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Franz Mehring, Historisch-materialistische Literatur, Die neue Zeit, 25. Jg., 2. Bd. (1907), H. 41, S. 502–509.
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Rosa Luxemburg,
Massenstreik, Partei und Gewerkschaften.
Im
Auftrage des Vorstandes der sozialdemokratischen Landesorganisation
Hamburgs
und der Vorstände der sozialdemokratischen Vereine
von Mona, Ottensen und Wandsbeck.
Verlag von Erdmann Dubber in
Hamburg, 1906. 68 Seiten.
Rudolf Springer (Karl Renner),
Grundlagen und
Entwicklungsziele der österreichisch-ungarischen
Monarchie.
Politische Studie über den Zusammenbruch der
Privilegienparlamente
und die Wahlreform in beiden Staaten, über
die Reichsidee und ihre Zukunft.
Wien und Leipzig 1906, Franz
Deuticke. 248 Seiten.
Diese beiden Schriften behandeln Probleme, die sehr weit auseinanderliegen; sie sind auch durchaus verschieden nach Form und Inhalt, aber in einem treffen sie zusammen, und zwar in dem Wichtigsten: jede von beiden ist ein kleines Meisterwerk der historisch-materialistischen Geschichtsschreibung. Jede von beiden handhabt in glänzender Weise die Methode unserer Meister, was sich gerade auch darin offenbart, dass die eine wie die andere in den Fragen, die sie erörtern, das Erbe von Marx und Engels so liquidieren, wie es im Sinne der rastlos sich entwickelnden Wissenschaft liquidiert werden muss: sie bilden es fort, indem sie es umwälzen.
Die Genossin Luxemburg knüpft gleich im Beginn ihrer Schrift an die ablehnende Stellung an, die Marx und Engels zur Frage des Massenstreiks eingenommen haben. Diese Stellung erschöpft sich bekanntlich in der einfachen und anscheinend auch wirklich alles erledigenden Argumentation: Entweder ist das gesamte Proletariat noch nicht im Besitz mächtiger Kassen und Organisationen, dann kann es den Generalstreik nicht durchführen, oder es ist bereits mächtig genug organisiert, dann braucht es den Generalstreik nicht. In der Tat war damit die anarchistische Theorie des Generalstreiks, als eines Mittels, die soziale Revolution einzuleiten, im Gegensatz zum täglichen politischen Kampfe der Arbeiterklasse, ins Herz getroffen. In der russischen Revolution, wo sich das großartigste Versuchsfeld für den Anarchismus zu öffnen schien, hat er vielmehr sein historisches Ende gesunden; er ist in ihr „nicht die Theorie des kämpfenden Proletariats, sondern das ideologische Aushängeschild des konterrevolutionären Lumpenproletariats geworden, das wie ein Rudel Haifische hinter den Schlachtschiffen der Revolution wimmelt“.
Eben die russische Revolution aber hat jene scheinbar unanfechtbare Argumentation von Marx und Engels einer gründlichen Revision unterzogen. Sie hat den Massenstreik verwirklicht nicht als ein Mittel, unter Umgehung des politischen Kampfes der Arbeiterklasse und speziell des Parlamentarismus durch einen Theaterstreich plötzlich in die soziale Revolution hineinzuspringen, sondern als ein Mittel, erst die Bedingungen des täglichen politischen Kampfes und insbesondere des Parlamentarismus für das Proletariat zu schaffen. Der revolutionäre Kampf in Russland, dessen wichtigste Waffe die Massenstreiks sind, wird von den Massen des russischen Volkes um dieselben politischen Rechte geführt, deren Bedeutung und Notwendigkeit im proletarischen Emanzipationskamps Marx und Engels zuerst nachgewiesen und in der Internationalen Arbeiterassoziation mit aller Kraft im Gegensatz zum Anarchismus verfochten haben. Der Massenstreik hat sich in Russland als die Strategie und Taktik derjenigen Revolution erwiesen, die, in ihrem Wesen und ihren Zielen noch bürgerlich, doch schon vom Proletariat als führender Klasse durchgefochten werden muss, die im Sturz des alten Absolutismus zugleich den Sturz der siegenden Bourgeoisie anbahnt.
