Franz Mehring

 

Zwanzig Jahre

(1. Oktober 1902)


Die Neue Zeit, 21. Jg. 1902/03, Erster Band, S. 1–4.
Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 500–503.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
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Mit dieser Nummer tritt die Neue Zeit in ihr einundzwanzigstes Lebensjahr. Als sie vor zehn Jahren ihr elftes Lebensjahr begann, schrieb Genosse Bernstein in dem Geburtstagsartikel, es sei das erste Mal, dass eine deutsche sozialistische Revue, wie auch das erste Mal, dass überhaupt eine Revue von ausgesprochen sozialistischer Tendenz ein solches Alter erreicht habe. Mit doppelt gutem Grunde dürfen wir heute das gleiche sagen. Aber der Ruhm selbst mag zweifelhaft sein; zur Vollendung ihres zwanzigsten Lebensjahres hat die Neue Zeit einen unholden Chor von Stimmen hören müssen, und nicht nur aus gegnerischen Lagern, wonach sie alt geworden sei, alt in jedem schlimmen Sinne des Wortes.

Uns dagegen zu verteidigen, ist schwer. Erhöben wir den Einwand, dass wir uns jung fühlten, so jung, wie am ersten Tage, da uns die strahlende Hoheit des proletarischen Emanzipationskampfes aufging, man könnte uns antworten, es sei eben die Selbsttäuschung des Alters, sich jung zu fühlen. So lassen wir die Leute reden und gehen unseres Weges und rühmen uns unseres Fleißes. Wer je in irgendwelcher Zukunft erforschen will, was in diesen zwei Jahrzehnten an sozialistischer Gedankenarbeit geleistet worden ist, der muss zur Neuen Zeit zurückkehren und dem Kreise der Werke, die sich um sie gruppieren. Wenn niemand uns loben will, so müssen wir uns schon selbst loben, und, wie Lessing einmal sagt: Notwehr entschuldigt Selbstlob. Doch der Ruhm, dessen wir uns unterfangen, ist am wenigsten der Ruhm derer, die an der Neuen Zeit schaffen, es ist der Ruhm vieler teurer Toten, es ist der Ruhm auch derer, die lange Jahre mit uns gearbeitet haben und nun auf anderen Wegen zum gleichen Ziele streben, es ist der Ruhm vor allem des viel geschmähten Marxismus. Was vor zehn Jahren an dieser Stelle gesagt wurde, das gilt gegenwärtig noch, und ebendies ist unser Stolz: Die Neue Zeit ist von Anbeginn ein marxistisches Organ gewesen und ist es noch heute; sie ist immer im Sinne des von Marx und Engels begründeten, wissenschaftlich-revolutionären Sozialismus redigiert worden, und anders wird sie nie redigiert werden. Unter allen Vorwürfen, die in letzter Zeit auf unsere schuldigen Häupter herabgeregnet sind, hat uns keiner so erfreut wie die Beschwerde, dass wir uns nicht ändern würden. Nein, wir werden uns nie ändern, und die Neue Zeit wird bleiben, was sie seit zwei Jahrzehnten gewesen ist. Ihr müsst erst ihr marxistisches Rückgrat brechen, ehe ihr erlebt, dass sie altert und stirbt.

Aber das soll dogmenfanatische Verblendung sein! Was hierüber zu sagen ist, wurde in dem Gedenkartikel vor zehn Jahren treffend so gesagt: „Nicht dass der Marxismus in der Neuen Zeit ausschließlich zum Worte kam, noch dass er für sich das Recht reklamiert hätte, außerhalb aller Diskussion zu stehen. Eine solche Tendenz würde dem Wesen des Marxismus so sehr widersprechen, dass jede Redaktion, die das versuchte, auch wenn sie sich sonst buchstäblich an die Schriften von Marx und Engels hielte, damit sich selbst als unmarxistisch dokumentierte. Es gibt kein Dogma, keinen Satz des Marxismus, der nicht selbst wiederum die wissenschaftliche Untersuchung zuließe. Alle Resultate der Untersuchungen von Marx und Engels beanspruchen nur so lange Gültigkeit, als sie nicht durch neuere wissenschaftliche Untersuchungen widerlegt werden können; irgendeine endgültige Wahrheit letzter Instanz kennt der Marxismus nicht, weder bei sich noch bei anderen. Aber dieser Standpunkt ist nicht zu verwechseln mit dem des Eklektizismus, der seine Grundsätze aus den verschiedensten und verschiedenartigsten Systemen zusammenholt, oder dem des gesinnungslosen Skeptizismus. Der Marxismus ist eine bestimmte wissenschaftliche Methode, und was auf deren Grund ermittelt ist, hat für ihn zwar nur in den obigen Grenzen, aber innerhalb ihrer ausschließliche Gültigkeit. So ist er positiv, ohne konservativ-reaktionäre, und revolutionär ohne utopistische Beimischung, wie er materialistisch ist, ohne in groben Mechanismus zu verfallen.“ In diesem Marxismus ist die Neue Zeit jung geblieben, und alt mag sie sich höchstens selbst erscheinen, wenn sie sich erinnert, wie viele todesmutige Ritter sie schon hat gehen und kommen sehen, die den Marxismus erschlagen wollten und selbst nur umkamen im Triebsand sei es des Eklektizismus, sei es des Skeptizismus.

