Franz Mehring

 

Das eine und das andere

(12. April 1905)


Die Neue Zeit, 23. Jg. 1904/05, Zweiter Band, S. 65–68.
Nach Gesammelte Schriften, Band 15, S. 34–37.
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Während der Reichstag in seine Osterferien gegangen ist, unter wehmütigen Klagen der bürgerlichen Presse über das vollständige Absterben des bürgerlichen Parlamentarismus ist das verehrliche Publikum um so stärker gefesselt worden durch eine Reihe von Skandalprozessen, die sich vor den gerichtlichen Schranken abgespielt haben oder noch abspielen: den Ruhstrat-Prozess in Oldenburg, den Klatsch- und Meineidsprozess in Detmold, den Prozess in Worms wegen Sittlichkeitsverbrechen, den Prozess in München wegen Urkundenfälschung und Betrugs und vermutlich auch noch wegen Gattenmordes. Dazwischen dann noch als heiteres Zwischenspiel den Prozess in Stuttgart, wegen angeblicher Majestätsbeleidigung, die an dem König von Sachsen verübt worden sein sollte: als heiteres und gewissermaßen auch tröstliches Zwischenspiel, denn die glänzende Abfuhr, die der Staatsanwalt bei den Stuttgarter Geschworenen erlitt, zeigte in erfreulicher Weise, dass es auch in der bürgerlichen Welt noch gesunden und kernigen Menschenverstand gibt.

Sonst aber zeigen alle diese Prozesse, wie die verschiedensten Schichten der herrschenden Klassen von einer gemeingefährlichen Korruption zersetzt sind: Neben dem Justizminister, der wildem Hasardspiel frönte, steht der hohe Geistliche, der Leib und Seele der heranblühenden Jugend verwüstete, und der Arzt, der ein reiches Mädchen heiratete und sich in heiterster Stimmung ihres Erbes bemächtigte, derweil sie selbst eines noch unaufgeklärten Todes starb. Und wenn im Detmolder Prozess zweifelhaft geblieben sein mag, ob die Geschworenen das Richtige getroffen haben, als sie eine Frau aus den feinsten Kreisen der Bourgeoisie des Meineids für schuldig befanden, so enthüllten doch die Verhandlungen dieses Prozesses, dass in den „Kreisen von Besitz und Bildung“ ein Intrigen- und Klatschwesen herrscht, wie es so boshaft und kindisch auch nur zu erfinden dem rachsüchtigsten Feinde der kapitalistischen Gesellschaft unmöglich sein würde. Es ist ein vollständiger Bankbruch an jeder intellektuellen und moralischen Bildung, den man sich selbst dann nur mit Mühe vorstellen kann, wenn man seine urkundlichen Zeugnisse schwarz auf weiß liest.

Gleichwohl ist diese Häufung der Skandalprozesse längst nichts Neues mehr. Man kann bald noch eher die Sandkörner am Meeresstrande zählen als die Fäulnissymptome dieser Art, die seit einem Menschenalter unaufhörlich am Leibe des Deutschen Reichs erschienen sind, womit nicht gesagt sein soll, dass es in anderen Staaten auf gleicher Höhe der kapitalistischen Gesellschaft irgendwie besser aussieht. Es hieße nur das umgekehrte Spiel jener bürgerlichen Heuchler spielen, die angesichts solcher Erscheinungen noch den traurigen Mut haben, von „deutscher Ehrbarkeit und Zucht“ zu sprechen, wenn man sagen wollte, es sehe in Deutschland schlechter aus als in anderen Ländern, in denen gleiche oder ähnliche soziale Voraussetzungen bestehen. Wenn es ein Trost ist, wie im Unglücke, so auch in der Korruption Genossen zu haben, so genießt Deutschland dieses Trostes allerdings in vollem Maße. Aber es ist freilich ein schlechter Trost, denn er besagt im Grunde nur, dass jede Möglichkeit fehlt, diese Dinge jemals zu bessern, es sei denn, dass die menschliche Gesellschaft auf ganz andere Grundlagen gestellt wird, als ihr die kapitalistische Gesellschaft zu bieten vermag.