Diesem Nachweis und den Folgerungen, die sich daraus für die Strategie und Taktik der deutschen Sozialdemokratie ergeben, ist die Schrift der Genossin Luxemburg gewidmet. Sie gibt zunächst ein historisches Bild der russischen Massenstreiks, ein Bild, dessen packende Kraft nicht leicht überboten werden kann; wie mit einer Feder von Feuer sind diese Seiten geschrieben. Hier seien nur die Sätze wiedergegeben, in denen die Verfasserin ihre hinreißende Darstellung zusammenfasst:
„Der Massenstreik, wie ihn uns die russische Revolution zeigt, ist eine so wandelbare Erscheinung, dass er alle Phasen des politischen und ökonomischen Kampfes, alle Stadien und Momente der Revolution in sich spiegelt. Seine Anwendbarkeit, seine Wirkungskraft, seine Entstehungsmomente ändern sich fortwährend. Er eröffnet plötzlich neue weite Perspektiven der Revolution, wo sie bereits in einen Engpass geraten schien, und er versagt, wo man auf ihn mit voller Sicherheit glaubt rechnen zu können. Er flutet bald wie eine breite Meereswoge über das ganze Reich, bald zerteilt er sich in ein Riesennetz dünner Ströme; bald sprudelt er aus dem Untergrunde wie ein frischer Quell, bald versickert er ganz im Boden. Politische und ökonomische Streiks, Massenstreiks und partielle Streiks, Demonstrationsstreiks und Kampfstreiks, Generalstreiks einzelner Branchen und Generalstreiks einzelner Städte, ruhige Lohnkämpfe und Straßenschlachten, Barrikadenkämpfe – alles das läuft durcheinander, nebeneinander, durchkreuzt sich, stießt ineinander über; es ist ein ewig bewegliches, wechselndes Meer von Erscheinungen. Und das Bewegungsgesetz dieser Erscheinungen wird klar: es liegt nicht in dem Massenstreik selbst, nicht in seinen technischen Besonderheiten, sondern in dem politischen und sozialen Kräfteverhältnis der Revolution. Der Massenstreik ist bloß die Form des revolutionären Kampfes, und jede Verschiebung im Verhältnis der streitenden Kräfte, in der Parteientwicklung und in der Klassenscheidung, in der Position der Konterrevolution, alles das beeinflusst sofort auf tausend unsichtbaren, kaum kontrollierbaren Wegen die Streikaktion. Dabei hört aber die Streikaktion selbst fast keinen Augenblick auf. Sie ändert bloß ihre Formen, ihre Ausdehnung, ihre Wirkung. Sie ist der lebendige Pulsschlag der Revolution und zugleich ihr mächtigstes Triebrad. Mit einem Worte: der Massenstreik, wie ihn uns die russische Revolution zeigt, ist nicht ein pfiffiges Mittel, ausgeklügelt zum Zwecke, eine kräftigere Wirkung des proletarischen Klassenkampfes zu erzielen, sondern er ist die Bewegungsweise der proletarischen Masse, die Erscheinungsform des proletarischen Kampfes in der Revolution.“
Aus diesem historischen Wesen der russischen Massenstreiks leitet die Genossin Luxemburg einige allgemeine Gesichtspunkte ab. Das Schema des Massenstreiks als eines rein politischen, nach Absicht und Plan hervorgerufenen und abgeschlossenen, kurzen Einzelaktes passt lediglich aus den reinen Demonstrationsstreik, der in dem allgemeinen Bilde der russischen Massenstreiks eine ganz untergeordnete Rolle spielt. Mit dieser einzigen Ausnahme ist das ökonomische und das politische Moment bei den Massenstreiks unmöglich zu trennen.
