Franz Mehring

 

Ein Vierteljahrhundert

(Oktober 1907)


Die Neue Zeit, 26. Jg. 1907/08, Erster Band, S. 4–7.
Nach Gesammelte Schriften, Band 4, S. 409–412.
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Es war bisher unsere Sitte, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt dem Geburtstag unseres Blattes einige Gedenkworte zu widmen, und so mag es allzu üppig erscheinen, wenn wir auch in der Nummer, mit der die Neue Zeit ihr zweites Vierteljahrhundert beginnt, einen Blick in die Vergangenheit und einen Blick in die Zukunft werfen. Aber da in der Tagespresse der Partei dieses Jubiläums freundlich gedacht worden ist, so würde es als falsche Bescheidenheit erscheinen, wenn wir schweigend daran vorübergingen und nicht auch ein Wort übrig hätten für das, was nicht unser Verdienst und Werk, sondern das Verdienst und Werk der gesamten Partei ist.

Als die erste Nummer der Neuen Zeit erschien, haben vielleicht selbst die kühnsten Optimisten nicht gehofft, dass sie fünfundzwanzig Jahre alt werden würde. Zwar war der ärgste Bann des Sozialistengesetzes schon gebrochen; seit den Reichstagswahlen von 1881 wusste das klassenbewusste Proletariat in Deutschland, dass alle List und alle Macht der herrschenden Klassen nicht ausreiche, seinen Vorwärtsmarsch zu hemmen. Aber noch hing das Damoklesschwert des Sozialistengesetzes über ihm, und der geringste Zufall, die beiläufige Laune eines beliebigen Polizeipaschas konnte den Lebensfaden der neuen Monatsschrift zerschneiden, kaum dass er angesponnen war. Nahezu acht Jahre, vom Januar 1883 bis zum September 1890, hat sie mit vorsichtigem Tappen ihren Weg suchen müssen, und dennoch hat sie in dieser Zeit bereits ein wichtiges Stück Aufklärungsarbeit geleistet, ein wichtigeres Stück vielleicht, als ihr zu leisten in der doppelt so langen Zeit beschieden gewesen ist, die sie als Wochenschrift kämpfend erlebt hat.

Sie wurde das wichtigste Werkzeug der wissenschaftlichen Sammlung, in der die Partei ihre Kraft zusammenfasste, als die ärgsten Schrecken des Sozialistengesetzes gekehrt waren. In dem raschen Aufblühen der Arbeiterbewegung, das dem Gothaer Vereinigungskongress folgte, war die Praxis der Theorie weit vorangeeilt oder, wie man vielleicht noch richtiger sagt, war die Theorie bedenklich ins Hintertreffen geraten. Zwar waren schon vor Erlass des Ausnahmegesetzes eine oder selbst zwei wissenschaftliche Organe der Partei gegründet worden, die Halbmonatsschrift Zukunft in Berlin und die Monatsschrift Neue Gesellschaft in Zürich, aber sie zeigten nur erst, wie arg noch die theoretische Verwirrung war. Man lese nur den programmatischen Einführungsartikel der Zukunft, der sich ganz in dem schöngeistig-philosophischen Gedankenkreis bewegte, den Marx und Engels schon dreißig Jahre früher siegreich niedergekämpft hatten. Nicht besser oder womöglich noch schlimmer stand es um die Neue Gesellschaft, in der kunterbunt durcheinander aller mögliche Sozialismus verzapft wurde. Dabei waren die schlechten Musikanten vielfach die bravsten Leute von der Welt; an Opferfähigkeit und Uneigennützigkeit für die Sache der Arbeiterklasse konnte Höchberg, der Herausgeber der Zukunft, nicht leicht übertroffen werden.

