Franz Mehring

 

Die größten Revolutionäre

(18. März 1911)


Die Neue Zeit, 29. Jg. 1910/11, Erster Band, S. 857–860.
Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 537–540.
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Der Jahrestag der Berliner Revolution und der Pariser Kommune ist von der Arbeiterklasse der deutschen Hauptstadt in würdiger Weise gefeiert worden, und auch was im deutschen Bürgertum noch einige Spuren von Kraft und Selbstbewusstsein besitzt, beginnt sich der Toten zu entsinnen, die im Friedrichshain schlummern. Es fängt gemach an, in seinen Reihen zu dämmern, und die Kreuz-Zeitung hat gar nicht so unrecht, wenn sie meint, dass Eugen Richter sich im Grabe umdrehen würde, wenn er die durchaus würdige Erklärung lesen könnte, in der sich die Freisinnigen des Wahlkreises Gießen-Nidda bereit erklärt haben, in der Stichwahl für den sozialdemokratischen Kandidaten zu stimmen.

Gewiss soll man den Tag nicht vor dem Abend loben, und wenn man die gewaltige Pauke liest, mit der Herr Naumann sich dieser Tage anschickte, den Wahlkreis Beeskow-Teltow zu erobern, so ist man hinlänglich vor allen vorzeitigen Illusionen geschützt. Der gute Herr hat damit sogar den Beifall der Vossischen Zeitung erworben, die ihm bisher nicht über den Weg traute, und diesen Beifall hat er redlich verdient. Der Wahlkreis Beeskow-Teltow, wenn wir nicht irren der größte des Reiches, gehört zu den sichersten Besitztümern der Sozialdemokratie, den ihr kein Gott und kein Teufel entreißen kann. Deshalb braucht der Freisinn natürlich nicht darauf verzichten, auch in diesem Kreise einen Kandidaten aufzustellen. Allein wenn Herr Naumann, von dem ja das ungeflügelte Wort des „Blocks von Bassermann bis Bebel“ herrührt, jetzt zur Abwechslung auf die Sozialdemokratie einschlägt, weil sie Klassenpolitik treibe, während der Liberalismus die ganze Nation vertrete, so ist er zwar sicher davor, dass ihm der selige Eugen Richter deshalb noch einen Plagiatsprozess macht, aber frischer ist das abgedroschene Gerede dadurch auch nicht geworden, dass Herr Naumann es mit seiner prunkenden Pastoralberedsamkeit umhüllt.

Ungefähr gleichzeitig mit seiner Rede beschwerte sich das Organ der fortschrittlichen Gewerkvereine darüber, dass die Fortschrittliche Volkspartei auch nicht einem der spärlichen Arbeiter, die ihr noch anhängen mögen, auch nicht einen halbwegs sicheren oder vielmehr – da diese Partei überhaupt keinen sicheren Wahlkreis mehr besitzt – einen halbwegs aussichtsreichen Wahlkreis anvertraut habe. Woher kommt das, wenn die Partei, zu deren Zierden Herr Naumann gehört, wirklich die ganze Nation vertreten will, von der die Arbeiterklasse einen immerhin doch nicht unwesentlichen Bestandteil bildet? Selbst der schwarzblaue Block pflegt ja darauf zu halten, wenigstens ein paar Renommierarbeiter in den Reichstag zu schicken. Er sucht wenigstens das Gesicht zu wahren, sowenig sonst dahinter stecken mag. Herr Naumann hätte also eine viel näher liegende Gelegenheit, den Überschuss der sittlichen Entrüstung zu verwenden, den er über die nach seiner unmaßgeblichen Meinung verderbliche Klassenpolitik der Sozialdemokratie ergießt.