„Der ökonomische Kampf ist das Fortleitende von einem politischen Knotenpunkt zum anderen; der politische Kampf ist die periodische Befruchtung des Bodens für den ökonomischen Kampf. Ursache und Wirkung wechseln hier alle Augenblicke ihre Stellen, und so bilden das ökonomische und das politische Moment in der Massenstreikperiode, weit entfernt, sich reinlich zu scheiden oder gar auszuschließen, wie es das pedantische Schema will, vielmehr nur zwei ineinandergeschlungene Seiten des proletarischen Klassenkampfes in Russland. Und ihre Einheit ist eben der Massenstreik.“
Dieser Massenstreik ist unzertrennlich von der Revolution, deren gewaltigste und wirksamste Waffe er ist, und deshalb lässt er sich ebenso wenig durch einen Machtbefehl hervorrufen, wie sich die Revolution durch solchen Befehl hervorrufen lässt. Wohl aber kommt der Sozialdemokratie und ihren führenden Organen in ganz anderem Sinne die politische Leitung der Massenstreiks auch mitten in der Revolutionsperiode zu; es ist ihre Sache, dafür zu sorgen, dass ihre Taktik nie unter dem Niveau des tatsächlichen Kräfteverhältnisses steht, dass in jedem Augenblick des revolutionären Kampfes die ganze Summe der vorhandenen und bereits ausgelösten Macht des Proletariats realisiert wird. Eine konsequente, entschlossen vorwärtsstrebende Taktik der Sozialdemokratie ruft in der Masse das Gefühl der Sicherheit, des Selbstvertrauens und der Kampflust hervor; eine schwankende, schwächliche, auf der Unterschätzung des Proletariats basierende Taktik wirkt auf die Masten lähmend und verwirrend.
Was hat nun die deutsche Arbeiterbewegung aus diesen russischen Erfahrungen zu lernen? Der Einwand, als ob hüben und drüben eine völlige Verschiedenheit der Verhältnisse vorliege, wird von der Genossin Luxemburg in einleuchtender Weise widerlegt, doch müssen wir die Leser bitten, diese Ausführungen in ihrer Schrift selbst nachzulesen. Was sie fordert, ist die Beseitigung des wichtigen Übelstandes, der sich schon bei den ersten schwachen Versuchen zur Vorbereitung einer größeren Massenaktion herausgestellt hat, die Beseitigung der völligen Trennung und Verselbständigung, die zwischen den beiden Organisationen der deutschen Arbeiterbewegung, der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften, eingerissen ist. Selbstverständlich nicht zufällig, nicht durch die Schuld einzelner Personen, sondern aus historischen Gründen, deren Erkenntnis sich die Genossin Luxemburg keineswegs verschließt. Sie weiß sehr gut, wie die Theorie von der „Gleichberechtigung“ der Gewerkschaften mit der Sozialdemokratie entstanden ist, aber sie sieht darin eine Gefahr für die kompakte Einheit der Arbeiterbewegung, die im Hinblick auf die kommenden Klassenkämpfe notwendig, und nicht zum wenigsten im Interesse der gewerkschaftlichen Entwicklung notwendig ist. Sehr mit Recht hebt die Genossin Luxemburg hervor, dass die Blüte der deutschen Gewerkschaften ein Produkt der Sozialdemokratie ist. Was sie darüber ausführt, ist von schlagender Wahrheit. So ist die notwendige völlige Einheit der gewerkschaftlichen und der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung tatsächlich auch vorhanden; sie ist verkörpert in der breiten Masse, die gleichzeitig die Basis der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften bildet.
