Franz Mehring

 

Der Ursprung des Christentums

(20. November 1908)


Die Neue Zeit, 27. Jg 1908/09, Erster Band, S. 281–293.
Gesammelte Schriften, Band 13, S. 261–276.
Kopiert mit Dank von Sozialistische Klassiker 2.0.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Karl Kautsky
Der Ursprung des Christentums. Eine historische Untersuchung. Stuttgart.
Verlag von J. H. W. Dietz Nachf. 508 Seiten.
Preis broschiert 5 Mark, gebunden 5,75 Mark.

In dem eben erschienenen Buche Kautskys liquidiert die deutsche Arbeiterbewegung ein Erbe, das ihr von der Bildung des deutschen Bürgertums hinterlassen worden ist, aus der Zeit, wo diese Bildung noch einen großen historischen Sinn hatte und befruchtend überströmte auf die geistige Entwicklung höherentwickelter Kulturvölker: ein reiches und stolzes Erbe, einen Schatz, den vom kümmerlichen Geschlecht der bürgerlichen Epigonen die Gewissenloseren verwuchert, die Redlicheren doch nicht zu heben vermocht haben. Ehe wir auf das Buch selbst eingehen, sei ein Rückblick auf seine Vorgeschichte gestattet.
 

I

Es hat genau ein Jahrhundert gewährt, seitdem Lessing im Jahre 1778 die entscheidende Frage aller Evangelienkritik stellte und Bruno Bauer im Jahre 1878 die entscheidende Antwort gab. Indem Lessing aus der „Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes“, die der Hamburger Reimarus handschriftlich hinterlassen hatte, die „Fragmente“ mitteilte, die zu ihrer Zeit so gewaltiges Aufsehen erregten, erkannte er zwar den Scharfsinn an, womit die Schutzschrift die historischen Erzählungen des Alten wie des Neuen Testamentes kritisch zersetzte, aber er fragte zugleich: Wenn die biblischen Schriften und zumal die Evangelien so viel Märchen und Sagen, so viel Lug und Trug enthalten, wie hat sich dann aus diesem sumpfigen Untergrund die weltgeschichtliche Erscheinung des Christentums entfalten können? Wegen dieser „unklaren“ und „unwahren“ Stellung muss sich Lessing heute noch von seinen bürgerlichen Bewunderern rüffeln lassen, was jedoch nur ein Beweis mehr dafür ist, dass er den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. Lessing war ein zu gescheiter Kopf, um nicht zu erkennen, dass man mit einer Religion, die das römische Weltreich sich unterworfen und den weitaus größten Teil der zivilisierten Menschheit 1800 Jahre lang beherrscht hat, nicht fertig wird, indem man sie einfach für einen von Betrügern zusammengestoppelten Unsinn erklärt.

Im Jahre 1878 gab dann Bruno Bauer die entscheidende Antwort auf die Frage in seinem Buche über Christus und die Cäsaren, der reifsten Frucht vierzigjähriger Forschungen. Das Christentum ist nicht das Werk eines einzelnen Menschen, nicht das Werk einer göttlichen Offenbarung; es hat nie ein Christentum gegeben, das, fix und fertig aus dem Judentum entstanden, mit fester Dogmatik und Ethik die Welt erobert hat; das Christentum ist der griechisch-römischen Welt nicht aufgenötigt worden, sondern als Weltreligion das eigenste Produkt dieser Welt. Die verschwommene Mythentheorie von David Strauß, bei der jeder in den evangelischen Erzählungen gerade so viel für historisch halten konnte, wie ihm beliebte, verwarf Bruno Bauer als unwissenschaftlich; indem er nachwies, dass sich von dem ganzen Inhalt der Evangelien fast nichts historisch erweisen lässt, so dass er selbst die Existenz eines Jesus Christus bestritt, reinigte er den Boden, auf dem die Frage gestellt werden konnte: Woher stammen die Gedanken und Vorstellungen, die im Christentum zu einer Art System verknüpft worden sind, und wie gelangten sie zur Weltherrschaft?

Bruno Bauer wies nun nach, dass sich diese Gedanken und Vorstellungen bereits alle in der antiken Literatur finden, ehe von einer christlichen Religion gesprochen werden konnte, namentlich bei dem alexandrinischen Juden Philo, der noch im Jahre 40 unserer Zeitrechnung, aber in hohem Alter, lebte, und dann auch bei dem römischen Stoiker Seneca, der im Jahre 65 unserer Zeitrechnung starb.

Die zahlreichen Schriften Philos verschmolzen allegorisch-rationalistisch aufgefasste Überlieferungen des Judentums mit griechischer Philosophie, und sie enthalten alle wesentlich christlichen Vorstellungen: die angeborene Sündhaftigkeit des Menschen, den Logos, das Wort, das bei Gott und Gott selbst ist, das den Mittler macht zwischen Gott und Mensch; die Buße nicht durch Tieropfer, sondern durch das Darbringen des eigenen Herzens an Gott; endlich den wesentlichen Zug, dass die neue Religionsphilosophie die bisherige Weltordnung umkehrt, ihre Jünger unter den Armen, Elenden, Sklaven und Verworfenen sucht und die Reichen, Mächtigen, Bevorrechteten verachtet und dass damit die Verschmähung aller weltlichen Genüsse und die Abtötung des Fleisches vorgeschrieben sind. In der Predigt der bedürfnislosen und enthaltsamen Tugend war auch Seneca groß; er mimte den armen Lazarus des Evangeliums, während er in Wirklichkeit der reiche Mann desselben biblischen Gleichnisses war und bei seinem Tode ein Vermögen von – nach unserem Gelde – einigen sechzig Millionen Mark hinterließ.

