Franz Mehring

 

Fünf aus Hunderten

(25. September 1901)


Die Neue Zeit, 19. Jg. 1900/01, Zweiter Band, S. 801–804.
Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 417–421.
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In Dresden sind fünf Handelsredakteure bürgerlicher Blätter auf einer Korruption ertappt worden, die ihnen in der bürgerlichen Welt das Genick gebrochen hat. Sie sind von ihren Verlegern entlassen worden, womit nicht gesagt ist, dass sie morgen nicht wieder von ihnen oder anderen Verlegern angenommen werden; genug aber, der „Skandal“ ist da, und sozialdemokratische Blätter finden es sehr bezeichnend, dass die bürgerliche Presse, der man sonst gerade keine Abneigung gegen Skandal nachsagen kann, den Presskrach in Dresden entweder totschweigt oder höchstens in einem versteckten Winkel registriert.

Bezeichnend ist diese Praxis nun gewiss auch in hohem Grade, aber wie uns scheinen will, mehr in lobendem, als in tadelndem Sinne. Sollen denn die bürgerlichen Blätter die sittlich entrüsteten Tugendprediger über die fünf räudigen Schafe spielen? Das wäre doch wohl allzu viel der Heuchelei. Oder sollen sie die Ehrlichkeit so weit treiben zu sagen: Nun ja, was ist denn groß darüber zu reden, wenn fünf aus Hunderten einmal hängen bleiben? Dies ehrliche Selbstbekenntnis zu beanspruchen, hieße am Ende doch zu viel verlangen. So ist es kein ganz übles Kompromiss, wenn die bürgerlichen Blätter den Mund halten oder nur trocken registrieren, was eine unvermeidliche Begleiterscheinung der kapitalistischen Entwicklung ist.

Noch geringerer Anlass als zur Beschwerde darüber, dass sich die Masse der bürgerlichen Blätter eine halb ehrliche Resignation einer ganz unehrlichen Heuchelei vorzieht, liegt zur Bekränzung der bürgerlichen Helden vor, die in dem Dresdener Falle die fünf Schacher ans Kreuz geschlagen haben. Die Tete dabei hat ein Organ der Firma Ullstein-Scherl, die als Vorkämpferin gegen Presskorruption anzuerkennen immerhin einiges Bauchgrimmen verursachen kann. Wir möchten keinem Kuli dieser Firma raten, seinen durch ihr glorreiches Vorbild erweckten Tatenmut an kapitalistischen Korruptionserscheinungen zu erproben, deren Verletzung den Geschäftsinteressen der Firma Ullstein-Scherl in die Quere kommen könnte. Er würde noch viel unentrinnbarer ans Kreuz geschlagen werden als die Dresdener Übeltäter, die heute in der Versenkung verschwinden, um vermutlich morgen eine Strecke weiter ins Land hinein wieder aufzutauchen.

Es versteht sich, dass auch die Firma Ullstein-Scherl nur der Typ für jede kapitalistische Zeitungsfirma ist. Keine von ihnen darf auch nur im Traume daran denken, der bürgerlichen Korruption ernsthaft ins Fleisch zu schneiden, und deshalb sind die Blätter, die ein reserviertes Schweigen über den Dresdener Presskrach beobachten, immerhin ehrlicher und konsequenter als die Fanfarenbläser der Berliner Morgenpost, die sich mit der Enthüllung der Korruption im Nachbarhaus so gewaltig brüsten. Wollte man ihnen sagen: Wozu der Lärm? Seid ihr denn etwas Besseres als die von euch Gebrandmarkten? so würden sie vermutlich einen gewaltigen Lärm erheben und auf ihre, wie ihr Vorbild Lasker einmal sagte, „anatomische Unschuld“ pochen. Wir nehmen ohne weiteres an, dass sie dazu alles Recht haben, aber trotzdem, oder auch ebendeshalb: Nichts ist geeigneter, eine gemeingefährliche Konfusion anzurichten, als wenn die persönlich unbescholtenen Träger des kapitalistischen Systems anfangen, sich als strenge Richter über ihre schuldigen Klassengenossen auf zutun; Lasker hat die öffentliche Moral durch seine berüchtigte sittliche Entrüstung viel mehr korrumpiert als der Geheime Rat Wagener mit seinen paar kleinen Gründungen.