Aber das starke Wachstum der Gewerkschaftsbewegung hat von selbst eine starke Verselbständigung der Gewerkschaften, eine Spezialisierung ihrer Kampfmethoden und endlich das Aufkommen eines regelrechten gewerkschaftlichen Beamtenstandes mit sich gebracht. Und diese notwendigen Förderungsmittel des gewerkschaftlichen Wachstums können bei einem gewissen Reifegrad der Verhältnisse in ihr Gegenteil umschlagen. Es ist hoffnungslos, die notwendige Einheit der Arbeiterbewegung auf dem Wege sporadischer oder periodischer Verhandlungen über ihre Einzelfragen zwischen der sozialdemokratischen Parteileitung und der gewerkschaftlichen Zentrale herstellen zu wollen; gerade die obersten Organisationsspitzen der beiden Formen der Arbeiterbewegung verkörpern ihre Trennung und ihre Verselbständigung; will man die Einheit durch die Verbindung des Parteivorstandes und der Generalkommission erreichen, so sucht man eine Brücke gerade da zu bauen, wo der Abstand am weitesten und der Übergang am schwersten ist. Die Gewähr für die wirkliche Einheit der Arbeiterbewegung liegt in der organisierten proletarischen Masse, in deren Bewusstsein, dass Partei und Gewerkschaften tatsächlich eins sind, der eine Emanzipationskampf des Proletariats in verschiedenen Formen. Und daraus ergibt sich auch von selbst die Notwendigkeit, zur Beseitigung jener Reibungen die sich zwischen der Sozialdemokratie und einem Teil der Gewerkschaften ergeben haben, ihr gegenseitiges Verhältnis dem Bewusstsein der Massen anzupassen, mit anderen Worten, die Gewerkschaften der Sozialdemokratie wieder anzugliedern. Im Bewusstsein der Massen ist jede Gewerkschaftsbewegung ein Stück der Sozialdemokratie und – so schließt Genossin Luxemburg ihre Schrift – was sie ist, das wage sie zu scheinen.
Mit dieser dürftigen Skizze des Gedankenganges ist der reiche Inhalt der Arbeit natürlich nicht entfernt erschöpft. Aber auch so wird der Leser leicht erkennen, wie sehr sie die Diskussion über den Massenstreik zu fördern und zu vertiefen geeignet ist. Der Massenstreik lässt sich nicht kommandieren, und es lässt sich nicht einmal beschließen, dass er losbrechen soll, wenn ein Attentat auf das allgemeine Wahlrecht unternommen wird. Aber er wird unfehlbar kommen, wenn eine revolutionäre Entwicklung auch für Deutschland einsetzt, und dann muss er freie Bahn finden und darf nicht auf Hindernisse stoßen, die sich die Arbeiterklasse selbst geschaffen hat, dann darf er die proletarische Organisation nicht in der eigentümlichen Form einer Doppelpyramide finden, deren Basis und Körper aus einem Massiv besteht, aber deren Spitzen weit auseinanderstehen.
Man sollte denken, dass eine historische Auseinandersetzung von diesem Gehalt überall in der deutschen Arbeiterwelt lebhaftes Interesse erwecken müsste, doch hat ein Parteimitglied für passend gehalten, in den Sozialistischen Monatsheften die Schrift der Genossin Luxemburg mit schalen Späßchen in dem Sinne herabzusetzen, dass die Verfasserin so, aber auch anders könne. Ursprünglich war nämlich die Arbeit nur für die örtliche Organisation bestimmt, in deren Auftrag sie verfasst worden ist, und die Hamburger Genossen haben sie erst später in richtiger Erkenntnis ihres Wertes der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Dazwischen aber lag der Parteitag von Mannheim, wo ein Schritt in der von der Genossin Luxemburg befürworteten Richtung geschah, und so hat sie, natürlich ohne den Gedankengang im mindesten zu ändern, in der zweiten Ausgabe ein paar formale Milderungen von Worten vorgenommen, die vielleicht einen Teil der Gewerkschaftsbeamten hätten verletzen können, so wenig sie übrigens gerade von dieser Seite her an irgendwelche Rücksicht gewöhnt worden ist.
