Franz Mehring

 

Ein Jubiläum

(2. Oktober 1907)


Ungezeichnet, Leipziger Volkszeitung, Nr. 229, 2. Oktober 1907.
Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 301–303.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


„Nr. 52, 25. Jahrgang, Bd. 2“ – so lesen wir auf dem neuesten Hefte der Neuen Zeit und ersehen daraus, dass unsre wissenschaftliche Wochenschrift das erste Vierteljahrhundert vollendet hat. Freilich nach dem Kalender stimmt es nicht ganz genau, denn ihr erstes Heft erschien nicht im Oktober 1882, sondern im Januar 1883; Die Neue Zeit war damals eine Monatsschrift, und als sie im Herbste 1890, nach dem Falle des Sozialistengesetzes, sich in eine Wochenschrift verwandelte, begann sie von Oktober zu Oktober zu erscheinen, wodurch es kam, dass ihr achter und letzter Band aus der Zeit, wo sie Monatsschrift war, nur aus neun Heften besteht und sie ein Vierteljahr älter erscheint, als sie tatsächlich ist.

Die Partei hat alle Ursache, sich zu diesem Gedenktage zu beglückwünschen. Als Die Neue Zeit 10 Jahre alt geworden war, rühmte Genosse Bernstein, es sei das erste Mal, dass eine deutsche sozialistische Revue, wie auch das erste Mal, dass überhaupt eine Revue von ausgesprochen sozialistischer Tendenz ein solches Alter erreicht habe. Wie viel mehr dürfen wir uns heute solchen Ruhmes freuen! Diese nunmehr zweiundvierzig Bände sind ein stattliches Denkmal der wissenschaftlichen Arbeit, die seit einem Vierteljahrhundert nicht von der deutschen Partei allein, sondern von der internationalen Sozialdemokratie geleistet worden ist, und wer immer die Geschichte der gewaltigsten Kulturbewegung erforschen will, die unsre Zeit kennt, wird mit in erster Reihe aus dieser Quelle schöpfen müssen, wird zur Neuen Zeit zurückkehren müssen und dem Kreise der Werke, die sich um sie gruppieren.

Aber wie sich in der modernen Arbeiterbewegung Theorie und Praxis unlöslich verschmelzen, so ist auch Die Neue Zeit nicht bloß als Organ der wissenschaftlichen Forschung, sondern auch als Organ des praktischen Tageskampfes ein bedeutsames und einflussreiches Werkzeug des proletarischen Emanzipationskampfes geworden. Sie hat diesem Kampfe die Richtziele gesteckt als marxistisches Organ, was sie von Anbeginn bis heute gewesen ist, was sie auch in Zukunft bleiben wird, sooft sie darum gescholten sein mag. Wäre sie anders gewesen, sie wäre vielleicht geistreicher, interessanter, liebenswürdiger geworden, sie hätte sicherlich eher den Beifall von „Bildung und Besitz“ gefunden, das Lob der gelahrten und der ungelahrten Professoren, aber sie wäre nicht die alte Standarte geworden, die heute die ganze Partei in ihr grüßen darf, eingedenk dessen, dass diese Standarte immer voranwehte, wo der Feind am dichtesten geschart stand und am sichersten geschlagen werden konnte.

Genosse Bernstein sagte darüber, als Die Neue Zeit zehn Jahre alt geworden war:

„Nicht dass der Marxismus in der Neuen Zeit ausschließlich zum Worte gekommen wäre, noch dass er für sich das Recht reklamiert hätte, außerhalb aller Diskussion zu stehen. Eine solche Tendenz würde dem Wesen des Marxismus so sehr widersprechen, dass jede Redaktion, die das versuchte, auch wenn sie sich sonst buchstäblich an die Schriften von Marx und Engels hielte, damit sich selbst als unmarxistisch dokumentieren würde. Es gibt kein Dogma, keinen Satz des Marxismus, der nicht selbst wiederum die wissenschaftliche Untersuchung zuließe. Alle Resultate der Untersuchungen von Marx und Engels beanspruchen nur so lange Gültigkeit, als sie nicht durch neuere wissenschaftliche Untersuchungen widerlegt werden können; irgendeine endgültige Wahrheit letzter Instanz kennt der Marxismus nicht, weder bei sich noch bei andern. Aber dieser Standpunkt ist nicht zu verwechseln mit dem des Eklektizismus, der seine Grundsätze aus den verschiedensten und verschiedenartigsten Systemen zusammenholt, oder dem des gesinnungslosen Skeptizismus. Der Marxismus ist eine bestimmte wissenschaftliche Methode, und was auf deren Grund ermittelt ist, hat für ihn zwar nur in den obigen Grenzen, aber innerhalb ihrer ausschließliche Gültigkeit. So ist er positiv, ohne konservativ-reaktionäre, und revolutionär, ohne utopistische Beimischung, wie er materialistisch ist, ohne in groben Mechanismus zu verfallen.“

