Franz Mehring

 

Zum Stuttgarter Kongress

(August 1907)


Die Neue Zeit, 25. Jg. 1906/07, Zweiter Band, S. 617–620.
Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 278–282.
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Zum zwölften Male, aber zum ersten Male auf deutschem Boden, tritt am nächsten Sonntag in Stuttgart ein Kongress des internationalen Sozialismus zusammen.

Seine Vorläufer sind einmal von England (London 1896), zweimal von Frankreich (Paris 1889 und 1900), zweimal von Belgien (Brüssel 1868 und 1891), zweimal von Holland (Haag 1872 und Amsterdam 1904) und viermal von der Schweiz (Genf 1866, Lausanne 1867, Basel 1869 und Zürich 1893) empfangen worden. Wie diese Aufzählung ergibt, hat das internationale Parlament des modernen Proletariats achtmal in kleinen Staaten getagt, die mehr oder weniger außerhalb der großen Welthändel stehen, und dreimal in großen Reichen. Für dieses Mal tritt er in einem großen Reiche zusammen, aber nicht in seiner Hauptstadt. So war auch im Jahre 1870 der Kongress der Internationalen Arbeiterassoziation für Mainz geplant, doch scheiterte seine Einberufung an dem Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges.

Es ist reichlich spät, dass die deutsche Arbeiterklasse ihre ausländischen Brüder auf ihrer heimischen Erde begrüßt. Jedoch die Schuld daran trägt nicht die Vernachlässigung, sondern eher die Erfüllung ihrer internationalen Pflichten. Nicht zum wenigsten deshalb entfesselte sie jenen Hass, der vor keiner europäischen Blamage zurückschreckt, wenn es gilt, den preußischen Polizeistock über dem Proletariat zu schwingen. Erstaunlich war das für niemand als, um mit Marx zu sprechen, für den blöden Schwärmer, „der einer preußischen Regierung und den in Preußen herrschenden Klassen Stärke genug zutraut, auch ihren Feinden, solange sie sich auf dem Gebiete der Diskussion und der Propaganda halten, freien Spielraum gewähren zu können“. [1] Die Angst vor den Ausländern und Fremden, die nach dem satirischen Dichterwort zumeist den Geist der Rebellion säen, ist immer eine kennzeichnende Eigentümlichkeit der borussischen Krähwinkelei gewesen.

Aber seien wir auch unbefangen genug, anzuerkennen, dass die deutsche Arbeiterbewegung und der deutsche Sozialismus niemals den kapitalistischen Vorurteilen geschmeichelt haben, die sich von nationalen Schlagworten eine gleißende Hülle borgen. Schon ehe das Kommunistische Manifest erklärte, dass die Arbeiter kein Vaterland hätten [2], durchschaute Wilhelm Weitlings urwüchsiger Kommunismus die patriotische Lüge, „die den wütendsten Feinden des Fortschritts und der Freiheit aller zum letzten Notanker ihrer Irrtümer, zum Rettungsbalken ihrer Vorrechte dient“, und er warf sie ihnen vor die Füße, „um unter das Banner der Menschheit zu flüchten, das keine Hohen und Niederen, keine Armen und Reichen, keine Herren und Knechte unter seine Verteidiger zählen wird“. Weitling traf das internationale Wesen der modernen Arbeiterbewegung mit der Frage: „Welche Liebe kann heute der wohl zum so genannten Vaterland haben, der nichts darin zu verlieren hat, was er nicht in allen fremden Ländern wieder zu finden imstande ist?“ Ob Hinz oder Kunz, ob Napoleon, Friedrich Wilhelm oder Nikolaus die Herrschaft ausübt, die Arbeiter müssten unter dem einen Herrscher ebenso den Esel machen wie unter dem anderen.

Weitling war das Sprachrohr der deutschen Arbeiter, die in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts zum Klassenbewusstsein zu erwachen begannen; ihr instinktiv richtiges Empfinden erhoben dann vornehmlich deutsche Denker zur Höhe klarer wissenschaftlicher Erkenntnis, die freilich nicht deutschen Ursprungs allein war, sondern ebenso ein Produkt der englischen Industrie und der Französischen Revolution wie der deutschen Philosophie. Marx und Engels bauten den Bund der Kommunisten auf internationaler Grundlage auf, und sie veröffentlichten das Kommunistische Manifest, worin es hieß, dass vereinigte Aktion, wenigstens der zivilisierten Länder, zu den wesentlichsten Vorbedingungen für die Befreiung des modernen Proletariats gehöre. [3] Auf großer Stufenleiter konnten sie ihre Gedanken jedoch erst verwirklichen, als im Anfang der sechziger Jahre, nach dem Jahrzehnt der Konterrevolution, die europäische Arbeiterbewegung einen neuen, nunmehr unaufhaltsamen Siegeslauf nahm und sich alsbald ihres internationalen Wesens bewusst wurde.