Das wäre freilich nur ein schlechter Trost für die besitzenden Klassen, und man könnte meinen, es sei ein umso besserer Trost für das Proletariat. Allein wenn von unserer Seite früher argumentiert wurde, dass, je mehr sich solche Skandale häuften, das Ende der kapitalistischen Herrschaft desto näher sei, so muss man je länger, je schärfer erkennen, dass diese Beweisführung verfehlt ist. Weist man auf den Halsbandprozess vor der großen französischen Revolution oder auf den Mord der Herzogin Choiseul-Praslin vor der Februarrevolution hin, als Vorboten eines nahenden Zusammenbruchs, so müsste nach der Analogie dieser Fälle von der heutigen Gesellschafts- und Staatsordnung längst kein Stein mehr auf dem anderen stehen; in so riesigen Dimensionen sind seit einigen Jahren nicht nur, sondern schon seit einigen Jahrzehnten die gesellschaftlichen Skandale innerhalb und außerhalb der deutschen Grenzen gewachsen. Aber von ihrer revolutionierenden Wirkung ist nichts zu spüren; konnte man früher häufig selbst in bürgerlichen Kreisen hören: So geht es unmöglich weiter, das muss ein Ende mit Schrecken nehmen, so sind diese Kassandrarufe längst verstummt. Im Gegenteil, solche Skandalfälle, wie wir deren nur aus den letzten Wochen aufgezählt haben, erwecken der bürgerlichen Gesellschaft nur noch das Gefühl angenehmen Gruselns, und die Zeitungsberichte darüber werden von den Lesern der bürgerlichen Presse eifriger verschlungen als die Verhandlungen des Reichstags und anderer parlamentarischer Körperschaften. Höchstens machen die Redaktionen dieser Blätter noch einige moralische Glossen dazu, mehr des äußeren Anstandes als der inneren Empörung wegen und sicherlich in dem Bewusstsein, dass damit nicht das Geringste gebessert wird.

Der Grund davon ist auch nicht schwer zu entdecken. Ein gesellschaftlicher Körper reagiert, wie ein physischer Körper, auf Krankheiten, die ihn befallen, nur so lange, als er noch die Kraft besitzt, aus sich heraus zu gesunden. Dann kämpft er gegen seine innere Verseuchung an und sucht sie auszurotten. Aber das Bewusstsein, aus eigener Kraft zu gesunden, hat die kapitalistische Gesellschaft in dem gegenwärtigen Stadium ihrer historischen Entwicklung längst verloren. Sie hat aus langer Erfahrung gelernt, dass alle Versuche, der Übel Herr zu werden, an denen sie leidet, im letzten Grunde dazu führen, ihre Grundlage gänzlich umzuwälzen; das will sie nicht, und das kann sie auch nicht wollen, denn freiwilligen Selbstmord übt keine Gesellschaft an sich aus. Deshalb nimmt sie alle Skandale, mögen sie auch noch so bedrohlich anwachsen, mit völligem Gleichmut hin. Von vornherein hat sie gewiss keine Freude daran; könnte sie sich mit einem Schlage davon befreien, so würde sie es sich wohl etwas und selbst viel kosten lassen, aber da für sie alles auf dem Spiele steht, da es hier nur die eine Rettung gibt, die kapitalistische durch die sozialistische Gesellschaftsordnung zu ersetzen, so sagt sie sich: Lieber so als gar nicht! Es entwickelt sich in ihr der Fatalismus, der ebenso dazu führt, dass sie die Zeugnisse ihrer unheilbaren Erkrankung, wie sie sich in den gesellschaftlichen Skandalen offenbarten, schließlich mit einem gewissen Kitzel genießt, aber völlig gleichgültig wird gegen den bürgerlichen Parlamentarismus, der doch von ihrem eigenen Standpunkt das einzige Mittel ist, das ihr noch helfen könnte, wenn ihr anders überhaupt noch zu helfen wäre.