Eine entscheidende Wendung zum Besseren trat freilich auch schon vor Erlass des Sozialistengesetzes ein: die Schrift, die Engels gegen Dühring veröffentlichte. Sie war nicht gegen Dühring allein gerichtet, wie ihre Vorrede deutlich genug erkennen ließ, und die unwirsche Aufnahme, die sie bei einzelnen damaligen Wortführern der Partei fand, zeigte genugsam, dass sich mancher durch sie getroffen fühlte, den sie gar nicht nannte. Es war hier und da nicht übel Lust vorhanden, ein Ketzergericht über sie abzuhalten, ihr die Spalten des offiziellen Parteiblatts zu verschließen, ganz zu schweigen des „guten Tones“, der gegen sie mobil gemacht wurde. Heute ist schwer zu sagen, wie langsam oder wie schnell sie unter gewöhnlichen Umständen ihren Weg gemacht haben würde; vorläufig wurde sie bald nach ihrem Erscheinen unter der Sturzwelle des Sozialistengesetzes begraben.

Noch in den ersten Jahren oder wenigstens im ersten Jahre der Knebelakte machte sich die theoretische Unsicherheit geltend, und vielleicht, wenn Bismarck sich nicht mit der ganzen Beschränktheit des ostelbischen Junkers auf die geknebelte Arbeiterklasse gestürzt hätte, wenn er so falsch gewesen wäre, wie er brutal war, so hätte er vielleicht einige trügerische Scheinerfolge davontragen können. Niemals hat sich ein schmählicher Wortbruch so gründlich und so schnell gerächt wie die Perfidie, womit er die Versprechungen brach, die er selbst dem unter dem weißen Schrecken der Attentate gewählten Reichstag hatte geben müssen, um ihm das Schandgesetz zu entreißen. Als ihm dann nach den Wahlen von 1881 endlich die Augen aufgingen, als er mit der „milden Praxis“ begann und der „weltgeschichtlichen“ Luftspiegelung der monarchischen Sozialreform, da war es zu spät. Und dass es zu spät sei, verriet nicht zuletzt die Tatsache, dass sich die verfolgte Partei ein wissenschaftliches Organ gründete, um in allem Sturm und Drang des aufreibenden Tageskampfes immer eingedenk zu sein der hohen Ziele, die dem Proletariat die Wege weisen, wie die Sterne dem Wanderer, der durch finstere Nacht dem Morgenrot entgegen schreitet.

Die erste große Auseinandersetzung der Neuen Zeit war die erschöpfende Kritik desjenigen Sozialisten, dessen Namen damals am meisten missbraucht wurde, die Massen des Volkes zu betören. Rodbertus selbst, hätte er noch sprechen können, wäre gewiss angewidert worden von dem Humbug, der mit seinem Namen getrieben wurde. In seiner Art war er ein ehrlicher Mann und meinte es ehrlich mit der Arbeiterklasse, eben in seiner Art. Er hätte wohl ein besseres Schicksal verdient, als so gänzlich vergessen und verschollen zu sein, wie er heute ist. Er hat es bitter, allzu bitter gebüßt, dass die herrschenden Klassen, die, solange er lebte, nicht viel von ihm wissen wollten, ihn als toten Cid auf ihren lahmen Gaul erhoben. Aber im Kampfe um der Menschheit große Gegenstände gilt keine sorgsam abwägende Gerechtigkeit, und wer nur immer über das Recht grübelt, das der Gegner haben mag oder auch wirklich hat, bringt die Sache, die er verficht, nicht um einen Strohhalm weiter.

Auch in ihren späteren Kämpfen, die zahlreicher sind als ihre Bände und zahlreicher fast als ihre Hefte, ist der Neuen Zeit oft zum Vorwurf gemacht worden, zu dogmatisch, zu einseitig, zu rücksichtslos, zu verbissen zu sein. Indessen sie hat sich darin nur das Vorbild des Mannes genommen, dessen Todesjahr ihr Geburtsjahr war, bei dessen Namen sie am häufigsten gerufen wird und sich auch am liebsten gerufen hört. Die marxistische Methode ist immer ihre liebste und immer auch ihre schärfste Waffe gewesen, und wer einigermaßen billig zu urteilen weiß, wird ihr heute, nach fünfundzwanzig Jahren ihres Lebens, vielleicht zugestehen, dass sie nicht nur klüger gehandelt, sondern auch dem Interesse der Arbeiterklasse ungleich mehr gedient hat, indem sie auf den Grundlagen weiterbaute, die von Karl Marx gelegt worden sind, als wenn sie in dem glänzendsten Feuerwerk aller möglichen sozialistischen Gedanken und Systeme gestrahlt hätte.