Über das Verfahren selbst, wegen dessen sie verhöhnt worden ist, urteilte Genosse Bernstein, dessen Autorität die Sozialistischen Monatshefte gewiss nicht ablehnen werden, schon vor sechzehn Jahren in diesen Spalten:
„Auch in seiner literarischen Polemik zeichnete sich Lange bei aller Schärfe durch vornehme Sachlichkeit aus. Mitte der sechziger Jahre war er mit Dühring in eine Polemik geraten. Dühring war, wie immer, auch hier sofort persönlich geworden. Lange hatte bereits eine scharfe Antwort geschrieben, als Dührings Schrift über Kapital und Arbeit erschien, die einen Schritt ihres Verfassers in der Richtung zum Sozialismus verriet. Sofort vernichtete Lange die gegen Dühring gerichteten Stellen.“
Genau dieselbe „vornehme Sachlichkeit“ bewies die Genossin Luxemburg, indem sie trotz all der bitteren und ungerechten Angriffe, die von einem Teil der Gewerkschaftspresse gegen sie gerichtet worden sind, auf jedes scharfe Wort verzichtete, als sich die Möglichkeit einer fachlichen Verständigung erhöhte. Dafür wird sie nun wieder verhöhnt, nicht etwa von der bürgerlichen Presse, deren blöder Stumpfsinn sich mit Vorliebe an ihr reibt, sondern von einem Mitglied der sozialdemokratischen Presse. Das ist wirklich nicht schön, und zwar umso weniger, als diese geschmacklosen Anzapfungen des genialsten Kopses, der bisher unter den wissenschaftlichen Erben von Marx und Engels hervorgetreten ist, am letzten Ende doch nur darin wurzeln, dass eine Fran diesen Kopf auf ihren Schultern trägt.
Nicht der geringste Vorzug, der die Schrift der Genossin Luxemburg auszeichnet, ist ihre klassische Sprache. Kaum an einer oder zwei Stellen verrät eine leise Schattierung des Ausdrucks, dass die deutsche Sprache nicht die Muttersprache der Verfasserin ist. In diesem einen Punkte steht ihr die Schrift Renners nach, die zwar an bildlicher Kraft des Stiles mit ihr wetteifert, aber an allzu vielen Austriazismen ein wenig leidet: Hinkunft statt Zukunft, nachdem im Sinne von da; einmal stellt sich sogar der grässlichste aller Austriazismen ein: Ganze statt Allgemeinheit.
Doch sind das eben nur Schönheitsfehler, die an dieser ausgezeichneten Schrift hervorzuheben am Ende die reine Pedanterie ist. Genosse Renner hat als der erste unter allen österreichisch-ungarischen Schriftstellern den chaotischen Wirrwarr der Verfassungsgeschichte des Donaureichs seit 1848 zu entwirren, seine inneren Gründe und seine historische Gesetzmäßigkeit zu entwickeln verstanden; er hat die ökonomischen Triebkräfte des nationalen Kampfes aufgedeckt, die wirtschaftlichen Klassengegensätze aus den Verhüllungen der nationalistischen Geschichtslegenden herausgearbeitet. Und auch er hat mit der Methode von Marx gänzlich die Resultate von Marx über den Haufen geworfen.
Man weiß, welcher gründlichen Abneigung sich der österreichische Staat bei unseren Altmeistern erfreute. Die einzige Existenzberechtigung, die sie ihm noch zuerkannten, war der hilflose, inkonsequente, feige, aber zähe Widerstand, den er den Fortschritten Russlands im östlichen Europa entgegensetze. Von den Nationen, die im Donaureich zusammengewürfelt sind, erkannten sie nur den Deutschen und den Magyaren eine historische Zukunft zu; für ein selbständiges Ungarn traten sie so energisch ein wie für ein selbständiges Italien und ein selbständiges Polen. Von alledem das gerade Gegenteil bei Renner. Er sieht in der Erhaltung des österreichischen Gesamtstaats eine historische Notwendigkeit, namentlich auch im Interesse der Arbeiterklasse; er bekämpft bis aufs Messer den Dualismus, dessen historische Ursachen sich längst überlebt haben, und wenn Marx und Engels für die Magyaren vielleicht etwas zu viel übriggehabt haben, so mag man zweifeln, ob Renner der magyarischen Herrschaft jenseits der Leitha mit seiner zermalmenden Kritik nicht vielleicht doch etwas zu viel tut.