Es ist das unvergängliche Verdienst Bruno Bauers – ein Verdienst, das um so mehr hervorgehoben zu werden verdient, als es von der offiziellen Gelehrsamkeit systematisch totgeschwiegen wird –, den Weg gewiesen zu haben, auf dem die Frage, wie das Christentum entstanden ist, einzig und allein wissenschaftlich gelöst werden kann, und dies Verdienst wird keineswegs dadurch geschmälert, dass Bruno Bauer selbst noch nicht an das Ziel dieses Weges gelangt ist. Er ging nicht etwa nur darin zu weit, dass er die historische Existenz Jesu überhaupt bestritt – denn diese Frage wurde ziemlich nebensächlich, wenn alle Gedankenelemente des Christentums in der antiken Literatur vor der angeblichen Wirksamkeit dieses angeblichen Heilands vorhanden waren –, sondern er wusste auch nicht durchgreifend nachzuweisen, woher diese Gedankenelemente ihren Ursprung genommen hatten und weshalb sie zur Weltherrschaft gelangt seien. Es fehlt freilich nicht an trefflichen Fingerzeigen auch nach diesen beiden Richtungen hin in Bauers Schriften, aber seine ideologische Geschichtsauffassung, die ihn in seiner Jugend schon mit seinen damaligen Freunden Marx und Engels überworfen hatte, hinderte ihn daran, den Ursprung des Christentums bis in seine letzten und tiefsten Gründe zu verfolgen.

So blieb noch ein wesentlicher, ja in gewissem Sinne der wesentlichste Teil der Aufgabe zu erledigen, die ein Jahrhundert lang die glänzendsten und scharfsinnigsten Geister des deutschen Bürgertums beschäftigt, die vielleicht den vornehmsten Ruhmestitel dieser Klasse in der internationalen Wissenschaft gebildet hatte; weder die englische noch die französische Bibelkritik konnte sich mit der deutschen messen. Allein das Jahr, wo Bruno Bauer sein abschließendes Werk veröffentlichte, war das Jahr des Sozialistengesetzes und der kaiserlichen Parole, dass dem Volke die Religion erhalten werden müsse. Und schon lange vorher war die bürgerliche Bildung von der Höhe herabgesunken, die sie in den Tagen Goethes und Hegels erreicht hatte; Bruno Bauer stand längst im Rufe eines „literarischen Sonderlings“. Das Hauptorgan der akademisch-literarischen Kritik meinte, sein letztes Buch verdiene nicht Widerlegung, sondern nur Spott, während sich das Hauptorgan der gebildeten Bourgeoisie nicht minder grollend von einem Werke abwandte, das „dunkle, namenlose Massen“ heraufbeschwöre, statt wenigstens den Rabbi von Nazareth in einer goldig schimmernden Wolke einherschreiten zu lassen, wie die Götter Homers.

So machte sich denn, um einen Ausdruck des Hof- und Salontheologen Harnack zu gebrauchen, die „historisch-kritische Arbeit“ daran, die „Geschichtlichkeit der Evangelien in großem Umfang wiederherzustellen“. Harnack selbst wurde das Haupt dieser Richtung, die sich bestrebte, einen Jesus zu konstruieren, der für die herrschenden politischen Strömungen durchaus ungefährlich war und doch den auseinanderstrebenden Richtungen der Zeit möglichst weit entgegenkam, um sie zusammenzuhalten, einen Jesus, der Konservative und Liberale unter seiner Fahne zusammenhalten konnte, kein Wundertäter und doch ein Wundertäter, kein Auferstandener und doch ein Auferstandener, kein Messias und doch ein Messias, kein sozialer Reformer und doch der Verkünder einer tatkräftigen sozialen Botschaft. Auf die dreisten rabulistischen Künste, mit denen einst David Strauß von der offiziellen Theologie bekämpft worden war, ließ sich Harnack nicht mehr ein; dazu war er ein viel zu modern denkender Mann, ja in wesentlichen Punkten stellte er sich auf die Seite von Strauß, nur dass er die vielen Hintertüren, die dessen Mythentheorie gelassen hatte, immer wieder benutzte, um zu entwischen; von Bruno Bauer wussten Harnack und seine Genossen natürlich nichts zu singen und zu sagen.

Dennoch war auch diese Evangelienkritik, sosehr sie von der Tendenz beherrscht war, dem Volke die Religion zu erhalten, bis zu einem gewissen Grade von der modernen Arbeiterbewegung beeinflusst. Diese Bewegung gleicht jenem scharfen Ostwind, von dem Schopenhauer sagt, dass er durch alles hindurch blase, alles Tun und Denken und Schreiben der Zeit beeinflusse, allem und jedem seinen Stempel aufdrücke. Der Jesus Harnacks ist ein modischer Sozialliberaler, der den entschiedenen Willen hat, den Pelz zu waschen unter der Voraussetzung, dass er ihn nicht nass zu machen braucht. Jesu Predigt ist im tiefsten Grunde individualistisch, aber im tiefsten Grunde auch sozialistisch. Im besonderen betrachtet Harnack freilich Jesum als ein Kind seiner Zeit, aber nur zu dem Zwecke, alles, was ihm in den Evangelien nicht passt, aus Jesu historischem Milieu wegzudeuten; so erläutert er zum Beispiel, dass der in einem kapitalistischen Zeitalter so bedenkliche Spruch: Gib jedem, der dich bittet, „aus der Zeit und der Situation“ verstanden werden müsse; es sei damit nur die augenblickliche Not des Bittenden gemeint, die mit einem Stück Brot oder einem Schluck Wasser gestillt werden könne. Im allgemeinen aber hat Jesus nach Harnack nur den Menschen ins Auge gefasst, den Menschen, der stets derselbe bleibe, möge er sich nun auf einer auf- oder absteigenden Linie bewegen, möge er im Reichtum sitzen oder in der Armut. Jesus hat keine Gesetze gegeben, die für Palästina noch so heilsam gewesen wären, aber heute würde er auf Seite derer stehen, die sich kräftig bemühen, die schwere Not des armen Volkes zu lindern.