Was ihr darüber zur Klarheit verhalf, war eine Frage, die auch den Stuttgarter Kongress beschäftigen wird: die massenhafte Einfuhr von wohlfeilen Arbeitskräften aus ökonomisch noch unentwickelten Ländern durch das Kapital, um den gewerkschaftlich organisierten Arbeitern der großen Industrie eine Schmutzkonkurrenz zu schaffen. Der Widerstand gegen diese Ausbeutungspolitik war die praktische Tatsache, um die sich die Internationale Arbeiterassoziation kristallisierte. Marx hat diesen Bund nicht geschaffen, aber er hat ihm die Form gegeben, worin er eine mächtige Wirksamkeit entfalten konnte. Man hat neuerdings versucht, diese Wirksamkeit herabzusetzen, aber sehr mit Unrecht, und am wenigsten ist heute überholt, was sich die Internationale Arbeiterassoziation als ihre Aufgabe und ihren Zweck gesetzt hatte. Sie ließ den nationalen Arbeiterorganisationen auf nationalem Boden völlig freie Bahn; ihr kam es nur darauf an, eine Standarte aufzurichten, die die kämpfenden Arbeiterheere der einzelnen Länder nie aus den Augen verlieren durften, wenn sie nicht auf trügerische Irrwege geraten, wenn sie die große gemeinsame Siegesstraße des Proletariats erreichen wollten; sie sollte einen Boden schaffen für die internationale Aktion des Proletariats, indem sie die Hindernisse beseitigte, die der Befreiung der Arbeiter auf internationalem Gebiet entgegenstanden. In den Beschlüssen der fünf Kongresse, die die Internationale in Genf, Lausanne, Brüssel, Basel und im Haag abgehalten hat, ist unter diesem Gesichtspunkt ein Schatz wertvoller Gedanken enthalten, der selbst heute schwerlich schon völlig gehoben ist.

So ist auch über die wirklichen Ursachen ihres Zusammenbruchs schwerlich schon das letzte Wort gesprochen worden. Oder doch wenigstens nicht über den inneren Zusammenhang dieser Ursachen, wie sie äußerlich in dem Falle der Pariser Kommune, den Intrigen Bakunins, dem Abfall der Trade-Unions hervortraten. Entscheidend war am letzten Ende doch wohl, dass die proletarische Bewegung zu groß und zu weitläufig geworden war, um nicht ihr internationales Band als ein Hindernis ihrer Bewegungsfreiheit zu empfinden. Nicht als ob sie deshalb den Gedanken der internationalen Solidarität preisgegeben hätte! Dieser Gedanke hatte vielmehr so tiefe Wurzeln geschlagen, dass er keiner äußeren Stütze mehr bedurfte, und die nationalen Arbeiterparteien entwickelten sich durch die industriellen Umwälzungen der siebziger Jahre schon so eigentümlich und kräftig, dass sie über den Rahmen der Internationalen Arbeiterassoziation hinauswuchsen. Wie namentlich aus den Briefen von Marx und Engels an Sorge hervorgeht [4], war es keineswegs die Meinung des Haager Kongresses, die Internationale für immer zu begraben, als er den Sitz ihres Generalrates von London nach New York verlegte; erst die historische Entwicklung der Dinge selbst hat bestätigt, dass diese Verlegung das Ende der Internationale bedeutete.

Aber das praktische Bedürfnis, das sie hervorgerufen hatte, meldete sich sehr bald wieder in dem Prozess der nationalen Differenzierung, der die gemeinsamen kosmopolitischen Interessen des Proletariats zeitweise in den Hintergrund gedrängt hatte. Den praktischen Anstoß gab diesmal die immer klarer sich entwickelnde Notwendigkeit, die Arbeiterklasse durch internationale Schutzgesetze gegen die internationale Ausbeutung des Kapitals zu schirmen. Nach manchen vergeblichen Anläufen brachte der deutsche Parteitag in St. Gallen, gerade vor zwanzig Jahren, den Stein ins Rollen, indem er die Parteileitung beauftragte, im Verein mit den Arbeiterverbindungen anderer Länder, für den Herbst 1888 einen allgemein internationalen Arbeiterkongress einzuberufen, zu dem Zwecke, gemeinsame Schritte der Arbeiter aller Länder zur Verwirklichung einer internationalen Arbeiterschutzgesetzgebung herbeizuführen. Der Parteitag von St. Gallen fiel in dasselbe Jahr, wo die deutsche Partei in den Faschingswahlen schwere Mandatsverluste erlitten hatte und Bismarck mit dem so genannten Ächtungsgesetz einen Schlag vorbereitete, der sie noch weit über das schon ins neunte Jahr währende Sozialistengesetz hinaus vogelfrei machen sollte. In dieser nationalen Bedrängnis vertraute die deutsche Partei umso sicherer auf die Kraft des internationalen Gedankens, und dies Vertrauen hat sie nicht getäuscht.

