Franz Mehring

 

Die Parteipresse

(13. März 1907)


Ungezeichnet, Leipziger Volkszeitung, Nr. 60, 13. März 1907.
Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 250–252.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
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Es unterliegt keinem Zweifel und wird auch in der Tat von keiner Seite bestritten, dass je weiter sich die Arbeiterbewegung ausdehnt, umso mehr die Presse ihre wichtigste Waffe wird. So notwendig auch die Anfeuerung der Massen durch Vereine und Versammlungen ist, sosehr in manchem Betracht das gesprochene dem geschriebenen Worte in seiner Wirkung überlegen bleibt, so kommt man auf diesem Wege doch nur an die Hunderte und Tausende heran, und auch das nur in verhältnismäßig großen Zwischenräumen, während die Presse täglich das Ohr von Zehntausenden und Hunderttausenden hat.

Deshalb ist das schnelle Anwachsen des Leserkreises, den unsere Parteipresse besitzt, der schlagendste Gegenbeweis gegen das Gerede von dem Stillstande oder gar dem Rückgange der Arbeiterbewegung, die durch die sozialdemokratischen Mandatsverluste der letzten Wahlen bewiesen worden sein sollen. Die Flut steigt deshalb nicht weniger, weil einige Schiffe hier auf Sandbänken gestrandet oder dort an Klippen gescheitert sind. Für das Steigen der Flut gibt es aber kein untrüglicheres Zeichen als das Steigen der Abonnenten, die unsere Presse in der Arbeiterklasse findet. Solange diese Ziffern so wachsen, wie sie seit den Parteitagen von Dresden und Jena gewachsen sind, solange hat es mit dem Stillstand der revolutionären Arbeiterbewegung seine guten Wege.

Damit ist freilich nicht gesagt, dass unsere Parteipresse heute schon das vollkommene Werkzeug der proletarischen Propaganda ist, das sie sein könnte, sollte und müsste. Zu dieser Behauptung wird am wenigsten geneigt sein, wer selbst in ihr tätig ist und sozusagen täglich am eigenen Leibe spürt, wie viel hier noch gebessert und geschaffen werden kann. Nur wird man sich hüten müssen, in anerkennenswertem Eifer, es besser zu machen, auf falsche Wege zu geraten. Die Arbeiterpresse hat ihre ganz besonderen Lebensbedingungen, die es ohne weiteres ausschließen, dass sie mit der Bourgeoispresse verglichen werden kann. Diese Presse wird ihr zwar niemals intellektuell und moralisch, aber sie wird ihr technisch immer überlegen sein, überlegen in der Fixigkeit, aber nicht in der Richtigkeit. Ein weiser Mann von der Frankfurter Zeitung, die sich als das „deutsche Weltblatt“ aufzuspielen liebt und auch ein gewisses Recht dazu haben mag, hat kürzlich mit anerkennenswerter Offenheit erklärt, das Geheimnis seiner Erfolge beruhe darin, dass die Ware die Flagge decken müsse. Für die Arbeiterpresse muss es aber immer dabei bleiben, dass die Flagge die Ware deckt; in ihr sollen die Massen selbst zum Worte kommen, was nicht ohne eine gewisse Schwerfälligkeit ihrer Organisation möglich ist. Deshalb hieße es gerade die Wurzel ihrer Stärke vernichten, wenn sie über ein bestimmtes Maß hinaus mit dem Nachrichtendienst und sonstigem Klimbim der „modernen Zeitungstechnik“ wetteifern wollte.

Ebenso falsch ist das Mäkeln an dem „Ton“ der sozialdemokratischen Presse. Dabei handelt es sich um einen uralten Kniff der Reaktion, den Börne schon vor achtzig Jahren denunziert hat. Er hob auch schon hervor, was heute abermals beobachtet werden kann, dass die Prediger des „guten Tons“, wo es die Vertretung ihrer Interessen gilt, die hervorragendsten Grobiane zu sein pflegen. Wir haben jüngst den urkundlichen Beweis geführt, dass der gegenwärtige Reichskanzler, dessen ganzer Witz in Bekämpfung der Sozialdemokratie in süffisanten Redensarten über den „Sauherdenton“ der sozialdemokratischen Presse besteht, selbst ein unübertrefflicher Meister dieses Tones ist. Ein französischer Revolutionär hat einmal gesagt, Revolutionen ließen sich nicht mit Rosenwasser machen, und wir fügen hinzu: Mit Tanzmeisterphrasen lässt sich keine verrottete Welt umwälzen. Wir können unseren Gegnern billigerweise nicht zumuten, französische Revolutionäre als Autoritäten anzusehen, aber den braven Martin Luther kann gerade der Hottentottenblock nicht von seinen Rockschößen abschütteln, und dieser teure Gottesmann hätte mindestens Methusalems Alter erreichen müssen, um die Gefängnisstrafen abzubrummen, zu denen er verdonnert worden wäre, wenn zu seiner Zeit schon das deutsche Strafgesetzbuch im Kurfürstentum Sachsen gegolten und die heutige Leipziger Justiz in Wittenberg amtiert hätte.

Eine viel beachtenswertere, wenn auch leicht irreführende Ausstellung, die an der Parteipresse gemacht wird, ist der Tadel ihrer nicht hinlänglich populären Sprache, ihres allzu reichlichen Gebrauchs von Fremdwörtern und was sonst in dies Gebiet schlägt. Wir geben zu, dass hier der Ausfall der letzten Reichstagswahlen eine Lehre gegeben hat, die nicht vernachlässigt werden darf; es gibt noch breite Schichten der Nation, an die unsere Parteipresse in ihrer heutigen Verfassung nicht herankommt. Aber daraus folgt unseres Erachtens nur, dass neue Organe geschaffen werden, Flugblätter und Flugschriften oder auch periodische Organe, die für das Verständnis solcher Kreise bestimmt sind, die der Arbeiterbewegung noch völlig fremd gegenüberstehen. Jedoch im Allgemeinen kann die Forderung größerer „Popularität“, wenn sie unbesehen an die gesamte Parteipresse gestellt wird, ihre üblen Folgen haben.

Wir bemühen uns, so gemeinverständlich wie möglich zu schreiben und namentlich auch alle Fremdwörter zu vermeiden, und wir halten das für die Pflicht jedes sozialdemokratischen Schriftstellers. Allein es gibt hier eine bestimmte Grenze, die nicht überschritten werden darf, ohne schlimmere Zustände hervorzurufen, als die sind, die vermieden werden sollen. Unsre wirksamsten Flugschriften, wie das Kommunistische Manifest und die Broschüren Lassalles, sind keineswegs gemeinverständlich geschrieben und wimmeln geradezu von Fremdwörtern. Das ist auch kein Ungeschick der Verfasser oder ein Zufall, sondern es ist durch die Tatsache verursacht, dass sich der wissenschaftliche Sozialismus nach der ganzen Art seiner Entstehung nur auf die Gefahr der Verflachung hin über einen gewissen Grad der Gemeinverständlichkeit hinaus entwickeln und klar darstellen lässt. Es könnte geradezu eine Quelle geistiger Verarmung für die Partei werden, wenn die Parteiorgane namentlich in den alten Stammsitzen der Partei, deren Leser in der überwiegenden Mehrzahl doch geschulte Genossen sind, sich in dem Streben nach möglichster „Popularität“ zu weit treiben ließen.

Man wird hier eben das eine tun müssen, ohne dass man das andere zu lassen braucht.


Zuletzt aktualisiert am 12. Juni 2024