Mit den „kräftigen Bemühungen“ dieses verwaschenen Sozialliberalismus war nun aber der anschwellenden Arbeiterbewegung nicht einmal ein Strohhalm in den Weg gelegt, und so fiel ihr Schatten immer drohender auch in die Theologie. Gegen die Richtung Harnack erhob sich eine andere Richtung, die in dem Bremer Geistlichen Kalthoff, der leider schon vor einigen Jahren in noch kräftigem Lebensalter gestorben ist, ihren beredtesten Vorkämpfer fand. Kalthoff unterwarf die Geschichtsklitterungen Harnacks einer unbarmherzigen, aber nicht unverdienten Kritik. „Um aus dem Menschen Jesus, und ein bloßer Mensch soll ja dieser Jesus unter allen Umständen bleiben, eine weltliche Erscheinung wie das Christentum abzuleiten, musste die liberale Theologie sich von der Methode der modernen Geschichtsforschung, von ihren sichersten Ergebnissen und elementarsten Gesetzen vollständig unberührt halten; sie musste in dem alten liberalen Heroenkultus fortleben, in dem Glauben an die auf sich selbst gestellten Individuen als die treibenden Faktoren der Weltgeschichte, während die Wissenschaft wie überall, so auch in dem Entwicklungsgang der Geschichte die inneren Zusammenhänge aufsucht und auch die Individuen nicht als vom Himmel gefallene Wunder, sondern als natürliche Wirkungen natürlicher, namentlich soziologischer Ursachen betrachtet.“ Diese Kritik Kalthoffs an Harnack traf deshalb nicht weniger, ja nur um so mehr ins Schwarze, weil sie gar nicht einmal vom Standpunkt des historischen Materialismus ausging, über den Kalthoff in den herkömmlichen, bürgerlichen Vorurteilen befangen war. In der Darstellung, die Kalthoff selbst von der Entstehung des Christentums gab, knüpfte er an die besten Überlieferungen der klassischen Evangelienkritik an, von Lessing bis Bruno Bauer. Er ging von dem Satze aus, mit dem Lessing schon den Hauptpastor Goeze in die Flucht geschlagen hatte: Die Bibel ist nicht die Religion; das Christentum war, ehe Evangelisten und Apostel geschrieben hatten; mit Recht hat die katholische Kirche stets die Kirche als das Ursprüngliche und die Bibel als das Abgeleitete betrachtet. Weit entfernt davon, die historische Entstehung des Christentums zu erzählen, sind die Evangelien vielmehr nur historische Urkunden, in denen sich die Entwicklungskämpfe der werdenden Kirche widerspiegeln.

Über Bruno Bauer ging Kalthoff aber noch hinaus, indem er den sozialen Ursprüngen des Christentums nachspürte. Er fand, dass die christliche Religion im Mittelpunkt der römischen Welt entstanden sei, in Rom selbst, in dessen von jüdischen Elementen stark durchsetzten Bevölkerung; von Rom aus ist die evangelische Geschichte nach Palästina projiziert worden; es ist gar nicht die Absicht der Evangelien, von einem Menschen namens Jesus, von einem Zimmermannssohn aus Nazareth zu erzählen; wen sie uns schildern wollen, das ist der kanonische Christus, die personifizierte Idee der Kirche. Was den heutigen Frommen das Christentum ist, eine Religion des Individuums, ein persönliches Heilsprinzip, das war dem alten Christentum eine Torheit und ein Ärgernis, die rechte Sünde wider den heiligen Geist. Wie viele Juden und Sklaven am Kreuze gestorben sein mögen: der gekreuzigte Christus des Neuen Testaments ist kein einzelner von diesen allen, er ist ihre ideale Zusammenfassung in der Kreuzesgeschichte der christlichen Gemeinde. Kalthoff machte auch kein Hehl daraus, dass ihm die Erleuchtung durch die moderne Arbeiterbewegung gekommen sei, was ihm freilich nicht minder zum Verhängnis wurde als zum Vorzug: da er nicht die ökonomische Bildung besaß, um zwischen dem antiken Sklaven und dem modernen Proletarier zu unterscheiden, so kam durch die unbefangene Analogie, die er zwischen beiden zog, ein falscher Zug in seine Schriften, die den in der theologischen Literatur seltenen Vorzug hatten, bei geringem Umfang viel zu sagen.

War nun aber der Bremer Pastor Kalthoff über den Berliner Professor Harnack gekommen, so kam nunmehr der Berliner Professor Pfleiderer über den Bremer Pastor Kalthoff. Diese dritte Richtung der modernen Theologie fand oder findet noch ein Haar in dem Spiele mit dem Feuer; sie will weder etwas von Harnack noch von Kalthoff wissen; sie sucht vielmehr „die richtige Mitte zwischen einem romantischen Personalismus, der die Bedeutung der Umwelt übersieht, und einem sozialen Evolutionismus, der die Bedeutung der Persönlichkeit in der Geschichte unterschätzt“. Solche „richtige Mitte“ läuft gewöhnlich auf ein qualvolles Drehen und Wenden hinaus zwischen der mahnenden Stimme des wissenschaftlichen Gewissens und der mahnenden Stimme der gutbürgerlichen Gesinnung, die dem Volke die Religion erhalten will. Jedoch in diesem Falle ist Herr Pfleiderer in seltsamem Zickzack schließlich auch bei Bruno Bauer gelandet.

Er sucht nachzuweisen, dass der Apostel Paulus der historische Stifter der christlichen Kirche gewesen sei, soweit bei einer weltgeschichtlichen Erscheinung überhaupt von einem Stifter gesprochen werden kann. Ohne Paulus wäre das Christentum eine der zahlreichen Sekten geblieben, die in dem damaligen Judentum existierten, und mit dem Untergang des jüdischen Staates wahrscheinlich verschwunden. Die Theologie des Paulus sieht nun aber vom geschichtlichen Leben und den geschichtlichen Lehren Jesu fast ganz ab; was Paulus geleistet hat, feiert Pfleiderer mit den Worten: „Er hat den urchristlichen Enthusiasmus sittlich gezügelt und veredelt, seine revolutionäre, auf das nahe Weltende fieberhaft gespannte und die bestehende Gesellschaftsordnung radikal verneinende Stimmung hat er überwunden und damit die Möglichkeit geschichtlichen Bestehens und Sichentwickelns der neuen Religion begründet … Er hat Staat, Ehe, Eigentum und Arbeit in ihre Rechte eingesetzt und den kommunistischen Neigungen, der Müßiggängerei und Bettelei der ältesten Messiasgemeinden einen Riegel vorgeschoben.“ Also – Heil dem Apostel Paulus!

