Franz Mehring

 

Flagge und Ware

(29. August 1906)


Die Neue Zeit, 24. Jg. 1905/06, Zweiter Band, S. 745–748.
Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 184–188.
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Vor einigen Tagen hat die Frankfurter Zeitung ihren fünfzigsten Geburtstag erlebt, der mit großem Lärm von der bürgerlichen Welt gefeiert worden ist. Die hervorragendsten Genies dieser Welt, Fürst Bülow, Paul Lindau und Oskar Blumenthal, haben sich huldigend, in Prosa und in Versen, vor ihr geneigt, ungerechnet eine Unzahl kleinerer Geister. Sie alle priesen den mächtigen Baum, der weithin seine Zweige breite, wenn sie auch vergaßen hinzuzufügen, dass er auf dem Friedhof der bürgerlichen Demokratie emporgewachsen ist.

Jedoch was keiner der Glückwünschenden sagte, das hat einer der Beglückwünschten in einer merkwürdigen Anwandlung der Selbsterkenntnis berührt. Er hat den Kern des zeitgeschichtlichen Problems aufgedeckt, das in der Geschichte der Frankfurter Zeitung enthalten ist, das vielen braven Männern die schwersten Gewissensbedenken erregt und manchem von ihnen auch wohl das Herz gebrochen hat. Könnten die Toten sprechen, so wäre manch zorniges Wort durch den leeren Tamtam der Festreden gefallen, aus den verfallenen Gräbern, die das Blatt in der dickleibigen Chronik, die zur Feier seines fünfzigsten Geburtstags erschienen ist, so hübsch mit papierenen Blumen herausgeputzt hat.

Einer seiner heutigen Vertreter sagte, früher seien die oppositionellen Blätter nichts anderes als Parteiblätter, als polemische Blätter gewesen, und infolge dieses Mangels seien sie der Konkurrenz mit anderen erlegen. Eine Regel des Seerechtes laute: Die Flagge deckt die Ware; im politischen Journalismus heiße es umgekehrt: Die Ware deckt die Flagge. Die Frankfurter Zeitung habe nicht nur ein oppositionelles Blatt, sondern auch ein Nachrichtenblatt sein wollen; indem sie diese Absicht unermüdlich verfolgte und – „ich glaube, man darf es sagen“ – glänzend verwirklichte, hat sie der Demokratie einen unberechenbaren Dienst geleistet.

Unberechenbar in der Tat, so wie der Dienst des Totengräbers für den Toten unberechenbar sein mag. Des Totengräbers, nicht des Mörders. Es wäre ein übertriebener und deshalb ungerechter Vorwurf, zu sagen, dass die Frankfurter Zeitung die bürgerliche Demokratie getötet habe. Die ist an der historischen Entwicklung der Dinge gestorben, die ein einzelnes Blatt weder aufhalten noch beschleunigen konnte. Aber das Grab hat die Zeitung der Partei geschaufelt, und es ist ein eigenes Schauspiel, wie sie jetzt dasteht, plump und protzig auf ihren Spaten gelehnt, und mitleidig herabschaut auf die arme Alte, die nur opponieren, nur polemisieren, nur prinzipienreiten konnte und nimmer begriff, dass die Ware die Flagge deckt, dass man das Geschäft verstehen muss, wenn man nicht der Konkurrenz erliegen will.

Schade jedoch, dass die Toten nicht sprechen können! Sonst möchte wohl manches der kleinen Blätter, die nur opponieren und polemisieren konnten, seine Stimme aus dem Grabe erheben, dass es nicht tauschen möchte mit der Frankfurter Zeitung, wie alt ihre heutige Herrlichkeit. Von einzelnen wissen wir es bestimmt, von der Reform, der Zukunft, der Wage des alten Guido Weiß. Der hätte seine Hand nimmermehr gehärtet durch die Begrüßung eines neu geheckten Bruders von Reichskanzler, der ein Patron ist der Brotwucherer und ein Klient des Zaren. Der hätte in seinen prächtigen Bart gewettert, wenn ihm einer sein mühselig Tagewerk gestört hätte durch die Rede: Halt da, die Flagge deckt nicht die Ware, sondern die Ware deckt die Flagge. Oder wenn er gerade gutmütiger Laune gewesen wäre, so hätte er wohl gesagt: Aber wenn die Ware die Flagge deckt, wer soll dann die Flagge sehen?