Dennoch ist mit einem Satze gesagt, weshalb Renner die marxistische Methode nur fortbildet, indem er ihre Resultate umwälzt. Als Marx und Engels über diese Dinge schrieben, hatten unter den Nationen des Donaureichs nur die Deutschen und die Magyaren die moderne Klassengesellschaft völlig ausgebildet; sie waren die Träger der Revolution, während die anderen Nationen hilflose Trümmer waren, willenlose Werkzeuge für jeden reaktionären Schergendienst. Aber im Laufe der Jahrzehnte sind auch diese Nationen zur Ausbildung der modernen Klassengesellschaft gelangt; damit ist der deutschen wie der magyarischen Vorherrschaft der Boden unter den Füßen weggezogen, Vernunft ist Unsinn, Wohltat Plage geworden; der österreichische Staat ist nur noch möglich als eine Föderation von acht gleichberechtigten Nationen, die nach den Lebensbedingungen solcher Föderationen auf demokratischer Grundlage, in erster Reihe auf dem allgemeinen Stimmrecht beruhen muss, aber er ist auch notwendig, da alle diese Nationen mit allen ihren Lebensinteressen aufeinander angewiesen sind, im Einzelnen den Gedankengängen Renners zu folgen, ist noch unmöglicher, als es bei der Schrift der Genossin Luxemburg war. Genug, dass er das österreichisch-ungarische Wirrsal bis auf den Grund zu erleuchten weiß, in einer Darstellung, die an gedrungener Kraft sich mit glücklichem Erfolg an Marxens 18. Brumaire geschult hat. Es sei hier nur eine Probe seiner Art gegeben, die sich mit seinem eigentlichen Thema nicht unmittelbar berührt, aber für deutsche Leser ein besonderes Interesse hat. Indem Renner eine moderne Lokalverwaltung fordert, schreibt er:
„Die allgemeine und gleiche Teilnahme an der Gesetzgebung und der Ausschluss der Massen von der Kontrolle der Verwaltung erzeugen jenen krisenhaften Zustand des Staates, der dem Deutschen Reiche eigen, nach dem die als Gesetzgeber ‚souveräne’ Bevölkerung in der Verwaltung jedem Büttel, jedem streberischen Richter ausgeliefert ist, wo der Souverän im fernen Parlament akademische Erörterungen pflegt, aber zugleich in der Praxis des Tages einer lächerlich eingebildeten, sich als Staat über dem Volke gerierenden Klassen- und Kastenherrschaft gegenübersteht, jenen krisenhaften Zustand, der die ganze Volksseele vergiftet, den ich die hinkende Demokratie nennen möchte. Sie macht das deutsche Parlament so unfruchtbar, das Parlament im Ganzen und die Parteien im Einzelnen. Denn der Staat ist heute nicht mehr der große Gesetzeskodifikator wie vor einer Generation, er ist in erster Linie Administrator. Nehmt dem Parlament den direkten Einfluss auf die Verwaltung und den unmittelbaren, durch die Parteien vermittelten Zusammenhang mit der Lokalverwaltung, und es wird eine Bewilligungsmaschine, die ihr schmähliches Funktionieren übertönt und betäubt durch zweckloses Debattieren.“
Renners Schrift hat wacker mitgetan in dem glorreichen Feldzug, den unsere österreichischen Genossen durch kluge Ausnützung der bürgerlichen und der nationalen Klassengegensätze zur Erringung des allgemeinen Wahlrechtes geführt haben. Aber wie sie dabei mitgewirkt hat, das ist selbst ein Stück sehr merkwürdiger Geschichte. Sie ist nämlich keine Agitationsschrift, die unmittelbar auf die Massen zu wirken vermag, aber sie gleicht auch darin der Schrift der Genossin Luxemburg und hält auch darin die Überlieferungen von Marx und Engels aufrecht, dass sie bei allem wissenschaftlichen Gehalt