Aber von demselben Paulus rühren auch alle die verzwickten Dogmen her, die den modernen Theologen wie Blei im Magen liegen. Mit dieser „paulinischen Theologie“ muss also aufgeräumt werden, indem man auf das „geschichtliche Leben“ und die „geschichtlichen Lehren“ Jesu zurückgeht. Allein um die paulinische Theologie zu beseitigen, entfaltet Pfleiderer sie als ein Produkt ihrer Entstehungszeit, als ein Konglomerat von jüdischer Religion, griechisch-römischer Philosophie und heidnischen Kulten, wobei er über Bruno Bauer hinaus darlegt, wie viel sie gerade in ihren hehrsten und zartesten Geheimnissen, in den Sakramenten von der Taufe und dem Abendmahl, in der göttlichen Geburt Jesu, in seinem Sterben und Wiederauferstehen, der persischen Mithrareligion verdankte, die in der vorderasiatischen Heimat des Paulus herrschte. Mit dem Zurückgehen auf den „geschichtlichen“ Jesus landet dann Pfleiderer wieder weit hinter Bruno Bauer; seine „richtige Mitte“ ist so etwas wie die Echternacher Springprozession.

Soviel über die Bibelkritik des letzten Menschenalters, deren Vertretern wir weder Gelehrsamkeit noch Scharfsinn noch auch nur Ehrlichkeit absprechen wollen. Aber ihre angeblich „voraussetzungslose“ Wissenschaft ist tatsächlich an die Voraussetzungen der herrschenden Klassen gebunden, und zwar um so enger, je weniger die einzelnen es wahrhaben möchten. Kalthoff, der am wenigsten ein Hehl daraus macht, dass er die moderne Arbeiterbewegung ins revisionistische Fahrwasser lenken möchte, ist noch am freiesten davon. Ihnen allen fehlt die wissenschaftliche Methode, die Kautsky besitzt, der an seinem Teil nicht beanspruchen kann und natürlich auch nicht beansprucht, an Beschlagenheit in den alten Kirchenvätern mit Harnack oder Pfleiderer einen erfolgreichen Wettkampf zu unternehmen.
 

II

Nach einem kurzen Überblick über die heidnischen und christlichen Quellen, die von der Persönlichkeit Jesu berichten und als historischen Kern nicht mehr übriglassen, als im günstigsten Falle, dass zur Zeit des Kaisers Tiberius ein Prophet hingerichtet wurde, von dem die Sekte der Christen ihren Ursprung herleitete, behandelt Kautsky in drei großen Abschnitten die Gesellschaft der römischen Kaiserzeit, das Judentum und die Anfänge des Christentums.

Die beiden ersten Abschnitte sind, jeder für sich, ein Abriss der römischen und der jüdischen Geschichte, die als solche eine eigene Bedeutung beanspruchen können. Bei keinem Geschichtsschreiber des alten Roms, von Niebuhr bis Ferrero, finden sich die Ursprünge der römischen Weltherrschaft gleich einleuchtend und klar dargestellt. Und zwar wiederum nicht, weil Kautsky sich an umfassender Forscherarbeit mit Männern wie Mommsen auf deren eigentlichem Arbeitsgebiete messen könnte, sondern weil er eine wissenschaftliche Methode handhabt, die ihrer Methode weit überlegen ist. Die richtige und tiefe Erkenntnis der modernen Arbeiterbewegung gibt auch hier den Schlüssel, um die Pforte zu öffnen, an der die bürgerlichen Historiker unsicher umhertasten, desto unsicherer, je falscher sie die moderne Arbeiterbewegung auffassen.

Unzweifelhaft findet sich im römischen Weltreich eine ökonomische Entwicklung, die der modernen auffallend gleicht: Rückgang des Kleinbetriebs, Fortschreiten des Großbetriebs und noch raschere Zunahme des großen Grundbesitzes, der Latifundien, die den Bauern enteignen und, wo sie ihn nicht durch Plantagenwirtschaft oder sonstige Großbetriebe ersetzen, ihn doch aus einem freien Eigentümer in einen abhängigen Pächter verwandeln. Geblendet durch diese äußere Analogie, werfen nun die bürgerlichen Historiker antiken und modernen Kapitalismus, antiken und modernen Sozialismus, antike und moderne Demokratie, antikes und modernes Proletariat kunterbunt durcheinander. Einen dieser wunderlichen Heiligen, der ein besonderes Werk über die „Geschichte des antiken Kommunismus und Sozialismus“ geschrieben hat, den Erlanger Professor Pöhlmann, erledigt Kautsky in einer Anmerkung durch den Hinweis, dass dieser wackere Patriot die Klassenkämpfe der antiken Proletarier, ja der verschuldeten Agrarier, die Schuldentilgungen der Junker, die Plünderungen und Bodenverteilungen durch die Besitzlosen auf eine Stufe mit dem modernen Sozialismus stellt, um zu beweisen, dass die Diktatur des Proletariats unter allen Umständen nichts bewirke als Sengen und Brennen, Morden und Schänden, Teilen und Schwelgen.