Ebendies ist das Schicksal der Frankfurter Zeitung. Nicht als ob wir sie mit den gewöhnlichen Nachrichtenblättern in einen Topf werfen wollten, etwa, um ein paar hiesige Gewächse dieser Art zu nennen, mit dem Berliner Tageblatt oder dem Lokal-Anzeiger, die für anderthalb Nachrichten ihre Seele dreimal verkaufen. Von ihnen unterscheidet sich die Frankfurterin nicht nur dem Grade, sondern auch der Art nach, nicht nur weil sie das vorzüglichste Nachrichtenblatt der deutschen Presse, sondern weil sie wirklich ihre Flagge nicht eingezogen hat. Man sieht die Flagge nur nicht; so hoch gestapelt ist das Schiff mit Waren, langen Waren, kurzen Waren, Waren aller Art.

Die Frankfurter Zeitung suchte die Quadratur des Kreises, als sie zugleich ein Oppositions- und ein Nachrichtenblatt sein wollte. Man kann nur das eine sein oder das andere. Soll beides vereint werden, so boxt das robuste Geschäft allemal die ideale Politik unter. Je „glänzender“ sich die Frankfurterin als Nachrichtenblatt entwickelte, umso mehr verkümmerte sie als demokratisches Oppositionsblatt. Das lag gar nicht einmal in dem guten oder schlechten Willen ihrer Leute, sondern in der Natur der Dinge. Ein Nachrichtenblatt bedarf eines riesigen Kapitals, unter dessen lastender Wucht jedes politische Rückgrat zermürbt. Ein Nachrichtenblatt muss auch mit aller Welt gut Freund sein, sowohl um Nachrichten zu erhalten, als auch um Nachrichten zu verbreiten. Da muss der „gute Ton“ gepflegt, da müssen die Ecken und Kanten abgeschliffen, da müssen die Prinzipien verwaschen werden wie die Kiesel im Bache. Mancher Junker und mancher Sozialdemokrat liest jeden Morgen die Frankfurter Zeitung mit Vergnügen, weil er nirgends so gründlich und schnell und dabei meist in ganz gescheiter und geschmackvoller Weise über die neuesten Ereignisse in aller Welt unterrichtet wird, ohne dabei in seinen eigenen politischen Überzeugungen allzu täppisch angetastet zu werden. Aber wer als bürgerlicher Demokrat die Frankfurter Zeitung als bürgerlich-demokratisches Parteiblatt liest, der kann jeden Morgen die Schockschwerenot kriegen.

Sehen wir einmal die Stellung dieses Oppositionsblattes zur Regierung an! Die Glückwunschschreiben des Reichskanzlers sind zwar wohlfeil wie Brombeeren, und in patriotischen Kreisen geht schon das geflügelte Wort um, man könne ihnen noch schwerer entgehen als selbst dem roten Adlerorden vierter Klasse. Allein nach den hergebrachten Anschauungen der preußisch-deutschen Bürokratie ist es doch schon etwas, wenn ein Reichskanzler und waschechter Junker dem „Demokraten- und Judenblatt“ seine Reverenz macht. Da muss sich die Sache schon halbwegs bezahlt machen, und sie macht sich zehnfach bezahlt. Es ist vielleicht noch niemals dagewesen, dass der Leiboffiziöse eines durch und durch reaktionären Ministers zugleich der politische Genius des angeblich schärfsten Oppositionsblattes innerhalb der bürgerlichen Parteien ist. Die Berliner Berichterstattung der Frankfurter Zeitung ist ein ununterbrochenes Reklamefeuerwerk für den Fürsten Bülow, und das ist auch notwendig, wenn die Ware die Flagge decken soll. Über die Hintertreppen der Berliner Ministerien, wo die profitabelsten Nachrichten haufenweise zu haben sind, gelangt nur, wer bereit ist, auf der Vordertreppe die Posaune zu blasen zur höheren Ehre der genialen Männer, die das Deutsche Reich regieren.

Mitunter mag dieser Stein der Frankfurter Zeitung selbst wohl schwer im Magen liegen, und in ihrer Jubiläumsnummer meldet sich der fromme Kirchenvater Irenäus zum Wort, um nachzuweisen, dass nicht eigentlich der Kaiser in Deutschland regiere, sondern ganz andere Leute, ohne deren erprobten Rat der Reichskanzler namentlich in der auswärtigen Politik keinen Schritt tue. Irenäus erläutert dies an dem Beispiel, dass nach dem bürgerlichen Gesetz und Eherecht zwar der Ehemann und Familienvater im Hause zu kommandieren habe, aber dass in manchen Fällen die tatsächliche Macht bei der Schwiegermutter oder dem Kammerdiener liege.

Der erschütternden Kraft dieser Beweisführung wird sich niemand entziehen können, allein das Ideal der bürgerlichen Demokratie ist es doch niemals gewesen, als Lakai das Reich zu regieren.