sehr praktische Zwecke verfolgt. Die ganz eigenartigeren Verhältnisse des Donaureichs verursachen, dass die Interessen der Dynastie, der Bureaukratie und der großen Bourgeoisie eine gute Strecke parallel laufen mit den Interessen des Proletariats, im Gegensatz zur kleinbürgerlich-bäuerlichen Klasse. Alle drei Gruppen sind am nationalen Frieden, an der Fortdauer des internationalen Staates und an der Einschränkung der zünstlerisch-kleinbürgerlichen Demagogie interessiert. Aber sie sind geistig so unfruchtbar, dass ein Sozialdemokrat kommen musste, um ihnen zu zeigen, wo Barthel den Most holt. Renner erwies ihnen denselben Liebesdienst, den einst Marx und Engels im Jahre 1848 der deutschen Bourgeoisie erwiesen haben, glücklicherweise mit besserem Erfolg. Diese eigenartigen Verhältnisse spiegeln sich beiläufig in dem blöden Stumpfsinn der kapitalistischen Presse, von dem wir schon gesprochen haben, so wider, dass sie sagt, die deutsche Sozialdemokratie erlebe wenig Freude an ihren österreichischen Genossen, die ganz anders zur Monarchie ständen. Möglich, dass unter den eigentümlichen österreichischen Verhältnissen die Taktik gelegentlich das Prinzip etwas unsanft gestreift hat, aber deshalb bleibt es blitzdumm, zu sagen, dass unsere österreichischen Genossen an monarchischen Kinderkrankheiten litten. Was darüber zu sagen ist, sagt Renner erschöpfend mit den Worten:
„Um das Reich ist mir nicht bange: die Völkerföderation wird sich durchsetzen, mit der Dynastie oder ohne sie. Die Dynastie hat es wohl in der Hand, die Leiden und Kämpfe dieses Werdeprozesses zu kürzen und zu mildern und dadurch hohen Ruhm zu erwerben, aber auch ihn zu hemmen, zu verwirren und sich selbst aus der Entwicklung auszuschalten.“
Soll das ein Kompliment sein, so können es die deutschen Sozialdemokraten getrost auch der preußischen Dynastie machen.
Die bürgerliche Gelehrsamkeit greift die Sache am anderen Ende an. Sie bekränzt die Schrift Renners mit reichen Lorbeeren, aber sie sagt dem Verfasser: Gescheiter Kerl, der du bist, solltest du doch von dem wunderlichen Irrtum lassen, nach der marxistischen Methode zu arbeiten.
„Es ist Springer gelungen, das Soziale noch mehr als das Wirtschaftliche in der jüngsten Entwicklung des Donaustaates sehr anschaulich und einleuchtend darzustellen, und da hat er sich selber eingeredet, er sei Materialist. Schade, dass die künstlerisch musterhafte Zeichnung durch diesen Klecks in der Signatur entstellt ist.“
Sollte der Verfasser dieser gelehrten Anmerkung, die wir in einer angesehenen Monatsschrift finden, je aus seiner dumpfen Gelehrtenstube in die freie Luft gelangen, so wird er mit der ganzen Überlegenheit des deutschen Professors erklären: Sehet da die Segler der Lüfte, wie sie so frei und sicher dahinschweben; schade nur, dass sie sich selbst einreden, sie seien Vögel und könnten fliegen.
Und so wollen wir die beiden Schriften, die hier besprochen worden sind, dringend der Aufmerksamkeit unserer Leser empfehlen. Im Gegensatz zu jenem angeblichen Revisionismus, der eine Invalidenkompagnie gichtbrüchiger Zweifel gegen den Marxismus ausschwärmen ließ und dabei ins verfallene Lager der bürgerlichen Weltanschauung zurückstolperte, sind sie klassische Zeugnisse des echten, des wirklichen, des historischen Revisionismus, den Marx und Engels, wenn sie ihn sehen könnten, mit heller Freude begrüßen würden.
Zuletzt aktualisiert am 7. Februar 2025