Über diese plumpe Mache verliert Kautsky mit Recht nicht viele Worte. Aber das Problem selbst ist damit nicht erschöpft; eine Biographie Mommsens, die uns nahezu gleichzeitig mit Kautskys Buch zukam, zeigt es in viel feinerer, ja geradezu tragischer Weise. Wir ersehen aus ihr, dass Mommsen sich schon in jungen Jahren mit dem modernen Kapitalismus beschäftigt, das Buch von Engels über die Lage der englischen Arbeiter als schleswig-holsteinischer Zeitungsredakteur im Jahre 1848 publizistisch verwertet, ja schon vorher in Paris mit Victor Considérant und anderen Fourieristen verkehrt und eifrig soziale Probleme diskutiert hat. Allein zum Verständnis des modernen Sozialismus gelangte Mommsen doch nicht so weit, um durch dies Medium die antiken Klassenkämpfe zu verstehen; er gebrauchte ihn nicht als Methode, sondern als Schablone und kam zu jenen Quidproquos über antiken Kapitalismus und Sozialismus, die ihm Marx gelegentlich im „Kapital“ vorwirft. Jedoch seine gründlichen Forschungen über antike Demokratie und antikes Proletariat wirkten nun zurück auf seine Einschätzung der modernen proletarischen Demokratie („mit allen anderen Parteien kann man sich vertragen, mit dieser nicht“), bis das letzte Wort des mehr als achtzigjährigen, an der verbrecherischen Torheit der herrschenden Klassen verzweifelnden Greises das Bekenntnis „zur Tüchtigkeit, zur Opferwilligkeit, zur Disziplin“ der Sozialdemokratie wurde, unter der Bedingung freilich, dass sie von der „Gemütsrohheit“ ablasse, nur die Interessen der Arbeiterklasse zu vertreten. Hier hätten wir die Bekehrung des fein gebildeten Römers zum Christentum, wenn nur nicht auch dieser Vergleich hinkte. Denn das Christentum verzichtete in der Tat auf jene „Gemütsrohheit“, auf die die Sozialdemokratie niemals verzichten wird.

Kautsky ist durch sein genaues Verständnis der modernen Arbeiterbewegung vor allen jenen schiefen Vergleichen und tollen Verwechslungen geschützt, die sich selbst in den klassischen Werken eines so berühmten und verdienten Historikers finden, wie Mommsen war. Mag die Verdrängung des bäuerlichen Kleinbetriebs durch den Latifundienbetrieb mit Sklavenbetrieb im Altertum ganz ähnlich aussehen wie die Auflösung des Handwerks durch die große Industrie in der neueren Zeit, so unterscheiden sich beide Prozesse doch durch den kleinen Unterschied, dass es sich bei jenem um einen technischen Rückschritt, bei diesem um einen technischen Fortschritt handelt. An der Sklavenwirtschaft ging die antike Kultur unter. Sie konnte nicht zurück zu bäuerlicher Wirtschaft, da die Bauern fehlten; sie konnte nicht vorwärts zur kapitalistischen Produktionsweise, da die freien Arbeiter fehlten.

Der antike Kapitalismus entstand in ähnlicher Weise wie der moderne, durch jene Methoden, die Marx in dem Kapitel über die „ursprüngliche Akkumulation“ geschildert hat: Enteignung des Landvolkes, Plünderung der Kolonien, Sklavenhandel, Handelskriege und Staatsschulden; er hatte dieselben verheerenden und zerstörenden Wirkungen, aber er konnte seine Beute nur in einem tollen Genussleben verschwenden und die Gesellschaft verarmen, während der moderne Kapitalismus seinen Profit zum größten Teil benutzt, um höhere Produktionsmittel zu erzeugen, die Produktivität der menschlichen Arbeit zu steigern. Dieser historische Fortschritt war der antiken Welt abgeschnitten, sie kam nicht über die Schwelle der kapitalistischen Produktionsweise hinüber; erst mussten in der Völkerwanderung zahlreiche Völker freier Bauern das ganze Römerreich überschwemmen, ehe die Reste der Kultur, die es geschaffen hatte, die Grundlagen einer neuen gesellschaftlichen Entwicklung abgeben konnten.

Mit diesen aphoristischen Andeutungen wollen wir nur einen allgemeinen Begriff von der Methode Kautskys geben; in die Einzelheiten seiner Untersuchung können wir ihm nicht folgen, zumal da seine gedrängte Form die Heraushebung einzelner Glieder aus der eng zusammenschließenden Kette seiner Schlussfolgerungen nicht gestattet, ohne dass sie sogleich schief werden oder doch, aus dem Zusammenhang gerissen, schief erscheinen. Genug, dass Kautsky aus der sozialen Zersetzung der römischen Gesellschaft und des römischen Staates „das Denken und Empfinden der Kaiserzeit“ abzuleiten weiß, die Gedankenelemente, die in den Schriften der Philo und Seneca und dann in den Evangelien ihren Niederschlag gefunden haben. Es ist kein anmutiges Bild, Verfall an allen Ecken und Enden, ökonomischer, politischer und damit auch wissenschaftlicher und moralischer Verfall: Abwendung vom Gemeinwesen und Beschränkung auf das eigene Ich, Feigheit und Mangel an Selbstvertrauen, Sehnsucht nach der Erlösung durch einen Kaiser oder einen Gott, nicht durch eigene Kraft oder die Kraft der eigenen Klasse; Selbstzerknirschung nach oben, pfäffische Anmaßung nach unten; Blasiertheit und Lebensüberdruss und wieder Sehnsucht nach Sensation, nach Wundern; Überschwänglichkeit und Ekstase, ebenso wie Heuchelei, Lüge und Fälschung. Selbst die mildernden Erscheinungen wie Wohltätigkeit gegen Arme, Humanität gegen Sklaven, Erweiterung der Nation zum Begriff der Menschheit sind Verfallsprodukte; wir sehen sie vertreten – und weshalb wir sie gerade so vertreten sehen, weist Kautsky in scharfsinnigster Weise nach – von Bluthunden und Wüstlingen, wie den Kaisern Tiberius, Nero, Caracalla, oder von geckenhaften Modephilosophen, wie Seneca, Apollonius von Tyana, Plotin und anderen.

Aus sich selbst heraus konnte diese verfallende Masse keine neue Welt gestalten, dazu bedurfte es anderer Elemente, und diese lieferte das Judentum.
 

III

Von ihm handelt Kautsky im zweiten Abschnitt seiner Schrift, der vielleicht noch fesselnder ist als der erste, schon aus dem mehr äußerlichen Grunde, weil die Geschichte des Judentums viel unbekannter, viel mehr noch in Sagen gehüllt und namentlich auch viel tendenziöser entstellt ist als die Geschichte des alten Roms, namentlich durch den elenden Zank der Anti- und der Philosemiten. Wir wollen uns gar nicht in den niederen Regionen dieses Zankes aufhalten, aber selbst wenn man nur die Fehde Mommsens und Treitschkes über das Judentum neben Kautskys Darstellung hält, so sieht man auch hier, welch gewaltigen Fortschritt der historische Materialismus in der Erkenntnis geschichtlicher Zusammenhänge geschaffen hat.