Nicht zwar schon im Herbst 1888, aber doch im Sommer 1889, am Jahrhunderttage des Sturmes auf die Bastille, begann die Geschichte der neuen Internationale mit dem Kongress in Paris. Es war ein prächtiger Auftakt, dem die nächsten Kongresse in Brüssel, Zürich und London nicht völlig entsprachen. So wurden manche Zweifel laut an der Nützlichkeit solcher internationalen Kongresse. Es schien fast, als ob sie die internationale Solidarität des klassenbewussten Proletariats mehr störten als förderten. Doch dieser Schein trog, denn wenn mit der mächtigen Ausbreitung der revolutionären Arbeiterbewegung in den einzelnen Ländern die Schwierigkeit einer internationalen Verständigung wuchs, so wuchs in demselben Maße die Notwendigkeit dieser Verständigung. Sosehr sich die Form der alten Internationale überlebt haben mag und so reaktionär deshalb jeder Versuch sein würde, sie wiederherzustellen, so bedarf die Arbeiterbewegung immer noch des Geistes, der in ihr lebte, und dieser Geist bedarf eines Körpers, durch den er sich äußern kann. Da die internationale Solidarität eine unerlässliche Vorbedingung für den Sieg der modernen Arbeiterklasse ist, so kann diese Klasse eine internationale Organisation nicht entbehren.

Hierüber lässt sich schließlich nicht mehr streiten, und so suchen die Zweifler, die leider auch in deutschen Blättern ihre Stimme erhoben haben, die Zuständigkeit der internationalen Kongresse möglichst zu beschränken. Sie sollen den Arbeiterführern der verschiedenen Länder die Gelegenheit geben, sich kennen zu lernen und ihre Ansichten auszutauschen, aber Beschlüsse sollen sie nicht fassen dürfen. Würden die internationalen Kongresse tatsächlich auf diese Stufe gemütlicher Kaffeekränzchen herabgedrückt, so wäre es freilich besser, mit ihnen völlig aufzuräumen. Gewiss kann es nicht ihre Aufgabe sein, sich als Gerichtshöfe über das Tun und Lassen der nationalen Arbeiterparteien aufzutun, aber unmöglich kann ihnen die Befugnis genommen werden, die Richtlinien festzulegen in allen Fragen, die die internationalen Interessen der Arbeiterklasse berühren.

Zum Glücke hilft die praktische Entwicklung des proletarischen Emanzipationskampfes immer über alle doktrinären Bedenken und Zweifel fort. Mit dem neuen Jahrhundert, mit dem zweiten Kongress in Paris haben die internationalen Arbeiterkongresse eine aufsteigende Bewegung genommen, und wir hoffen, dass sie diese Bewegung in Stuttgart fortsetzen werden. Es ist hier nicht der Ort, nochmals die Aufgaben näher zu beleuchten, die der erste internationale Kongress, der auf deutschem Boden tagt, zu lösen haben wird; soviel erhellt auf den ersten Blick, dass alle diese Fragen, so verschieden sie für die Arbeiterparteien der einzelnen Länder liegen mögen, dennoch in ihre gemeinsamen, internationalen Interessen tief einschneiden, so dass sie mit allem historischen Rechte den Beratungen und Beschlüssen dieses Kongresses unterliegen.

Und so mögen seine Arbeiten den hohen Erwartungen entsprechen, womit ihnen das Proletariat der gesamten Welt entgegensieht; ein Wunsch, der so aufrichtig ist wie das Willkommen, womit die deutsche Partei ihre Gäste begrüßt.

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Anmerkungen

1. Karl Marx: Enthüllungen über den Kommunisten-Prozess zu Köln. In: Marx/Engels: Werke, Bd.&nbso;8, S. 4

2. Siehe Karl Marx/Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei. In: Ebenda, Bd. 4, S. 479.

3. Ebenda: „Die nationalen Absonderungen und Gegensätze der Völker verschwinden mehr und mehr schon mit der Entwicklung der Bourgeoisie … Die Herrschaft des Proletariats wird sie noch mehr verschwinden machen. Vereinigte Aktion, wenigstens der zivilisierten Länder, ist eine der ersten Bedingungen seiner Befreiung.“

4. Gemeint sind die Briefe von Marx an Sorge vom 27. September 1873 und von Engels an Sorge vom 12.–17. September 1874. Siehe Karl Marx/Friedrich Engels: Ausgewählte Briefe, Dietz Verlag, Berlin 1953, S. 339/340 u. 341/342.


Zuletzt aktualisiert am 14. Juni 2024