So konnte man in den letzten Wochen kein bürgerliches Zeitungsblatt aufschlagen, ohne fünf oder sechs Spalten voll langer Berichte über den Prozess in Oldenburg oder den Prozess in Detmold oder den Prozess in Worms oder den Prozess in München zu finden, während sich die dürftigen Berichte über die Verhandlungen des Reichstags in irgendeiner verlorenen Ecke verkrümelten. Man sagt wohl: Ja, das ist die Schuld der parteilosen Zeitungen, die ihr Publikum des Interesses an politischen Dingen entwöhnen, indem sie es mit Klatsch und Skandal füttern. Aber das ist gerade so, als wenn man das Wetter vom Thermometer abhängig machen wollte, während das Thermometer vom Wetter abhängig ist. Die parteilosen Zeitungen machen nicht die Stimmungen der bürgerlichen Welt, sondern sie sind nur das Produkt der Stimmungen, die in der bürgerlichen Welt herrschen und in ihrer sozialen Entwicklung wurzeln. Sie würden mit einem Schlage von der Bildfläche gefegt sein, wenn die bürgerlichen Klassen noch die Kraft in sich fühlten und somit noch den ernsten Entschluss fassen könnten, auf dem Wege politischer und sozialer Reformen die kapitalistische Gesellschaft wieder auf leidlich feste Füße zu stellen.

Aus alledem ergibt sich, dass man die revolutionierende Wirkung der gesellschaftlichen Skandale, die heute überall herrschen, wo die kapitalistische Produktionsweise auf ihren Höhepunkt gelangt ist, nicht überschätzen darf. Auf die herrschenden Klassen üben sie eine solche Wirkung in keiner Weise mehr aus, indem sie etwa ihren Trotz erschüttern; im Gegenteil, sie stärken diesen Trotz eher, indem sie klarstellen, dass einem so unaufhaltsam und unheimlich wachsenden Übel doch nicht mehr beizukommen ist. In den arbeitenden Klassen erwecken sie allerdings lebhafte Empfindungen des Abscheus, aber mit solchen Empfindungen macht man keine Politik. Da gilt es vielmehr vollkommen klar zu sein über die Bedingungen, unter denen die kapitalistische Gesellschaft bis auf die Wurzel ausgerottet werden kann. Weiß man das, so weiß man auch, wie die Skandale verschwinden werden, die jetzt jeden neuen Tag schänden, allein wenn man sich nur über diese Skandale empört, so weiß man noch lange nicht, wie die kapitalistische Gesellschaftsordnung zu beseitigen ist, und die herrschenden Klassen verlieben sich am Ende noch mehr in ihre Skandale, wenn sie sehen, dass sich die „Kanaille“ nur daran zu ärgern weiß. Je mehr sich diese hässlichen Dinge häufen – und sie müssen sich mehr und mehr häufen –, umso notwendiger ist es, sich über das Maß von Interesse klar zu werden, das sie für den proletarischen Klassenkampf haben. Gewiss wohnt ihnen auch eine propagandistische Wirkung inne, denn wenngleich die sittliche Empörung keine wirksame Politik machen kann, so kann sie doch dazu antreiben, die Bedingungen zu studieren, unter denen eine wirksame Politik möglich ist; auch wäre es eine allzu starke Zumutung für die Gutmütigkeit der Arbeiterpresse, wenn sie an dem hässlichen Krankheitsbild der kapitalistischen Gesellschaft mit geschlossenen Augen vorübergehen sollte. Davon kann keine Rede sein. Es handelt sich nicht um das eine oder das andere, sondern um das eine und das andere. Aber wenn wir mit Recht sagen können, dass uns die kapitalistische Welt mit Agitationsstoff bis zum Ersticken überschüttet, so darf man sich diesen Segen, da er von den Gegnern kommt, wohl einmal näher ansehen und sich erinnern, dass ein Artikel über das Erfurter Programm je nachdem die Propaganda mehr fördert als zehn Artikel über den Prozess Ruhstrat.


Zuletzt aktualisiert am 11. Juni 2024