Überflüssig, sie dagegen zu verteidigen, dass sie je auf die Worte des Meisters geschworen hätte. Gewiss stehen wir heute dem Lebenswerk von Marx und Engels freier gegenüber als vor fünfundzwanzig Jahren; gewiss geben wir heute mehr von den Resultaten preis, die sie gewonnen hatten, als zur Zeit, wo Marx eben gestorben war und Engels noch in voller Frische schuf. Aber darum handelt es sich überhaupt nicht. Unsertwegen mag, wer es beweisen kann, die zahllosesten Irrtümer in den Schriften von Marx und Engels nachweisen, aber was wir nicht antasten lassen, was wir verteidigen, was wir in dieser Wochenschrift immer lebendig zu erhalten suchen, das ist ihre wissenschaftliche Methode. [1]

Und ein wenig Anteil daran, dass diese Methode seit einem Vierteljahrhundert sich immer breitere, immer tiefere Bahn gebrochen hat, darf sich vielleicht auch die Neue Zeit zuschreiben. Zum wenigsten würde sie sich keinen besseren Glückwunsch zu ihrem Jubiläum wünschen als die Anerkennung dieser Tatsache. Kein irgend bedeutendes, historisches oder ökonomisches Werk, das sich nur irgend über den Horizont des landläufigen Universitätsbibliothekenfutters erhebt, ohne mehr oder minder tiefe Spuren der Forschungsmethode, die Marx und Engels begründet haben. Und nichts komischer als die Versuche ihrer Verfasser, mit dem Munde das „Brandmal“ zu leugnen, das sie vor allem Volke auf der Stirne tragen.

Aber freilich, mit reiner Genugtuung dürfen wir diese Fortschritte der Sache, die wir vertreten, keineswegs betrachten. Die Barbaren bleiben Barbaren, auch wenn sie mit Flinten und Kanonen zu schießen beginnen, aber sie werden gefährlicher, als sie waren zur Zeit, wo sie noch mit Bogen und Pfeil schössen. Es ist nicht ohne tieferen Grund, wenn sich überall in der Arbeiterbewegung das Bestreben geltend macht, aus reicheren und tieferen Quellen des Wissens zu schöpfen; die Gegner haben gelernt, soweit ihre Klassenlage ihnen noch zu lernen gestattet, die wachsende Gefahr hat ihre Chics [2] geschärft, und die Partei hat dringenderen Anlass als jemals früher, dafür zu sorgen, dass sie der bürgerlichen Welt geistig überlegen bleibe.

Es ist wieder eine Periode wissenschaftlicher Sammlung, wie jene, wo die Neue Zeit zuerst erschien, und so möge sie mit den größeren Aufgaben wachsen, die ihr in ihrem zweiten Viertel Jahrhundert gestellt sein werden.

* * *

Anmerkungen

1. Mehring verteidigte hier den Marxismus gegenüber den Angriffen der Revisionisten nur als wissenschaftliche Methode und nicht als wissenschaftliche Weltanschauung. Das musste seinen Kampf gegen die Opportunisten in der Arbeiterbewegung objektiv erschweren. (Siehe Josef Schleifstein: Franz Mehring. Sein marxistisches Schaffen 1891–1919, Berlin 1959, S. 100–108.)

2. Chics (engl.) – Gewandtheit.


Zuletzt aktualisiert am 12. Juni 2024