Franz Mehring

 

Neujahr

(31. Dezember 1903)


Ungezeichnet, Leipziger Volkszeitung, Nr. 301, 31. Dezember 1903.
Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 625–627.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
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Ein Jahr des Kampfes schließt heute ab, ein Jahr des Kampfes, aber auch ein Jahr des Triumphes. Das deutsche Proletariat kann mit Befriedigung auf die Ernte dieses Jahres blicken; sie war über Erwarten reich, und mit größerer Siegeszuversicht denn je darf die Sozialdemokratische Partei auf ihrem völkerbefreienden Wege voranschreiten.

Die bürgerlichen Gegner haben es nicht an Mühe fehlen lassen, den großen Siegestag des 16. Juni zu verdunkeln; sie haben heraus gerechnet, dass die drei Millionen sozialdemokratischer Stimmen eigentlich gleich Null seien und jedenfalls keine nennenswerte Verstärkung der Arbeiterpartei seit dem Jahre 1898 bedeuteten. In solchen Kniffen ist der Verstand der Bourgeoisie unerschöpflich, und man möchte fast bedauern, dass sie keinen besseren Gebrauch von ihren geistigen Gaben zu machen weiß. Würde sie den Scharfsinn, den sie so unfruchtbar verschwendet, um die sozialdemokratischen Erfolge aus der Welt zu tüfteln, aus der sie nun doch einmal auf keine Weise zu schaffen sind, auf die Fortschritte der Arbeiterschutzgesetzgebung verwenden, so wäre das für sie entschieden von größerem Vorteil und für uns am Ende auch.

Zwar können wir, von unsrem Parteistandpunkte aus, auch ganz damit einverstanden sein, dass die Bourgeoisie kein noch so lächerliches Mittel verschmäht, um unsre Erfolge in den Augen derer zu verkleinern, die ein Interesse daran haben, sich täuschen zu lassen. In wenigen Tagen vollenden sich dreißig Jahre, seitdem zum ersten Mal ein sozialdemokratischer Wahlerfolg all die braven Spießbürger erschreckte, die aus der Pünktlichkeit, womit ihnen jeden Mittag um zwölf Uhr die Suppe auf den Tisch gesetzt wird, die ewige Dauer der kapitalistischen Gesellschaftsordnung zu folgern geneigt sind. Damals waren freilich kaum erst drei Hunderttausende sozialdemokratische Stimmen abgegeben worden, wie jetzt ihrer drei Millionen, aber dazumal war die Sozialistenangst auch noch neu und wirkte auf den geringeren Anstoß nicht minder tief, als heut auf den größeren. Eben jetzt hat der Tod Schäffles daran erinnert, dass sich damals in den Reihen des Bürgertums wenigstens ein Warner fand, der eindringlich darauf hinwies, man solle das sozialistische Problem lieber studieren; als die Augen vor ihm schließen, allein die Stimme dieses Propheten verhallte in der Wüste. Seitdem hat sich immer dasselbe Schauspiel bei jeder neuen Reichstagswahl wiederholt: auf das erste Erschrecken über die wachsende Zahl der sozialdemokratischen Stimmen eine allgemeine Schönfärberei, von der äußersten Linken der bürgerlichen Welt. Uns kann diese glorreiche Kampfmethode nur willkommen sein; sie hilft uns den Weg bahnen, da die Volksmassen unsre Fahne nur desto deutlicher erblicken, je komischer die herrschenden Klassen und ihre literarischen Bedienten sich die Hälse verrenken, um sich den Anschein zu geben, als sähen sie uns nicht marschieren.

