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Die Neue Zeit, 24. Jg. 1905/06, Erster Band, S. 273–276.
Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 93–97.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
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Der Konflikt, der durch die sechs früheren Redakteure des Vorwärts innerhalb der Partei angefacht worden ist und in den Augen einzelner Parteiblätter sich sogar zu dem phantastischen Schreckbild einer „Parteikrisis“ ausgewachsen hat, ist längst auf seine natürlichen Dimensionen zusammengeschrumpft. Sobald die großen Massen der Partei den wirklichen Zusammenhang der Dinge erkannten, durch die künstlich aufgewirbelten Staubwolken hindurch, haben sie auch die einzige Entscheidung getroffen, die dem Interesse und der Würde der Partei entsprach, indem sie den Aufsichtsinstanzen des Vorwärts ihre Zustimmung aussprachen und das Vorgehen der sechs Redakteure als eine Schädigung der Partei verurteilten. [1]
In diesen heilsamen Verlauf der Dinge durch kritische Rückblicke auf den Streit selbst störend einzugreifen wäre nichts weniger als angebracht. Wohl aber ist es wünschenswert, dass der Lärm nicht zwecklos verhallt, dass vielmehr die Partei daraus einigen Gewinn zieht und dass sich eine bessere Erkenntnis dessen, was die Parteipresse leisten kann und soll, in ihren Reihen verbreitet, als bisher im Allgemeinen geherrscht hat. Wir sehen dabei von den „prinzipiellen“ Fragen ab, die bei dem Konflikt angeblich ins Spiel kommen sollten, denn über sie besteht, soweit sie wirklich grundsätzlicher Natur sind, überhaupt keine ernsthafte Meinungsverschiedenheit in der Partei; sie sind eben nur mit dem Blasebalg aufgebläht worden. Es steht über jedem Zweifel, dass die politische Haltung der einzelnen Parteiblätter von den Organisationen bestimmt wird, denen sie gehören, so dass diese Organisationen auch das Recht haben, den Redakteuren zu kündigen, die eine andere politische Richtung einschlagen. Wie es über jedem Zweifel steht, dass mit den Redakteuren, was in dem Berliner Falle bis zum Überdruss geschehen ist, vorher alle wünschenswerten Verständigungsversuche angestellt werden müssen.
Es sind vielmehr ganz andere Punkte als die von den sechs Redakteuren in den Vordergrund geschobenen, die bei diesem Konflikt ein kritisches Licht auf die Zustände der Parteipresse werfen. Zum Beispiel die Abmachung, die gar kein Zankapfel der streitenden Teile gewesen ist, die Abmachung, wonach der Minderheit der Redaktion das Recht gegeben wurde, gegen die Aufnahme eines Artikels zu protestieren, worauf dann die Aufsichtsinstanzen des Vorwärts, also eine Körperschaft von 20 bis 24 Personen, zu entscheiden haben sollten, ob der beanstandete Artikel aufzunehmen sei oder nicht. Ohne die gute Absicht zu verkennen, die diese Abmachung veranlasste, so gestehen wir doch, dass sich uns einfach die Haare sträubten, als wir sie schwarz auf weiß lasen. Wer mit Pressverhältnissen halbwegs vertraut ist, kann sich unmöglich vorstellen, wie eine Tageszeitung, und nun gar ein Kampfblatt, ja sozusagen das Kampfblatt der Kampfpartei, mit einer solchen Kugel am Bein marschieren soll. In dasselbe Fach schlagen auch alle anderen Versuche, durch künstliche Verschiebungen zwischen einer Redaktionsmehrheit und einer Redaktionsminderheit dauerhafte Zustände in einer großen Tageszeitung herzustellen; solche Bemühungen, an denen sich die Aufsichtsorgane des Vorwärts so lange abgequält haben, beweisen nur, dass diese Organe ein verhältnismäßig sehr unzureichendes Verständnis von dem Wesen der Presse besitzen.