Nun gar die fünf armen Teufel in Dresden! Welcher wirkliche Kenner des Kapitalismus hätte denn auch nur einen Pflaumenkern auf ihre „anatomische Unschuld“ gewettet? Sind denn die Aussagen ganz vergessen, die erst vor wenigen Jahren die Chefs der großen Bankhäuser vor der Börsenenquetekommission gemacht haben, worin die Feilheit der Börsenredakteure als eine ganz selbstverständliche, ja für das Gedeihen der kapitalistischen Gesellschaft schlechthin notwendige Sache dargestellt wurde? Glaubt man denn, das neunzehnte Jahrhundert habe diese schmutzigen Dinge mit ins Grab genommen und das zwanzigste Jahrhundert begönne seine Laufbahn so rein wie ein Wickelkind unter dem Badeschwamme? Bräche der Krach nicht in seiner ganzen Scheußlichkeit herein und wäre nicht seine notwendige Folge, dass die gleißende Decke von den Sümpfen der Korruption verschwände, die sich unter der kapitalistischen Gesellschaft hinziehen, so könnte man fast auf den Verdacht geraten, dass besonders pfiffige Anwälte des Kapitalismus den Dresdener Pressskandal inszeniert hätten, um die drohende Aufmerksamkeit abzuleiten, die sich auf die ganze kapitalistische Wirtschaft zu lenken beginnt.

Man bilde sich doch nicht ein, dass die Dresdener Presssünder um ihrer Sünden willen geopfert worden sind! Sie sind vielmehr geopfert worden; weil es dem kapitalistischen Klüngel für profitabler erschien, sie zu opfern, als sie zu halten. Vor einer Reihe von Jahren wurde in einer anderen deutschen Stadt genau dieselbe Pressbeteiligung aufgedeckt wie jetzt in Dresden, nur in noch weit umfangreicherer Weise. Die kleinen Handelsredakteure wurden sofort genauso geopfert wie jetzt in Dresden, aber neben ihnen war noch ein millionenschwerer Zeitungsbesitzer kompromittiert in genau derselben Art, auf genau dasselbe aktenmäßige Material hin, ohne dass ihm die sittliche Entrüstung der Bourgeoisie auch nur ein Haar gekrümmt hätte. Es fand sich sogar ein deutsches Gericht, das es für eine „Verleumdung“ erklärte, die Pressbeteiligung eines so potenten Mannes moralisch unerlaubt zu finden, und es kostete Mühe genug, das korrupte Urteil wenigstens in zweiter Instanz umzustürzen. Sonst aber geschah diesem Pressbeteiligten nicht das Geringste; er blieb Zeitungsbesitzer, Parteiführer und eine kapitalistische Leuchte, vor der die moralischen Henker der Dresdener Schacher ehrerbietig den Hut ziehen.

So ist der Dresdener Fall gewiss lehrreich, nach den verschiedensten Seiten hin lehrreich, aber um alle seine Lehren auszuschöpfen, sollte man sich hüten, ihn mit der biedermännischen Entrüstung des biederen Bürgers zu betrachten. Man leistet dadurch der Korruption, sei es auch wider Willen und Wissen, nur wirksamen Vorschub. Denn alle Empörung über diesen einzelnen, an sich ganz selbstverständlichen Fall, setzt im allgemeinen bei der bürgerlichen Presse ein Maß von Tugend und Unschuld voraus, das sie nicht hat und nach den Lebensbedingungen des Kapitalismus auch nicht haben kann. Damit ist keineswegs gesagt, dass jeder Angehörige der bürgerlichen Presse persönlich ein Halunke sein muss; es ist nichts als ein Pfiff der kapitalistischen Korruption, wenn sie die Frage so zu drehen sucht, als ob man diesem Herrn Hinz oder jenem Herrn Kunz persönlich die Ehre abschneiden wolle, wenn man von der Presskorruption als einer unvermeidlichen Begleiterscheinung der kapitalistischen Gesellschaft spricht. Für die sozialpolitische Auffassung des Klassenkampfes haben die beiden Fragen durchaus nichts miteinander zu tun. Wie hoch der Prozentsatz der ehrlichen Leute zu den Halunken innerhalb der bürgerlichen Presse ist, mag den einfältigen Bürgersmann oder unter Umständen auch den Kriminalrichter interessieren: Das kämpfende Proletariat interessiert nur die Tatsache, dass, solange die kapitalistische Ausbeutung und Unterdrückung währt, die bürgerliche Presse korrumpiert sein muss.