Dem einen oder dem anderen verfällt unrettbar, wer dem Marxismus absagt und doch nicht einfach zur bürgerlichen Welt zurückkehren will. Der Marxismus ist nicht die Theorie eines Individuums, dem ein anderes Individuum eine andere und höhere Theorie entgegensetzen kann; er ist der proletarische Emanzipationskampf, in Gedanken erfasst, er ist aus den Dingen selbst, aus der historischen Entwicklung emporgewachsen, ebendeshalb ist er sowenig ein wesenloser Trug wie eine ewige Wahrheit. Solange der proletarische Emanzipationskampf das Leben der modernen bürgerlichen Gesellschaft beherrscht, und er beherrscht es von Jahr zu Jahr mehr, solange ist der Marxismus das letzte Wort aller Gesellschaftswissenschaft, versteht sich, der wirklichen Gesellschaftswissenschaft, der es um die Erkenntnis als solche und nicht um schönfärberische Zwecke zu tun ist. So ist es ein eitles und vergebliches Unterfangen, über den Marxismus als wissenschaftliche Methode hinauszuwollen. Dabei verfällt man in der Tat entweder dem Eklektizismus oder dem Skeptizismus. Dem Eklektizismus, indem man aus überall hergeholtem Material eine neue Theorie erbaut, die sich etwa der Festigkeit eines Kartenhauses rühmen darf. Oder dem Skeptizismus, indem man hinter jeden Satz von Marx ein Fragezeichen malt, vielleicht auch nach der schon von Lessing gekennzeichneten Methode diesem oder jenem Satze etwas für den gesunden Menschenverstand Plausibles entgegensetzt, alles übrige aber mit triumphierender Verachtung übergeht. Wir wollen diesen Skeptizismus nicht „gesinnungslos“ nennen, wie er vor zehn Jahren an dieser Stelle genannt wurde, denn inzwischen haben sich ihm sehr brave Leute ergeben, aber unfruchtbar ist er im allerhöchsten Masse.

Statt sich auf solchen Irrwegen zu verlieren, hat die Neue Zeit den Marxismus immer gepflegt, nicht als unfehlbares Dogma, aber als wissenschaftliche Methode, als die feinste, schärfste und stärkste Waffe, womit das moderne Proletariat die Provinzen des Geistes erobern kann. Schilt man uns deshalb Epigonen, wir nehmen das Wort ruhig hin. Wir erfreuen uns lieber an einer alten Wahrheit, als dass wir die Welt mit einer neuen Narrheit beglücken. Wir beten die Worte unserer Meister nicht nach, sondern arbeiten in ihrem Geiste, was in gewissem Sinne nichts anderes heißt, als dass wir den Glauben an ihre Worte zerstören. Von den Resultaten, die Marx und Engels auf Grund ihrer wissenschaftlichen Methode gewonnen haben, sind manche zerfallen und noch mehr wären heute schon als überholt nachgewiesen worden, wenn der hoffnungslose Sturmlauf gegen die wissenschaftliche Methode des Marxismus nicht die beklagenswerte Folge hätte, dass über der Abwehr dieser unfruchtbaren Angriffe die wirklich fruchtbare und wirklich fortschreitende Kritik an dem geistigen Erbe von Marx, Engels und Lassalle ins Gedränge käme. [1]

