei aufhören wird, jenen Pflaumen und Klößen zu gleichen, die ein vorzügliches Gericht sind: nur dass, wer davon isst, auch daran stirbt.

* * *

Anmerkungen

1. Karl Liebknecht, Parlamentarisches, Die Neue Zeit, 4. Jahrgang 1886, S. 19 ff. und 308 ff.

2. Bebel holte Mehring 1890 in die Partei, obwohl dieser sie in den ersten Jahren des Sozialistengesetzes heftig bekämpft hatte, und nahm ihn auf dem Dresdener Parteitag 1903 gegen eine Hetzkampagne der Revisionisten in Schutz.


Zuletzt aktualisiert am 29. Juli 2024