Die eigentümliche Stellung des Judentums schon in der alten Welt ist wesentlich entstanden nach dem babylonischen Exil. Nicht vorher, denn bis dahin waren die Israeliten kein Volk, das sich von anderen Völkern seiner Umgebung so streng unterschied, dass es unter ihnen aufgefallen wäre, aber auch nicht erst nachher, seit der Zerstörung Jerusalems durch die Römer, wie gewöhnlich angenommen wird. Nicht diese zweite, sondern bereits die erste Zerstörung Jerusalems durch Nebukadnezar schuf jene abnorme Situation, die das Judentum zu einer einzigartigen Erscheinung in der Geschichte machte.

Freilich scheidet kein noch so einschneidendes Ereignis die Geschichte eines Volkes in zwei völlig getrennte Hälften. Wenn die Israeliten nach dem babylonischen Exil ein Handelsvolk wurden, das sich über den ganzen Umkreis der antiken Welt verbreitete, so waren die Vorbedingungen dazu schon in der Zeit vor dem Exil geschaffen. Die Israeliten siedelten sich in dem Grenzland Palästina, das von wichtigen Handelsstraßen durchzogen war, als ein Beduinenstamm nomadischer Viehzüchter an, der als solcher schon Sinn und Vorliebe für den Warenhandel hatte. Der Handel entwickelte sich bei den Israeliten in ungleich höherem Maße als das Handwerk. Was Kautsky im Zusammenhang damit in den Kapiteln über die Gottesvorstellung im alten Israel, über Handel und Philosophie, über Handel und Nationalität ausführt, gehört zu den glänzendsten Partien seines Werkes und sei jedem empfohlen, der sich über den „plumpen Materialismus“ der marxistischen Methode ereifert.

Trotz seiner hohen Handelsblüte blieb, wie überall im Altertum, so auch in Palästina die Landwirtschaft die Grundlage der Gesellschaft, und je größere Reichtümer der Handel ins Land brachte, um so schneller verkam der Bauer in einem ähnlichen ökonomischen Prozess, wie er sich auch in Athen und Rom vollzog, nur dass auf den israelitischen Bauer die Schuldknechtschaft um so härter drückte, als das kleine Land nicht ununterbrochen glückliche Kriege führen konnte, die billiges und zahlreiches Sklavenmaterial lieferten. Die entrüsteten Proteste gegen diese Auswucherung der Bauernschaft finden wir in den Propheten des Alten Testamentes, aus denen Kautsky einige bezeichnende Stellen mitteilt mit der sarkastischen Bemerkung: „Ein Glück für die Propheten, dass sie nicht in Preußen oder Sachsen lebten! Sie wären aus den Aufreizungs-, Beleidigungs- und Hochverratsprozessen nicht hinausgekommen.“ Alle diese Proteste konnten aber den Gang der Dinge nicht aufhalten, und das kleine Israel wäre noch viel schneller abgestorben als das große Rom, wenn es nicht vorher schon übermächtigen Feinden zur Beute gefallen wäre.

Zunächst wurde das nördliche Israel im Jahre 722 vor unserer Zeitrechnung von den Assyrern überwältigt, die die „Blüte der Bevölkerung“ in assyrische und nordische Städte verschleppten und an ihre Stelle Leute aus rebellischen babylonischen Städten setzten. So gelang es, die israelitische Nation auszurotten, bis auf Jerusalem mit seinem Landbezirk Judäa. Dieser Rest wurde erst 135 Jahre später von den Babyloniern erobert, deren König Nebukadnezar die gesamte Bevölkerung Jerusalems in die Gefangenschaft führte. Auch sie würden auf die Dauer ihre Nationalität eingebüßt haben, wenn die Babylonier nicht von den Persern überwältigt worden wären, die den gefangenen Juden bereits in deren zweiter Generation die Rückkehr nach Jerusalem gestatteten.

Die fünfzig Jahre des Exils brachten nunmehr die gewaltigsten Änderungen im Judentum hervor, wofür wir im Einzelnen wieder auf Kautsky verweisen müssen. Was man als „Rasse-“ oder „Religionseigenschaften“ der Juden hinzustellen gewohnt ist, weist Kautsky als die notwendigen Wirkungen ökonomischer Zustände nach. Im Exil bestand das Judentum fort als Nation, gerade das Exil schärfte und stärkte sein nationales Bewusstsein, aber als eine Nation ohne Bauern, als eine Nation von ausschließlich städtischer Bevölkerung. Das gehört bis heute zu den wesentlichsten Eigenschaften des Judentums, die nichts anderes sind, als die durch das lange städtische Leben und den Mangel an Zuzug aus der Bauernschaft auf die Spitze getriebenen Eigenschaften des Städters. Die Rückkehr aus dem Exil nach Jerusalem hat daran nicht viel geändert, denn Palästina blieb ein unterworfenes Land, und die Herstellung eines nationalen Staates war den Juden verschlossen; sie blieben Städter, wie sie Händler blieben.

Kautsky schreibt keine Apologie des Judentums, wie es denn niemals Sache eines marxistischen Historikers sein kann, Apologien zu schreiben. Aber mit Recht weist er die öden Schlagworte ab, mit denen selbst ein Mann wie Mommsen die historische Frage des Judentums abzutun versucht hat, Schlagworte etwa derart, dass den Juden die „Pandoragabe politischer Organisation“ versagt gewesen sei, dass sie „ein wirksames Element der nationalen Dekomposition“ gewesen seien usw., Schlagworte, die nicht sowohl unwahr als unsinnig sind. Der letzte Versuch des Judentums, das römische Joch abzuschütteln, entfaltete eine nationale Kraft, gab der Welt ein Denkmal von Ausdauer, Heldenmut und Hingebung, von dem Kautsky mit Recht sagt, dass es aus dem Schmutz allgemeiner Feigheit und Selbstsucht jener Zeit einsam, aber umso gewaltiger hervorragte.