Ebenso wenig wie es je ihr Ideal gewesen ist, den Junkern Henkersdienste zu leisten. Als die ostelbischen Wölfe ihrerzeit ihren Mitwolf Hammerstein gern los sein wollten, aber ihn wegen seines starken Gebisses nicht selbst anzufallen wagten, versahen sie die Frankfurter Zeitung mit der nötigen Munition, um ihn aus dem Hinterhalte abzuschießen. Damals scheute die Frankfurter Zeitung vor dem peinlichen Liebesdienste noch zurück und übertrug ihn ihrem lokalen Ableger, der Kleinen Presse; heute aber rühmt sie in ihrem Jubiläumsbericht, dass die „Kleine Presse“ dadurch die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich gezogen habe. In der Tat: Die Ware deckt die Flagge.

Werfen wir dann einen Blick auf den Gegenpol! Der Arbeiterklasse zeigt die Frankfurter Zeitung ein leidlich loyales Gesicht; sie ist sogar nachgerade das einzige Blatt der bürgerlichen Presse geworden, das hin und wieder ein tadelndes Wort übrig hat für die Klassenjustiz, die gegen die Arbeiterbewegung ausgeübt wird. Das soll gewiss anerkannt werden. Aber leider kommt es ihr auch hier nur auf die Ware und nicht auf die Flagge an. Wie mit aller Welt, so will sie auch mit der Arbeiterklasse gute Freundschaft halten, obgleich sie selbst schon vor vierzig Jahren die gänzliche Hoffnungslosigkeit dieser Bemühungen – in einem Artikel, der Lassalle beschimpfen sollte – mit den treffenden Worten gekennzeichnet hat: „Die Männer, deren Tätigkeit wahrhaft auf Verbesserung des Loses der arbeitenden Klassen gerichtet ist, machen keinen Katzenbuckel vor dem Junkertum, wenden sich nicht an eine hohe Staatsregierung, um einen Sonnenblick der Gunst zu erhaschen.“ Es wird den Reichskanzler betrüben, dass der „Sonnenblick der Gunst“, den er nach Frankfurt gespendet hat, im voraus schon so nichtig eingeschätzt worden ist, aber die Wirkung solcher „Sonnenblicke“ auf die arbeitende Klasse ist damit doch richtig abgeschätzt.

Es entspricht dieser „arbeiterfreundlichen“ Politik der Frankfurter Zeitung, dass ihre Allerweltsfreundschaft aufhört, wo Marx oder die Marxisten ins Spiel kommen. Da weiß sie noch grimmig zu hassen. Wie für den Fürsten Bülow einen eigenen Kammerdiener, so unterhält sie für Marx und die Marxisten einen eigenen Henker, den Genosse Stern kürzlich einmal in einer Parteizeitung ergötzlich abkonterfeit hat. Er ist in der Tat ein äußerst spaßhafter Herr, aber auch er will sub specie aeternitatis betrachtet sein, und wir registrieren ihn hier nur als notwendiges Produkt des Grundsatzes: Die Ware deckt die Flagge.

Der Hauptwitz, womit die Frankfurter Zeitung die Sozialdemokratie bekämpft, ist die splendid isolation, wie das klassenbewusste Proletariat leben soll. Jedoch wenn je die Gracchen über Aufruhr geklagt haben, so in diesem Falle. Sie selbst lebt politisch in glänzender Einsamkeit; aus dem gewaltigen Haufen ihrer Leser vermag sie nicht eine Kompagnie zu rekrutieren, die sie als geschlossene Truppe in die politischen und sozialen Kämpfe der Zeit führen könnte. Sie mag sich mit Recht der Fülle von Arbeit rühmen, die in jeder ihrer Nummern steckt, aber politisch gilt ihr das Wort des Dichters: So viel Arbeit um ein Leichentuch! Und in zeitgemäßer Ummodelung gilt ihr auch das bekannte Wort jenes Johann Jacoby, der einst ihre Leuchte und ihr Stern war: Das kleinste Blatt, das nicht mehr als tausend organisierte Arbeiter hinter sich hat, bedeutet mehr für den Freiheitskampf der Zeit, bedeutet mehr für die Kultur der Menschheit als ein reiches Warenhaus, das sich im bürgerlichen Sinne und vom bürgerlichen Standpunkt aus mit gutem Rechte ein Weltblatt nennen darf.

Doch es ist unmöglich, die so lehrreiche wie traurige Geschichte der Frankfurter Zeitung beredter zu schreiben, als sie selbst es getan hat in dem epigrammatischen Satze: Die Ware deckt die Flagge.


Zuletzt aktualisiert am 12. Juni 2024