Unter diesem Gesichtspunkt ist es auch von keinem besonderen Interesse, ob sich die Dresdener Schacher kriminalistisch belangen lassen. Selbst wenn es möglich sein sollte, was wir hier, bei der Geringfügigkeit der ganzen Frage, nicht näher untersuchen wollen, so würde ihre Verurteilung nur eine neue Bestätigung der melancholischen Erfahrung sein, dass man die kleinen Diebe hängt, aber die großen Diebe laufen lässt. Man mag sozusagen ehrenhalber und um zu zeigen, dass man in einem gesitteten Staate lebt, Strafbestimmungen gegen die Presskorruption treffen, aber man glaube doch nicht, dass man dadurch der bürgerlichen Presskorruption an den gedunsenen Leib könnte. Die Welt schreitet vor, und mit ihr „verfeinern“ sich die Formen der Gaunerei; es gilt eben auch hier, dass man die kleinen Diebe der feudalen Gesellschaft noch hängen konnte, aber die großen Diebe der kapitalistischen Gesellschaft nicht mehr hängen kann.

Als der Freiherr von Hammerstein vor einigen Jahren wegen der Veruntreuungen prozessiert wurde, die er an den Fonds der Kreuz-Zeitung begangen hatte, verteidigte er sich damit, dass diese Fonds sozusagen herrenlos gewesen seien, dass jedenfalls durch ihre Schmälerung kein Mensch in seinem Eigentum verkürzt worden sei und dass er wenigstens ein offenes Verbrechen begangen habe; hätte er den Börsenteil der Kreuz-Zeitung verkaufen wollen, so hätte er viel mehr heimramschen können, ganz ohne Gefahr, um darnach mit allen Ehren in die Grube zu fahren. In ihrer Art hatte diese Verteidigung Hand und Fuß; sicherlich hätte Herr von Hammerstein auf dem von ihm angedeuteten Wege viel gefahrloser und lukrativer, aber allerdings für seine Mitmenschen viel gemeingefährlicher hüpfen können. Gleichwohl wurde ihm diese unanfechtbare Tatsache nicht als mildernder Umstand angerechnet, und er musste unbarmherzig ins Zuchthaus; wer Teufel hieß ihn auch in der kapitalistischen Gesellschaft noch in feudaler Weise gaunern? Wer so weit hinter seiner Zeit zurückbleibt, muss es sich schon gefallen lassen, dass ihn die Nürnberger hängen, wenn sie ihn haben.

Die Dresdener Sünder haben im kapitalistischen Geiste gegaunert, und so ist ihre Lage von vornherein viel günstiger. Aber selbst wenn sie kriminalrechtlich zu fassen wären, könnte man darüber irgendeine Genugtuung empfinden wie über die Sühne eines verletzten Rechtes? Man würde damit eben nur wieder der kapitalistischen Korruption in die Hände arbeiten, die sich dann blähen würde, als sei unter ihr Recht und Gerechtigkeit so behütet wie das Kind im Mutterschoss. Das Gewebe, worin der Kapitalismus seine Welt gefangen hält, ist derb und dicht; die einzelne Masche hängt unlöslich mit allen seinen Knoten zusammen, in denen sich die Glieder des Vorwitzigen verstricken, der nur an der einzelnen Masche knüpfen will.

Hüten wir uns also, in dies Garn zu laufen! Schlagen wir nicht, wie die entrüsteten Biedermänner, die Hände über den Kopf zusammen über den Dresdener Presskrach, sondern sagen wir mit Fritz Reuter: Dat is so, as dat Ledder is. Die Ankläger sind so viel wert wie die Angeklagten, und die Richter sind nicht mehr wert als die Ankläger und die Angeklagten; der Dresdener Presskrach ist nur ein winziges Teilchen der kapitalistischen Korruption, die nicht eher verschwinden kann und wird, als bis der Kapitalismus mit Stumpf und Stiel ausgerottet ist und alle seine Verteidiger aufs Haupt geschlagen sein werden, gleichviel ob sie die ärgsten Halunken oder die wunderbarsten Tugendbolde sind.


Zuletzt aktualisiert am 11. Juni 2024