Franz Mehring

 

Der Russisch-Japanische Krieg [1]

(1904)


Die Neue Zeit, 22. Jahrgang (1903/1904), Bd. 1, S. 617–620.
Aus Franz Mehring, Krieg und Politik, Bd. I, Berlin 1959, S. 108–112.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive,


Berlin, 10. Februar 1904

„Der Russisch-Japanische Krieg ist wirklich ein Krieg.“ In diesem anscheinend sehr simplen und trivialen Satze eines bürgerlichen Blattes entlädt sich die ganze Angst der Bourgeoisie vor einem ungeheuren Schicksal, das in die Kreise der satten Selbstzufriedenheit tritt, die sie künstlich um sich gezogen hat. Sie ist seit langem das instinktive Gefühl nicht losgeworden, daß ein wirklicher Krieg ihrer ganzen Herrlichkeit einen unverwindlichen Stoß geben müsse, und so hatte sie sich darein gefunden, durch das System des bewaffneten Friedens lieber langsam zu verbluten, statt durch die schnellere Radikalkur eines Krieges ihrem Ende entgegenzugehen.

Dem japanischen Kapitalismus, jung und lebensfrisch wie er ist, hat sich diese greisenhafte Methode der europäischen Bourgeoisie noch nicht eingeschmeichelt. Er braucht Ellenbogenraum und will ihn sich mit blankem Schwerte erkämpfen, wie das die Art des Kapitalismus ist, solange er Frühlingswehen und Knospendurchbruch in seinen Gliedern spürt. Japan hat der russischen Diplomatie, die in der Alten Welt als unübertreffliches Muster der Klugheit angestaunt wird, frischweg das Konzept zerrissen und der Macht Väterchens, vor der sich ganz Europa duckt, binnen weniger Tage einige kräftige Stöße versetzt, die sie nicht so bald verwinden wird. Man hat die Japaner die „Preußen des Ostens“ genannt und ihnen damit eine Schmeichelei zu sagen geglaubt. Allein die Japaner haben allen Grund, sich diese angebliche Schmeichelei als eine plumpe Beleidigung zu verbitten. Wären sie die „Preußen des Ostens“, so hätten sie sich von Väterchen an der Nase führen lassen, bis es für sie zu spät gewesen wäre, ganz so wie es die zarische Diplomatie beabsichtigte; dadurch, daß sie rechtzeitig dieser vielgepriesenen Diplomatie in die Parade fuhren, haben die Japaner gezeigt, daß sie gescheitere Politiker sind als alle borussischen Nationalhelden vom Alten Fritz bis auf Bismarck.

Über den „tückischen Friedensbruch“, den Väterchen um so inbrünstiger bejammert, je mehr ihn die ersten Schläge schmerzen, braucht kein Wort verloren zu werden. Es ist so, als wenn der Wolf, der beim Einbruch in den Schafstall gehörige Prügel bekommt, über „tückischen Friedensbruch“ klagen sollte. Daran ändert auch nichts, daß der Wolf am Ende nur von einem anderen Wolfe weggebissen worden ist, der auch in den Schafstall will. Hätten sich die Japaner von den Russen übertölpeln lassen, so würden sie sich ebenfalls nur lächerlich gemacht haben, wenn sie sich als Opfer zarischen Hinterlist tragisch gebärdet hätten. Sie haben aber klüger zu handeln gewußt, und nach all den ungeheuren Freveln, die dem russischen Raubstaat ungestraft hingegangen sind, braucht man nicht in Sack und Asche zu trauern, wenn ihm einmal aufgespielt wird, wie er es verdient.

Nachdem der Brand ausgebrochen ist, werden sich die großen Mächte mit allen Kräften bemühen, ihn zu isolieren. An ihrem guten Willen, die „strengste Neutralität“ innezuhalten, besteht nicht der geringste Zweifel; jede von ihnen hat triftige Gründe genug, ihre Finger nicht in diese Pastete zu stecken, und vor allem hat die Bourgeoisie aller der Länder, in denen die kapitalistische Produktionsweise herrscht, den dringenden Anlaß, einen allgemeinen Weltkriegsbrand zu verhüten. Eine andere Frage ist, ob es in ihren Kräften steht, die Kugel aufzuhalten, die einmal ins Rollen gekommen ist. Die Dinge sind immer mächtiger als die Menschen, und es ist im besonderen das Schicksal der modernen Bourgeoisie, längst die Herrschaft über die Kräfte verloren zu haben, die sie entfesselt hat und die sie als „Herr im Hause“ zu beherrschen wähnt. Läge der Weltfriede nur in ihren zitternden Händen, so wäre er trotz ihres unzweifelhaften Verlangens, ihn festzuhalten, dennoch sehr schlecht behütet.