Was vom grünen Holze gilt, das gilt erst recht vom dürren. Beim Tode Schoenlanks schrieb ein bürgerliches Blatt, unsere Partei sei an guten Rednern reicher, aber an guten Journalisten ärmer als jede bürgerliche Partei. Daran ist unzweifelhaft etwas Wahres, und nicht nur aus Zufall. Denn es ist nicht abzusehen, weshalb gute Redner sich eher für die Parteiziele begeistern sollen als gute Schriftsteller. Der wirkliche Zusammenhang ist der, dass die Partei stets viel Wert darauf gelegt hat, einen vortrefflichen Stab von Rednern heranzubilden, aber der Heranbildung schriftstellerischer Kräfte eine nicht entfernt ähnliche, wenn überhaupt je eine nennenswerte Fürsorge gewidmet hat. Man hat hier einfach wild wachsen lassen, was wild wachsen wollte, und nicht einmal das: Man hat das wilde Wachstum selbst nach Möglichkeit verkümmert. Denn was ist heute das Los eines jungen Arbeiters oder auch eines jungen Akademikers, der publizistische Fähigkeiten besitzt und sie im Dienste der Partei betätigen möchte? Er wird in eine Parteiredaktion gesteckt und – als Mädchen für alles behandelt. Er wird in seinem für die Partei so notwendigen und nützlichen Beruf nicht nur nicht gefördert, sondern gar noch mit scheelen Augen angesehen, wenn er sich selbst darin fördern will.
Das Zeitungsschreiben mag keine schwierige Kunst sein und ist gewiss keine erhabene Kunst, aber eine Kunst ist es immerhin, oder mindestens doch ein Handwerk. Und auch ein Handwerk will gelernt sein. Es kommt dabei wirklich nicht bloß auf die paar technischen Handgriffe an, die sich in einigen Tagen oder Wochen anlernen lassen, sondern auf ein gehöriges Maß literarischer und politischer Bildung, vorausgesetzt, was ja die selbstverständliche Voraussetzung ist, dass ein Parteiblatt etwas anderes und Besseres sein soll als ein sächsisches Amts- oder ein preußisches Kreisblatt oder ein Produkt aus den kapitalistischen Meinungsfabriken von Mosse oder Ullstein oder Scherl, was alles ja von fingerfertigen Schmocks leicht zusammengeschustert werden mag. Obendrein gibt es keinen sozusagen gefräßigeren Beruf als den journalistischen. Er verzettelt den Fonds von Wissen, womit er begonnen wird, außerordentlich schnell, und wer als Redakteur nicht außer seiner sechs- und achtstündigen Tagesarbeit noch ein paar Tagesstunden übrig hat, um von neuem einzunehmen und sich wissenschaftlich fortzubilden, der wird sehr bald auf bloße Handlanger- und Taglöhnertätigkeit beschränkt sein.
Hierauf nehmen die Parteigenossen im Allgemeinen und die Presskommissionen im Besonderen aber durchaus keine Rücksicht. Im Gegenteil – der Parteiredakteur, der vor allem der Sammlung und Vertiefung bedarf, wird in erster Reihe zerstreut und auf alle möglichen Dinge abgelenkt. Er ist für jede Parteiarbeit da, mag sie seinem Berufe so nah oder so fern liegen, wie sie wolle. Am schlimmsten ist der Raubbau, der mit seiner Kraft getrieben wird, wenn er womöglich jeden Abend noch ein Referat abhalten muss. Statt von neuem einzunehmen, wird er gezwungen, noch rapider auszugeben, als er durch seine publizistische Tätigkeit an und für sich schon gezwungen wird. Dazu hindert ihn die mündliche Agitation, wenn sie über ein bescheidenes Maß hinausgeht, außerordentlich an seiner schriftstellerischen Ausbildung. Die schriftliche Ausdrucksweise erheischt ganz andere Mittel als die mündliche, und es ist nicht häufig, dass sich die gleiche Begabung für beide in derselben Person vereinigt. Woher es denn kommt, dass gute Redner selten gute Schriftsteller und gute Schriftsteller selten gute Redner sind.
So wird von Partei wegen – nicht in böser Absicht, sondern aus ungenügender Kenntnis des Zeitungswesens – geradezu alles getan, um das Heranwachsen eines fähigen Journalisten- und Schriftstellerstabes zu verhindern. Gewiss fehlt es der Partei nicht an tüchtigen Zeitungsschreibern, aber für eine Dreimillionenpartei sind sie doch recht spärlich gesät. Sucht man dieser falschen Parteipolitik auf den Grund zu kommen, so stößt man auf ein an sich ganz berechtigtes Gefühl, auf die Empfindungen, dass die Partei keine eigene Literatenkaste in ihrem Schoße aufkommen lassen will, dass jeder angehende Schriftsteller von der Pike auf dienen und ganz in ihr aufgehen soll. Dieser Zweck ist sehr lobenswert, jedoch die Mittel, die angewandt werden, um ihn zu erreichen, sind ganz falsch. Die Partei kann und soll ihre Schriftsteller erziehen, wie sie sich ihre Redner erzieht, allein diese Erziehung darf nicht darin bestehen, dass sie ihre Schriftsteller überhaupt hindert, gute Schriftsteller zu werden. Auf diesem Wege rennt sie gerade in das Übel, das sie vermeiden will, und befördert das Aufkommen einer besonderen Literatenkaste, die um ihrer Berufsfähigkeiten willen einen ganz ungebührlichen Einfluss auf die Partei gewinnt. Hierzu gibt der eben vertosende Literatenlärm ein warnendes Exempel.