Hoffentlich bildet er sich nicht ein, dass seine Donnerkeile der Arbeiterpartei auch nur ein Haar krümmen. Aber wenn man billig genug denkt, ihm diese Torheit nicht zuzutrauen, so haben seine Tiraden nur die Wirkung, das Spiel des schwarzblauen Blocks zu spielen, der – seitdem eine freisinnig-sozialdemokratische Taktik ins Bereich der Möglichkeit gerückt ist – den großen Zitatensack weiland Puttkamers vormarschiert, um mit den alten Ladenhütern à la Eugen Richter die Spießbürger bange zu machen. Dieser Gefahr vorzubeugen – denn eine Gefahr ist es leider noch immer –, sollte die oberste Aufgabe jedes freisinnigen Politikers sein, der noch über seine Nasenspitze hinauszusehen vermag. Die freisinnigen Wähler in Gießen-Nidda haben es ja auch in ganz korrekter Weise getan. Sie verhehlen durchaus nicht, dass sie Gegner der Sozialdemokratie sind und bleiben, aber sie verschieben diesen Kampf, worin ihnen ja nach Herrn Naumanns Ansicht der Sieg ohnehin sicher ist, bis der gemeinsame Gegner am Boden liegt.

Glücklicherweise sorgt dieser Gegner dafür, die Munition, die Politiker wie Herr Naumann in ganz zweckloser Weise verschießen, dreifach und zehnfach zu ersetzen. Sein neuester Streich ist die disziplinarische Verfolgung des Genossen Karl Liebknecht wegen einer ebenso kräftigen wie wahren Kennzeichnung, der Liebknecht auf dem Magdeburger Parteitag den Zarismus unterzogen hat. Der edle Zweck dieses ehrengerichtlichen Verfahrens ist, einen freimütigen und unerschrockenen Mann brotlos zu machen, weil er seine politische Pflicht erfüllt hat. Genosse Liebknecht darf sich wirklich etwas einbilden auf die Hartnäckigkeit, womit anscheinend sehr hohe Stellen ihn zu vernichten suchen. Auch hier ist noch nicht aller Tage Abend, und einstweilen ist es nicht wahrscheinlich, dass sich ein deutscher Ehrengerichtshof findet, der dem unersättlichen Bluttrinker in Petersburg nun auch noch deutsche Staatsbürger schlachtet. Jedoch der bloße Versuch eines Unternehmens, das, wenn es glückte, ein unvertilgbarer Schandfleck des Systems Bethmann Hollweg sein würde, bietet eine kostbare Möglichkeit, den stumpfsten Philister, wenn er anders noch ein schwaches Gefühl für nationale Ehre hat, gegen jenes System zu empören.

Ähnlich steht es mit der Hetze gegen die Jugendorganisationen der Arbeiterklasse. Dass sie einen ethischen oder pädagogischen Zweck hat, behaupten selbst ihre Urheber nicht; sie soll allein die heranwachsende Jugend in dem dumpfen Gehorsam gegen die herrschenden Klassen erhalten. Für diesen erhabenen Zweck will die preußische Regierung sogar eine ganze Million jährlich opfern, und das Dreiklassenparlament wird sie ihr auch gewiss bewilligen. Wäre es den edlen Hütern des Patriotismus wirklich um die „Jugendfürsorge“ in irgendwelchem ernsthaften Sinne zu tun, so würden sie sich nicht mit einer lumpigen Million begnügen, die ein wahrer Hohn auf den Zweck ist, dem sie angeblich dienen soll. Die Schnapsbrennerfürsorge wirkt sich in ganz anderen Millionenposten aus. Aber das winzige Opfer, das sich die herrschenden Klassen für die „Jugendfürsorge“ auferlegen, ist ja überhaupt nur ein Augenverblenden, eine Quaste an dem polizeilichen Säbel, der die Bildungsstätten zerstören soll, die das Proletariat seiner Jugend eingerichtet hat.