Daraus erklärt sich auch zum Teil der Überdruss der Arbeitermassen an den „theoretischen Tifteleien“, und insoweit vermögen wir sogar dem banausischen Fluche, dass sich alle Theoretiker untereinander auffressen möchten, ein winziges Körnlein Salzes abzugewinnen. Zum anderen Teile erklärt sich freilich das Verschwinden jenes großen theoretischen Sinnes, den einst Marx an den deutschen Arbeitern rühmte, aus anderen Gründen, zumal aus dem raschen und unaufhaltsamen Fortschreiten der proletarischen Bewegung, das für jeden neuen Tag neue praktische Arbeit schafft. Trotz unseres Marxismus oder vielmehr dank ihm sind wir historisch genug geschult, um zu erkennen, dass die unmäßige und unverdiente Verachtung, der die Theorie heute in weiten Kreisen der Arbeiterwelt anheim gefallen ist, ihre großen entschuldigenden Gegenseiten hat; wir sind gerade durch den Marxismus gänzlich vor jener melancholischen Stimmung geschützt, die Goethe einmal in die Worte kleidet: Dieweil mein Fässlein trübe läuft, die Welt geht auf die Neige. Wir folgern aus der theoretischen Konfusion, die von manchen „Praktikern“ als der Idealzustand der Partei betrachtet zu werden scheint, vielmehr nur die Notwendigkeit, die Theorie um so höher zu halten und sie um so eifriger zu pflegen. Denn dazu sind wir Theoretiker, dass wir schärfer und weiter sehen als die „Praktiker“, denen die gewiss nicht minder wichtige Aufgabe obliegt, für des Tages Nahrung und Notdurft zu sorgen. Der Emanzipationskampf des modernen Proletariats kann nicht wie ein Guerillakrieg geführt werden, von Tag zu Tag und von Ort zu Ort, ohne einen Generalstab; die Arbeiterklasse wird niemals siegen, wenn sie sich nicht auch geistig überlegen zeigt der alten und trotz aller kapitalistischen Zerrüttung noch immer mächtigen Kultur, die sie überwinden muss, um eine höhere Kultur zu schaffen.

Mag die Neue Zeit ein wenig im Schatten stehen, da sie ihr zweites Lebens Jahrzehnt vollendet. Gleichwohl tritt sie voll frischer Zuversicht in das dritte Jahrzehnt des Kampfes, der ihr Leben ist. Ehe dieses Jahrzehnt vollendet sein wird, werden – wenn anders nicht alle Zeichen der Zeit trügen – große Entscheidungen gefallen sein, und in ihnen wird die Theorie wieder zu den vollen Ehren kommen, die ihr in dem größten Befreiungskampf der Menschheit gebühren. So schaffen wir weiter an unserem Werke, voll souveräner Verachtung des bürgerlichen Geschwätzes, jedoch nicht unempfindlich gegen den Tadel der Freunde und gern empfänglich für ihren wohlerwogenen Rat. Nur mit guten Vorsätzen, die wir am Ende doch nicht halten könnten, wollen wir den Weg in unser neues Jahrzehnt nicht pflastern. Es gibt Dinge, auf die wir uns niemals verstanden haben und niemals verstehen werden, für die unsere Knochen freilich zu alt und starr geworden sind: die lärmende Reklame, den kapitalistischen Konkurrenzkampf, die sensationellen Puffs; in solchen Künsten der Bourgeoisie finden wir leicht unseren Meister. Das wird in Zukunft nicht anders sein, wie es in der Vergangenheit war, allein die hingebende Treue, womit die Neue Zeit die Sache des Proletariats immer verfochten hat, wird auch die alte bleiben, und wir harren getrost des Tages, der uns bezeugen wird, dass unsere Arbeit nicht nur ehrlich, sondern auch erfolgreich war.

So grüßen wir an diesem Geburtstage unseres Blattes alle alten Freunde, wo immer sie auf dem weiten Erdenrund zerstreut sind, mit dem Lieblingswort Lassalles: Trotz alledem und alledem!

* * *

Anmerkung

1. Mehring verteidigt hier den Marxismus nur als wissenschaftliche Methode, nicht als wissenschaftliche Weltanschauung. Unrichtig ist auch die völlige Relativierung der Ergebnisse marxistischer Forschung. Dass der Marxismus sich weiterentwickelt und vervollkommnet, bedeutet natürlich nicht, dass Marx und Engels nicht bereits viele auch in Zukunft nicht zu widerlegende Wahrheiten entdeckt hätten. Auch hier setzt Mehring, seiner unrichtigen Einschätzung der historischen Rolle Lassalles entsprechend, diesen einfach mit Marx und Engels gleich, obwohl Lassalle Anhänger der idealistischen Geschichts- und Staatsauffassung Hegels war.


Zuletzt aktualisiert am 11. Juni 2024