Denn woher ist er im letzten Grunde entstanden? Daher, dass ein großes Blatt wie der Vorwärts nicht ohne sorgsam geschulte Kräfte redigiert werden kann, wie sie die Partei heranzuziehen leider verabsäumt, und dass somit ein befähigter, in seiner Weise auch ohne Zweifel sozialistisch denkender, aber der inneren, historischen Gedankenwelt der Partei vollkommen fremder Journalist schließlich das entscheidende Wort in ihm sprach. Es mag ja in gewissem Sinne richtig sein, wenn von der früheren Redaktion bestritten wird, dass sie revisionistisch gesinnt gewesen wäre, aber gerade in dieser Verteidigung liegt ihre Anklage: sie war weder radikal noch revisionistisch, aber sie war in ihrem Denken und Sprechen dem innersten Empfinden der Arbeitermassen fremd, bei vielfacher äußerer Berührung, woraus sich der langsame und quälende Verlauf der Krisis erklärt. Hieraus ergibt sich freilich die Notwendigkeit, dass die literarischen Wortführer der Partei nicht früh und nicht tief genug in ihr historisch überliefertes Wesen eingetaucht werden können, aber nicht minder doch auch die Notwendigkeit, dass ihnen die Möglichkeit gewährt wird, ihrem besonderen Beruf gerecht zu werden.
Verschärft wurde der Konflikt durch einen anderen Umstand, der eben auch im letzten Grade daraus entsprang, dass die Partei nicht die genügende Sorge für einen ausreichenden Nachwuchs schriftstellerischer Kräfte trägt. Wir meinen die Tatsache, dass eine einzelne Korrespondenz die große Mehrzahl der Parteiorgane politisch speist und dadurch einen Einfluss gewinnt, der in diesem Falle ganz und gar dazu angewandt wurde, die Parteipresse in heftigen Zwiespalt mit den Berliner Parteiinstanzen zu bringen. Als in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts diese Art Massenkorrespondenzen in der bürgerlichen Presse aufzutauchen begannen, wurden sie von dem Neuen Sozialdemokraten in Berlin und dem Volksstaat in Leipzig bitter genug als „Meinungsfabriken“ verspottet, und man sah in ihnen nicht ohne Grund ein Zeichen für den Verfall der bürgerlichen Presse. Dass sie sich jemals in der Parteipresse einbürgern könnten, hätte man damals für unmöglich gehalten. Wenn es dennoch geschehen ist und dadurch einzelne Literaten einen formell unanfechtbaren, aber sachlich in hohem Grade bedenklichen Einfluss auf den größten Teil der Parteipresse gewinnen, so trifft die Schuld davon nicht sowohl die armen geplagten Redakteure als die Partei selbst, die nicht so viele geschulte Journalisten zu ihrer Verfügung hat, als sie gebraucht und demgemäß auch haben sollte.
Will sie sich dauernd vor einer einseitigen Literatenherrschaft bewahren, so muss sie in ihrem Presswesen manches reformieren. In diesem Punkt hat ihre innere Entwicklung keineswegs gleichen Schritt gehalten mit ihrer äußeren Ausdehnung.
1. Der Vorwärts war gleichzeitig das Organ der Berliner Organisation der Partei und des Vorstandes. Er wurde aber in den 90er Jahren seiner Funktion als Zentralorgan der Partei nicht immer gerecht. Deshalb wurde er ab 1893 der eigens dazu beim Vorstand berufenen „Press-Kommission“ unterstellt. Der Vorwärts trat 1905 gegen den politischen Massenstreik auf und unterstützte den revisionistischen Anti-Massenstreik-Beschluss des Kölner Gewerkschaftskongresses. Dadurch wurde der so genannte Vorwärts-Konflikt ausgelöst, der schließlich mit der Entlassung von sechs Redakteuren endete. Es war das erste Mal, dass die Press-Kommission praktisch in Aktion getreten war.
Zuletzt aktualisiert am 11. Juni 2024