Um so energischer tritt die Sorge für den Weltfrieden an die Arbeiterklasse heran. Sie bedarf seiner aus ganz anderen Gründen als die Bourgeoisie; sie braucht ihn zur Entwicklung ihrer Kultur, während die Bourgeoisie ihn braucht, um ihre Unkultur aufrechtzuerhalten. Deshalb kann das Proletariat mit ganz anderem Nachdruck für den Weltfrieden eintreten als die Bourgeoisie. Für die Arbeiterklasse ist die Forderung der Neutralität in dem Russisch-Japanischen Kriege nicht ein negatives Ziel zitternder Angst um Haut und Beutel, sondern ein positives Programm, das den historischen Fortschritt sichert gegen alle Katastrophen, in die er durch die konvulsivischen Zuckungen einer untergehenden Welt gerissen werden kann.

Hieraus ergibt sich schon, daß die Neutralitätspolitik des Proletariats sich wesentlich unterscheidet von der Neutralitätspolitik der Bourgeoisie. So sehr die Arbeiterklasse dem Kriege den Krieg erklärt hat, so fern steht sie den Schalmeien, womit die bürgerlichen Fadensfreunde sich selbst betören. Sie weiß, daß der Krieg nicht die Erfindung schlechter Menschen ist, die durch sanfte Predigten eines Besseren belehrt werden können; sie weiß vielmehr, daß, solange es Klassenherrschaft gibt, das Schicksal der Völker sich immer in den Angeln der Schlachten bewegen wird. Die revolutionäre Arbeiterpartei kann nach ihren Interessen und Prinzipien niemals ein Interesse für den Krieg haben, aber deshalb hat sie doch ein je nachdem großes Interesse an den Kriegen, die sich aus dem Schoße der kapitalistischen Produktionsweise immer neu gebären und, wie eben der Japanisch-Russische Krieg zeigt, sich auch dann gebären müssen, wenn die Leiter dieser Produktionsweise nichts so sehr scheuen wie den Krieg. So wenig es die Sache der Arbeiterklasse sein kann, sich für die kriegführenden Japaner oder die kriegführenden Russen zu begeistern, so wenig ist es gleichgültig für das Proletariat, ob die Japaner oder die Russen Siegen. Diese Entscheidung wird vielmehr eine außerordentlich tiefgreifende Einwirkung auf die moderne Arbeiterbewegung haben. Siegt Japan, so hat der zarische Despotismus einen vernichtenden Stoß erhalten, der seine Hegemonie über Europa bricht, die revolutionären Kräfte innerhalb des russischen Volkes entfesselt und damit der revolutionären Entwicklung überhaupt einen gewaltigen Anstoß gibt. Siegt dagegen Rußland, so ist die zarische Hegemonie auf unabsehbare Zeit befestigt, so daß sie entweder durch einen verheerenden Weltkrieg gebrochen werden muß oder aber auf lange hinaus den Strom der revolutionären Entwicklung wie ein unpassierbarer Felsblock sperrt.

Diesen Zusammenhang der Dinge darf namentlich die deutsche Arbeiterklasse keinen Augenblick aus den Augen verlieren, dieweil er sie am nächsten angeht. Sie darf sich keinen Augenblick über den Sinn der „strengsten Neutralität“ täuschen, die von der Regierung und den herrschenden Klassen mit feierlicher Würde verkündet wird. Gewiß ist es ihnen damit insofern ernst, als sie sich nicht die Finger an den unberechenbaren Wechselfällen eines Krieges verbrennen wollen, wie denn selbst der zarische Despotismus den Ausbruch des Krieges zu verhindern und die Japaner in der friedensseligsten Weise über das Ohr zu hauen versucht hat. Aber die herrschenden Klassen sind sich immer sehr klar über ihre Interessen, und sowohl die deutsche Regierung wie die deutsche Bourgeoisie werden alles tun, was in ihren Kräften steht, um hinter dem Mantel der offiziellen Neutralität die russische Sache zu fördern. Die Preßmache ist ja schon in vollem Gange, von der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung bis zur Frankfurter Zeitung. Besonders wird der biedere Philister mit der „gelben Gefahr“ greulich zu machen gesucht, mit dem famosen . Schreckgespenst, daß, wenn wir nicht heute Väterchen als Preisfechter moderner Kultur auf den Schild erheben, uns der Japaner und der Chinese morgen vom Erdball fegen wird.