In diesem Geiste, den Bernstein so treffend schildert, ist Die Neue Zeit jung geblieben, wenn sie sich auch alt genug vorkommen mag, sobald sie sich erinnert, wie viele todesmutige Ritter sie schon hat gehen und kommen sehen, die den Marxismus erschlagen wollten und selbst nur umkamen im Triebsande, sei es des Eklektizismus, sei es des Skeptizismus.

Dem einen oder dem andern verfällt unrettbar, wer dem Marxismus absagt und doch nicht einfach zur bürgerlichen Welt zurückkehren will. Der Marxismus ist nicht die Theorie eines Individuums, dem ein andres Individuum eine andre und höhere Theorie entgegensetzen kann; er ist der proletarische Emanzipationskampf, in Gedanken erfasst, er ist aus den Dingen selbst, aus der historischen Entwicklung emporgewachsen; ebendeshalb ist er sowenig ein wesenloser Trug wie eine ewige Wahrheit. Solange der proletarische Emanzipationskampf das Leben der modernen bürgerlichen Gesellschaft beherrscht, und er beherrscht es von Jahr zu Jahr mehr, solange ist der Marxismus das letzte Wort aller Gesellschaftswissenschaft, versteht sich der wirklichen Gesellschaftswissenschaft, der es um die Erkenntnis als solche und nicht um schönfärberische Zwecke zu tun ist. So ist es ein eitles und vergebliches Unterfangen, über den Marxismus als wissenschaftliche Methode hinaus zu wollen. Dabei verfällt man in der Tat entweder dem Eklektizismus oder dem Skeptizismus. Dem Eklektizismus, indem man aus überall hergeholtem Material eine neue Theorie erbaut, die sich etwa rühmen darf, fest wie ein Kartenhaus zu sein. Oder dem Skeptizismus, indem man hinter jedem Satze von Marx ein Fragezeichen malt, vielleicht auch nach der schon von Lessing gekennzeichneten Methode diesem oder jenem Satze etwas für den gesunden Menschenverstand Plausibles entgegensetzt, alles übrige aber mit triumphierender Verachtung übergeht. Wir wollen diesen Skeptizismus nicht mit Bernstein „gesinnungslos“ nennen, denn inzwischen haben sich ihm sehr brave Leute ergeben, aber unfruchtbar ist er in allerhöchstem Maße.

Es ist ein Beweis nicht gegen, sondern für die Wirksamkeit der Neuen Zeit, dass sie sich schwer hat durchkämpfen müssen, dass sie erst mit der Vollendung ihres ersten Vierteljahrhunderts soweit gelangt ist, sich auf eigne Füße zu stellen. Je näher die Gefahr droht, dass im Sturm und Drang des täglichen Kampfes, dass in den Staubwolken, die er aufwirbelt, die hohen Ziele der Arbeiterbewegung verschwinden, um so notwendiger ist es, immer wieder auf diese Ziele hinzuweisen, mag hundert- und tausendmal der irrige Satz verbreitet werden, dass die so genannte „Praxis“ durch diesen so genannten „Doktrinarismus“ geschädigt werde. Die großen Massen der Partei haben dafür nie ein Ohr gehabt; sie wissen, oder wenn sie es nicht wissen, so empfinden sie instinktiv, was eine klare Theorie für ihren gewaltigen Kampf bedeutet; sie wissen, oder wenn sie es nicht wissen, so empfinden sie instinktiv, wohinter selbst die bürgerliche Weisheit gekommen ist, dass nämlich gute Universitäten die unerlässliche Voraussetzung für gute Volksschulen sind: Mit andern Worten, dass ein wissenschaftliches Organ der Sozialdemokratie, mag es zunächst auch nur von wenigen Tausenden gelesen werden, dennoch durch tausend verschlungene Rinnsale den Massenkampf anfeuert, erleichtert, vorwärts treibt.

Und so werden die guten Wünsche, wie wir glauben, der ganzen Partei ihr wissenschaftliches Organ in sein zweites Vierteljahrhundert geleiten.


Zuletzt aktualisiert am 12. Juni 2024