Einer andern Selbsttäuschung überlassen sie sich, wenn sie den Dresdner Parteitag ausspielen als ein Bleigewicht, das die Sozialdemokratische Partei wieder von dem erhöhten Standpunkte herab reiße, den sie etwa doch mit dem 16. Juni erklommen habe. Ja, besonders phantastisch veranlagte Gemüter unter den Weisen der Bourgeoisie wissen sogar zu verkünden, dass von Dresden an der Niedergang der deutschen Arbeiterbewegung datiere. Damit wird aber nur bewiesen, dass hüben und drüben schon vollkommen verschiedene Sprachen gesprochen werden, sei es auch mit dem Gebrauche der gleichen Worte. Stellt man sich einmal auf den bürgerlichen Standpunkt und betrachtet man von ihm aus die Dinge, so mag man verstehen, dass sich in den bürgerlichen Kreisen eine gewisse Schadenfreude über die Vorgänge in Dresden geltend machte; sehr wohl möglich, dass diese Vorgänge einer bürgerlichen Partei verhängnisvoll geworden wären. Jedoch was für eine bürgerliche Partei gelten mag, das gilt noch lange nicht für eine proletarische Partei, die eben unter ganz anderen Bedingungen kämpft und lebt. Trotz aller guten oder schlechten Witze, die von der bürgerlichen Presse über Dresden gemacht worden sind, hat die Sozialdemokratische Partei aus dem dortigen Parteitage nur neue Kraft gewonnen, indem sie sich von lästigen Schatten befreite, die ihre wachsenden Erfolge allzu lange verdunkelt haben.

Es gibt heute, wenn man etwa von einzelnen, allzu optimistischen Naturen absieht, niemanden mehr in der Partei, der sich den geringsten Vorteil, ja auch nur etwas anderes als den schwersten Nachteil von einer Abschwächung des proletarischen Klassenkampfes verspräche. Die alte stolze revolutionäre Taktik der deutschen Sozialdemokratie, der sie in erster Reihe ihre gewaltigen Erfolge verdankt, ist heute so unangefochten wie je. Die Partei weiß, dass sie Feinde ringsum hat, Feinde, die nur darauf lauern, ihr den Nagel ins Hirn zu treiben, Feinde, die sie nur besiegen kann, indem sie selbst ihnen den Fuß in den Nacken setzt. Hätte es darüber seit Dresden noch Illusionen in der Partei gegeben, so würden sie durch die Erfahrungen des Crimmitschauer Streiks zerstäubt worden sein. In frivolster Weise spielt hier der dünkelhafte Übermut des kapitalistischen Geldprotzentums mit dem Wohl und Wehe einer mehrtausendköpfigen Arbeiterbevölkerung, deren einziges Verbrechen darin besteht, eine höfliche Bitte um eine kleine Erleichterung ihres überaus armen Lebens gestellt zu haben. Der Crimmitschauer Streik, der uns aus dem alten in das neue Jahr geleitet, und, wie wir alle hoffen, mit der ersten Siegesstation der Arbeiterklasse in dem neuen Jahre enden wird, ist ein Markstein nicht nur in der gewerkschaftlichen, sondern auch in der politischen Arbeiterbewegung. Im Interesse der Menschlichkeit hätten wir gewünscht, dass die Fabrikanten in Crimmitschau und die deutsche Kapitalistenschar, die ihnen begeisterten Beifall spendet, sich den Wünschen der ausgebeuteten Spinner und Weber fügsamer erwiesen hätten. Aber da sie es nicht getan haben, so müssen wir die Dinge nehmen, wie sie sind, und dafür sorgen, dass sie der Arbeitersache auch so zum Besten dienen. Wer jetzt noch einmal auf den Gedanken verfallen sollte, dass mit einem gelinderen Anspannen der Saiten gegenüber der kapitalistischen Gesellschaft mehr zu erreichen sei als mit deren rücksichtslosester Bekämpfung, der wird verstummen müssen, wenn man ihm antwortet: Crimmitschau.

Wir wissen wohl: Auf der Scheide zweier Jahre bleibt uns immer nur ein kurzer Ruhepunkt, auf dem uns die Erfolge erfreuen können, die wir in der Vergangenheit erworben haben. Schon klopft die Zukunft an die Tür, die uns vor schwerere Aufgaben stellen wird, als wir je gelöst haben. Allein in der Überwindung immer gewaltigerer Hindernisse bewährt sich gerade die siegreiche Kraft des modernen Proletariats, und wir begrüßen das neue Jahr umso freudiger, je mehr Arbeit und Kampf es in seinem Schoße birgt.


Zuletzt aktualisiert am 11. Juni 2024