Seien wir jedoch nicht undankbar gegen diesen Säbel, der dem proletarischen Emanzipationskampf schon so große Dienste geleistet hat und sie in der Verfolgung der Jugendorganisationen wiederum leisten wird. Je mehr die Jugendbewegung bedrängt wird, um so mehr wird sie vor der Gefahr beschützt, in Spiel und Tand zu verfallen, um so kräftiger und unwiderstehlicher wird sie sich entfalten, und nur die unbelehrbarsten Reaktionäre können damit rechnen, dass eine Jugend, die in dem frischen Odem von Feld und Wald atmen gelernt hat, sich durch die Traktätchen von Betbrüdern je wieder in stickige Kasernenluft zurücklocken lassen wird. Wäre es anders erlaubt, das Schlechteste zu wünschen, so hätte man der proletarischen Jugend gar nichts Besseres wünschen können, als hart angefasst zu werden; weshalb sollten wir trauern, wenn der schwarzblaue Block den Hass und die Verachtung, womit er die Herzen der Alten schon bis zum Überschwange erfüllt hat, nun auch noch in die Herzen der Jungen säet?

In einem eigentümlichen Gegensatz zu der polizeilichen Hetze gegen die Jugendorganisationen steht der Professorenkrakeel an der Berliner Universität, der nun schon seit Monaten die „gebildete“ Welt in Atem erhält. Alle die bedenklichen Leidenschaften, vor denen die Jugend angeblich durch die heilige Hermandad geschützt werden soll, toben sich in diesem Streite aus. Ihn im einzelnen zu schildern würde eine so langweilige wie langwierige Sache sein, und einen Salomo, der entscheiden könnte, auf welcher Seite die größere Schuld und das größere Unrecht wäre, gibt es in dieser Welt schwerlich. Das Kurze und Lange an der nicht mehr neuen Geschichte ist, dass die Universität sich von der Regierung einen Professor hat aufhängen lassen, den sie nicht haben wollte, aber dafür, dass sie nicht den Mut hatte, ihre Unabhängigkeit auf Biegen oder Brechen zu wahren, nun den ungebetenen Gast hintenherum hinauszuekeln sucht. Es ist dasselbe erbauliche Schauspiel, das sich bei der Berufung des Herrn Schweninger an die Berliner Universität abspielte, nur dass hinter Schweninger immerhin ein Mann wie Bismarck stand, während hinter dem jugendlichen Herrn Bernhard nur der Kultusminister Trott steht, von dem gestern noch niemand etwas wusste und von dem morgen niemand mehr etwas wissen wird.

Herr Bernhard mag ein Streber sein, der sich lieber auf die Gunst der Regierung als auf seine wissenschaftlichen Leistungen verlässt. Jedoch wenn seine Gegner in besserem Rechte sein wollten, so mussten sie sich von Anfang an seiner Anstellung durch den Kultusminister widersetzen; hätte die Universität in dieser Weise ihre Unabhängigkeit gewahrt, so hätte sie, bei allem verzopften Cliquenwesen unserer Universitätszustände, in der Tat eine gewisse Sympathie für ihren Kampf beanspruchen können. Aber wenn sie dem Minister nicht zu widerstehen wagt und die Wut über ihre eigene Feigheit in einem kleinlichen Heckenkrieg an dem Günstling des Ministers auslässt, so kann sie niemand imponieren, und Herr Bernhard, der als unverdrossener Naturbursche auf seinem Posten ausharrt, obgleich ein halbes Hundert seiner Kollegen eine feierliche Erklärung an den Minister gerichtet haben, worin sie ihn für moralisch unmöglich erklären, hat, wenn auch just nicht die Bewunderer, so doch die Lacher auf seiner Seite.

So leichtes Spiel wie mit der ersten Hochschule des Landes wird die Regierung mit den sozialdemokratischen Jugendorganisationen nicht haben. Dafür ist hinlänglich gesorgt. Aber sonst mag sie es nur weiter treiben wie in den letzten Wochen, auf dass sich das Wort unseres Altmeisters Engels erfülle: Unsere Reaktionäre sind die größten Revolutionäre. [1]

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Anmerkung

1. Siehe Friedrich Engels: Vorwort zu Karl Marx: Das Elend der Philosophie. In: Marx/Engels: Werke, Bd. 4, S. 568 und Band 21, S. 186.


Zuletzt aktualisiert am 12. Juni 2024