Wie hohl immer diese Preßmache ist, so hat der deutsche Spießbürger doch schon zu zahlreiche Proben davon gegeben, mit wie wohlfeilen Mitteln er sich einseifen läßt, als daß sie unterschätzt werden dürfte. Die Arbeiterklasse hat allen Anlaß, ihr nachdrücklich und rechtzeitig entgegenzutreten. Man erinnere sich, wie verhängnisvolle Folgen es gehabt hat, daß sich der biedere Bürgersmann 1870 in die Begeisterung für die Annexion Elsaß-Lothringens hineinhetzen ließ, in das sicherste Mittel, die zarische Hegemonie zu verewigen. Geht die offiziös-demokratische Preßmache einige Wochen oder Monate so weiter, wie sie eingesetzt hat, so wird die bürgerliche Zunge, soweit sie im neudeutschen Reiche klingt, Väterchen als den edelmütigen Märtyrer feiern, der von den Frechlingen der gelben Rasse tückisch angefallen worden ist und nun für alle heiligen Güter der Menschheit blutet. Und das ist keineswegs gleichgültig, am wenigsten für die Frage, ob nicht doch einmal unversehens die Kriegsfackel über Deutschland aufleuchten mag.

Deshalb sollten die deutschen Arbeiter nicht zögern, jener in die ersten Halme schießenden Demagogie sofort entgegenzutreten. Die Berliner Frauen haben bereits für die nächsten Tage eine Massenversammlung einberufen, um gegen den Kosakenkurs der Regierung zu protestieren, und dies Beispiel sollte überall in Deutschland befolgt werden. Vor allem sollte die Arbeiterpresse in den Volksmassen ein klares Bewußtsein von der historischen Bedeutung rege erhalten, die der Japanisch-Russische Krieg auch für das deutsche Proletariat hat. Die Angst des Bürgertums vor dem Kriege ist auch deswegen ein sehr unsicherer Bürge des Friedens, weil der einmal toll gewordene Spießer sich am leichtesten in die waghalsigsten Abenteuer stürzt; man erinnere sich nur, wie besessen der Pariser Gewürzkrämer im Juli 1870 à Berlin! schrie. Gesichert wird die deutsche Neutralität erst dann sein, wenn die Arbeiterklasse dein Kosakenkurs des Grafen Bülow unablässig auf den Fersen sitzt.

Es ist wie immer die Sache der Kultur, die das Proletariat mit dieser Politik in seiner eigenen Sache verficht.

 

Anmerkung

1. Im Februar 1904 begann der japanische Imperialismus ohne Kriegserklärung den Krieg gegen Rußland mit dem Überfall auf die russische Kriegsflotte in Port Arthur. Die herrschenden Kreise Deutschlands verhielten sich im wesentlichen rußlandfreundlich, weil sie sich dadurch politische Vorteile versprachen. Die Niederlagen in der Mandschurei, der Verlust der Flotte und vor allem die Revolution von 1905 zwangen den Zarismus im September 1905 zum Friedenschluß.

Der vorliegende Artikel enthält neben richtigen Einschätzungen der weltpolitischen Situation und der Haltung der deutschen Arbeiterklasse zu diesem Kriege auch Ansichten, die von der leninistischen Theorie über den Imperialismus abweichen. Mehring überbetont zum Beispiel die Furcht des deutschen Imperialismus vor einem Krieg und unterschätzt seine Kriegsabsichten. Andererseits überschätzt er die Stellung des Zarismus unter den imperialistischen Mächten Europas, wenn er von der zaristischen „Hegemonie über Europa“ spricht.


Zuletzt aktualisiert am 11. Juni 2024