Es war nicht das gesamte Judentum Jerusalems, das den hoffnungslosen Riesenkampf gegen den übermächtigen Feind drei Jahre lang, bis zum September des Jahres 70 unserer Zeitrechnung, aufs tapferste, sicherste und scharfsinnigste führte, jeden Zoll Bodens mit Leichen bedeckend, ehe es ihn aufgab, um schließlich, von Hunger und Krankheiten entkräftet, in den brennenden Ruinen sein Grab zu finden. Die Priester, die Schriftgelehrten, die Kaufherren, sie hatten sich zum großen Teil schon bei Beginn der Belagerung in Sicherheit gebracht. Es waren die kleinen Handwerker und Krämer wie die Proletarier Jerusalems, die zu den Heroen ihrer Nation wurden, im Verein mit proletarisierten Bauern Galiläas, die sich nach Jerusalem durchgeschlagen hatten.

In dieser Atmosphäre entstand die christliche Gemeinde. Sie bietet ganz und gar nicht jenes lachende Bild, das Renan in seinem Roman von Jesus entwirft, indem er versichert, dieses schöne Land habe zu Jesu Zeiten in Fülle, Fröhlichkeit und Wohlbehagen gestrotzt, so dass sich jede Geschichte der Entstehung des Christentums zu einer lieblichen Idylle gestalte.

So lieblich, fügte Kautsky hinzu, wie der wunderschöne Monat Mai 1871 in Paris.
 

IV

Im Widerspruch mit Kalthoff, der die Entstehung der christlichen Gemeinde nach Rom verlegt, findet Kautsky, dass nicht der mindeste Grund vorliege, an der Angabe der Apostelgeschichte zu zweifeln, wonach sie in Jerusalem entstanden sei. In der Tat sprechen alle inneren Gründe dafür.

Die eigentlich konstitutiven Elemente des Christentums, der Monotheismus, der Messianismus, der Auferstehungsglaube, der essenische Kommunismus sind innerhalb des Judentums entstanden; in ihrer Vereinigung fand, wie Kautsky eingehend nachweist, das jüdische Proletariat oder doch ein Teil davon sein Sehnen und Wünschen am besten befriedigt. Die Zustände, die im ganzen gesellschaftlichen Organismus des römischen Weltreichs herrschten, machten diesen Organismus, namentlich in seinen proletarischen Teilen, immer empfänglicher für die neuen, dem Judentum entstammenden Tendenzen, aber diese Tendenzen lösten sich, sobald sie dem Einfluss der außerjüdischen Umgebung unterlagen, nicht nur vom Judentum los, sondern traten ihm sogar feindselig gegenüber. Sie mischten sich nun mit den Tendenzen der absterbenden griechisch-römischen Welt, die den Geist der kräftigen nationalen Demokratie, der im Judentum bis zur Zerstörung Jerusalems herrschte, völlig in sein Gegenteil umkehrten, mit willenloser Ergebung, Knechtseligkeit und Todessehnsucht versetzten.

Aus dieser Zeit, aus dem zweiten Jahrhundert unserer Zeitrechnung, stammen die Evangelien, die ersten schriftlichen Berichte, die wir über die Entstehung des Christentums besitzen. In seinen Anfängen eine proletarische Organisation, deren kommunistischen Charakter Kautsky neueren Anzweiflungen gegenüber schlagend nachweist, beruhte das Christentum mehrere Generationen hindurch auf mündlicher Überlieferung. Seine ersten Vertreter mochten redegewaltige Leute sein, allein mit Lesen und Schreiben vermochten sie nicht umzugehen; diese Künste lagen der Volksmasse damals noch ferner als heute. Zunächst blieb die christliche Lehre und die Geschichte ihrer Gemeinde auf mündliche Überlieferungen beschränkt, Überlieferungen fieberhaft erregter, unsäglich leichtgläubiger Leute, Überlieferungen von Vorgängen, die nur ein kleiner Kreis miterlebt hatte, soweit sie sich überhaupt ereignet hatten, die also von kritisch unbefangenen Elementen der Bevölkerung nicht geprüft werden konnten. Erst als sich gebildetere, sozial höher stehende Leute dem Christentum zuwandten, begann die schriftliche Fixierung seiner Überlieferungen, aber auch noch nicht zu historischen, sondern zu polemischen Zwecken, zur Verfechtung bestimmter Anschauungen und Forderungen. Den Evangelien ist eine abwiegelnde Tendenz gemeinsam, die um so mehr hervortritt, je später sie entstanden sind; der wilde Klassenhass des Proletariats, der im Lukasevangelium noch oft emporlodert, erscheint im Matthäusevangelium, wie wir heute sagen würden, revisionistisch gedämpft.

Hier tritt Kautsky nun wieder in einen Widerspruch zu Kalthoff und auch zu Bruno Bauer. Beide haben die historische Existenz Jesu bestritten, und insofern mit gutem Grunde, als sich ein historischer Beweis für diese historische Existenz nicht führen lässt. Auch hatte und hat die ganze Frage nur ein sehr nebensächliches Interesse, sobald einmal nachgewiesen ist, was zuerst durch Bruno Bauer geschah, dass es nicht einen einzigen christlichen Gedanken gibt, der nicht schon vor der Zeit, wo Jesus gelebt und gewirkt haben soll, in der griechisch-römischen oder jüdischen Literatur heimisch gewesen wäre. Insofern würden wir auch kein besonderes Verdienst Kautskys darin sehen, dass er, im Widerspruch mit Bruno Bauer und Kalthoff, die historische Existenz Jesu so sicher nachweist, wie sich überhaupt durch mittelbare Schlussfolgerungen die Existenz einer historischen Persönlichkeit nachweisen lässt. Allein bei Kautsky steht die Frage in einem tieferen und weiteren Zusammenhang. Er sagt ganz richtig, dass, wenn die christliche Gemeinde sich aus freier Phantasie das Jesusbild geschaffen hätte, dies Bild nicht von so sinnlosen Widersprüchen wimmeln würde wie in den Evangelien. Mag man die Bildung und den Scharfsinn ihrer Verfasser noch so tief stellen, so würden sie ihre Tendenz, den rebellischen Jesus immer mehr in einen leidenden zu verwandeln, der nicht wegen eines Aufruhrs, sondern einzig und allein wegen seiner unendlichen Güte und Heiligkeit durch die Bosheit und Schlechtigkeit heimtückischer Neider gemordet worden sei, viel konsequenter durchgeführt haben, wenn nicht einmal ein galiläischer Rebell Jesus als Rädelsführer jüdischer Proletarier von den Römern ans Kreuz geschlagen worden wäre und sein Tod auf seine Anhänger einen solchen Eindruck gemacht hätte, dass er in der Überlieferung der christlichen Gemeinde wohl entstellt, übermalt, verwischt, aber nicht mehr völlig verschwiegen werden konnte. Legt der ungeheuerliche Widersinn, als der namentlich die Passionsgeschichte Jesu in den Evangelien erscheint, diese tatsächliche Voraussetzung unabweisbar nahe, so wird sie selbst nun wieder ein Leitfaden durch das Dickicht heulender Widersprüche, wie Kautsky in einem eigenen Kapitel darlegt, das zu den anziehendsten Teilen seines Buches gehört.

Auch das Schweigen der weltlichen Geschichtsschreibung über Jesu spricht nicht dagegen, dass er gelebt hat, wenn wir auch nicht mehr von ihm sagen können, als dass er in Galiläa geboren und in Jerusalem gekreuzigt ist. Von der Zeit, in die Jesu Tod verlegt wird, bis zur Zerstörung Jerusalems waren Straßenkämpfe etwas ganz Gewöhnliches in Jerusalem, und ebenso die Hinrichtung einzelner Aufrührer. Ein solcher Straßenkampf einer kleinen Gruppe von Proletariern und die darauf folgende Kreuzigung ihres Rädelsführers, der aus dem stets rebellischen Galiläa stammte, mochte sehr tiefen Eindruck auf seine überlebenden Anhänger machen, ohne dass die Geschichtsschreibung von einem so alltäglichen Vorkommnis irgendwelche Notiz zu nehmen brauchte.

Der Stifter der christlichen Kirche ist Jesus freilich auch dann nicht gewesen, wenn seine Anhänger wirklich den Urkeim der christlichen Gemeinde gebildet haben sollten. Die damalige Welt wimmelte von solchen Messiassen und solchen religiösen Sekten, und wenn die christliche Gemeinde im Laufe der nächsten Jahrhunderte sie alle überflügelte, so geschah es, weil sie, man möchte sagen, in einem darwinistischen Kampfe ums Dasein sich über das gesamte Reich auszudehnen und alle die Elemente des neuen Denkens und Empfindens in sich aufzunehmen wusste, die aus der gesellschaftlichen Umwandlung ihrer Zeit erstanden, weil sich ihre Organisation anpassungsfähiger als jede andere für die Bedürfnisse des großstädtischen Proletariats und schließlich auch anpassungsfähiger als jede andere für die Bedürfnisse des Reiches selbst erwies.

Wer diese Entwicklung im Einzelnen verfolgen will, sei abermals auf Kautskys Buch verwiesen.
 

V

In einem Schlusskapitel vergleicht Kautsky Christentum und Sozialdemokratie. Der Vergleich liegt nahe, wenn man auf der einen Seite erwägt, dass die christliche Gemeinde, entstanden als proletarisch-kommunistische Organisation, zu einer Macht emporwuchs, der sich die römischen Kaiser beugten, um dann selbst die riesigste Ausbeutungs- und Unterdrückungsmaschine der Welt zu werden, auf der anderen Seite aber, dass sich die sozialistische Arbeiterbewegung aus den unscheinbarsten Anfängen ebenfalls zu einer mächtigen Organisation entwickelt hat, die Kaiser und Könige beneiden können, und aus ihrer eigenen Mitte hier oder da Stimmen laut geworden sind, die zum Paktieren mit den herrschenden Gewalten raten.

Mit diesen Analogien steht es aber doch nicht besser als mit allen ähnlichen Vergleichen zwischen antiken und modernen Zuständen. Kautsky legt die inneren Zusammenhänge dar, die eine solche Zukunft der modernen Sozialdemokratie ausschließen, und wir möchten hinzufügen, dass, solange der Geist, der in seinem Buche lebt, in der Partei lebendig ist, die Entwicklung, die das Christentum genommen hat, für sie unmöglich ist. Nicht als ob dies Buch nicht auch seine Lücken und Mängel hätte, nicht als ob nicht in manchem Punkte eine andere Auffassung möglich und vielleicht richtiger wäre als die Auffassung Kautskys. Aber so viele solcher Lücken und Mängel man aufweisen mag, ja in gewissem Sinne, je mehr man ihrer aufweist, um so mehr tritt der große historische Sinn hervor, der das Buch geschaffen hat, und der, solange er die Partei beseelt, sie allein schon vor allen historischen Abwegen behüten wird.

Vielleicht wäre es richtiger oder doch klüger gewesen, unsere Besprechung von Kautskys Schrift an anderem Orte zu veröffentlichen als gerade an dieser Stelle. Indessen Lessing meint einmal: Notwehr entschuldigt Selbstlob. Und wenn das Erscheinen von Kautskys Buch zusammenfällt mit individuellen oder kollektiven Kriegserklärungen an die „verknöcherten Dogmatiker“ und „Marx-Epigonen“, so wird man durch solche Bannflüche auch theologisch angehaucht und muss Zeugnis ablegen für den Beweis des Geistes und der Kraft – trotz einem alten Kirchenvater. Und diesen Beweis hat Kautsky mit seinem Buche geliefert, das – weltlich gesprochen – der Partei zur Ehre gereicht und, je mehr es von den Parteigenossen gelesen werden wird, auch zu desto größerem Nutzen gereichen wird.


Zuletzt aktualisiert am 13. Juni 2024