Franz Mehring

 

Großfinanz und Pressgewerbe

(10. Januar 1894)


Die Neue Zeit, 12. Jg. 1893/94, Erster Band, S. 481–485.
Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 55–60.
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Der Bericht der Börsen-Enquete-Kommission, der jüngst dem Reichstage zugegangen ist, beschäftigt sich auch mit den Beziehungen zwischen Börse und Presse. Die bürgerlichen Blätter als zunächst oder vielmehr als allein Beteiligte schweigen entweder die betreffenden Abschnitte des Berichts tot oder teilen sie ausführlich mit Gebärden des Entsetzens mit, als ob da der Himmel weiß welche neuen und unerhörten Dinge enthüllt seien. Das Schweigen ist wenigstens ein offenes Eingeständnis heimlicher Schuld, das Reden aber nichts als ein Ausfluss von Heuchelei, die im schlimmeren Fall einem abgebrühten Zynismus, im besseren Fall einer polizeiwidrigen Beschränktheit entspringt. Für den ehrlichen und kundigen Beurteiler enthält der Bericht in sehr abgeschwächter und verdünnter Form einfach eine Bestätigung dessen, was seit Jahrzehnten offenkundig war.

Doch ein gewisses Interesse hat er trotz alledem. Der Generalkonsul Russell, Geschäftsinhaber der Diskonto-Gesellschaft, erklärt mit dürren Worten: „Das Pressgewerbe ist an erster Stelle heute ein Gewerbe, ein kaufmännisches Unternehmen für den Unternehmer der Presse.“ Mit ein bisschen anderen Worten haben das 1848 schon Marx und Engels im Kommunistischen Manifest, hat das 1863 schon Lassalle in seiner rheinischen Rede erklärt, alle drei umheult von den Stürmen sittlicher Entrüstung, die namentlich der anständige, gebildete, gemäßigte Liberalismus in besondere Pflege genommen hatte. Die Diskonto-Gesellschaft war von je die Kriegskasse dieses Liberalismus; Hansemann, Mathy, Miquel gehörten zu ihren Leitern. Und der Nachfolger dieser liberalen Gesinnungsleuchten gesteht nun ein, was sie selbst stets als umstürzlerische Irrlehre verdammt haben! Geheuchelt muss dabei freilich immer noch ein bisschen werden, wie wäre der anständige, gebildete, gemäßigte Liberalismus ohne ein dickes Ende Heuchelei überhaupt denkbar! Herr Russell empfängt „nur“ Redakteure „anständiger“ Blätter, um ihnen „Mitteilungen zu machen“. „Anstand“ heißt in diesem Zusammenhange die Fähigkeit, die nackten Geldinteressen der großen Banken unter einer Fülle „gebildeter“ Redensarten zu verheucheln. Unter der Voraussetzung dieses „Anstandes“ findet Herr Russell „nichts Bedenkliches“ daran, wenn die Banken die Subjekte bezahlen, die lobende Artikel über ihre Spekulationsgeschäfte in den bürgerlichen Blättern veröffentlichen. Aber auf diese Ehrlichkeit folgt nun gleich wieder ein tüchtiger Schuss Heuchelei: „Wenn es nämlich“, fügt Herr Russell hinzu, „in den Grenzen einer ehrlichen und ordentlichen Leistung und Gegenleistung stattfindet.“ „Ehrlich und ordentlich“, wie „anständig“ und „gebildet“! Vermutlich hält Herr Russell die von seinem Vorgänger Miquel juristisch eingerenkten Gründungen der Diskonto-Gesellschaft in der Schwindelperiode auch für eine „anständige“ Sache, die in den „Grenzen einer ehrlichen und ordentlichen Leistung und Gegenleistung stattgefunden“ habe.

Herrn Russells Verdienst, das Kind nun doch einmal bei seinem richtigen Namen genannt zu haben, bleibt deshalb unbestritten. Als er im Jahre 1892 von der Börsen-Enquete-Kommission vernommen wurde, war just ein halbes Jahrhundert verflossen, seitdem irgendein Hansemann auf dem sechsten rheinischen Provinziallandtage die Freiheit der Presse forderte, weil das Gewerbe der Presse nicht von der allgemeinen Freiheit der Gewerbe ausgeschlossen werden dürfe. Mit wundervoller Schärfe kritisierte der vierundzwanzigjährige Marx, damals noch ganz Hegelianer, diese bürgerliche Ideologie in der Rheinischen Zeitung. Er schrieb: „Wir haben die Opposition des Bourgeois, nicht des Citoyen,vor uns.“ [1] Zwar findet er die Ansicht relativ richtig. „So originell daher die Betrachtungsweise des Redners auf den ersten Anblick erscheinen mag, so müssen wir ihr doch einen unbedingten Vorzug vor dem haltungslosen, nebelnden und schwebelnden Räsonnement jener deutschen Liberalen zuschreiben, welche die Freiheit zu ehren meinen, wenn sie dieselbe in den Sternenhimmel der Einbildung, statt auf den soliden Boden der Wirklichkeit versetzen. Diesen Räsoneurs der Einbildung, diesen sentimentalen Enthusiasten, die jede Berührung ihres Ideals mit der gemeinen Wirklichkeit als Profanation scheuen, verdanken wir Deutsche zum Teil, dass die Freiheit bis jetzt eine Einbildung und eine Sentimentalität geblieben ist.“ [2] Aber so relativ richtig seine Ansicht sei, so falsch sei sie doch. „Der Schriftsteller muss allerdings erwerben, um existieren und schreiben zu können, aber er muss keineswegs existieren und schreiben, um zu erwerben … Die erste Freiheit der Presse besteht darin, kein Gewerbe zu sein.“ [3] Aus einer fünfzigjährigen Geschichte der bürgerlichen Presse lassen sich die Ursachen ihres Verfalls nicht epigrammatischer zusammenfassen, als sie Marx schon vor fünfzig Jahren vorausgesagt hat. Für die Russells der vierziger Jahre war die Presse ein Gewerbe, um die Freiheit der Presse zu fordern; für die Hansemanns der neunziger Jahre ist sie ein Gewerbe, um die Ausbeutung des Volks durch gut bezahlte Inserate und Reklamen zu fördern. Die bürgerliche Pressfreiheit hat sich selbst ins Absurde geführt.

Ähnlich wie Herr Russell ließen sich der Kammergerichtsrat Keyssner und der Justizrat Winterfeldt als Sachverständige vor der Börsen-Enquete-Kommission aus. Wir gehen darüber hinweg und verweilen lieber noch etwas länger bei den Zeugen, die das bürgerliche Pressgewerbe selbst gestellt hatte. Mit einem gewissen Humor hatte die Kommission aus der wimmelnden Schar der Börsenliteraten einen christlich-germanischen Müller und einen jüdisch-demokratischen zwar nicht Cohn, aber doch Cohnstädt herausgegriffen. Herr Müller ist Handelsredakteur der Kreuz-Zeitung, Herr Cohnstädt bekleidet das gleiche Amt bei der Frankfurter Zeitung. Über Herrn Cohnstädt ist nicht gar viel zu sagen. Er war ganz „Anstand“, Mischung von Miquel und Sonnemann, ein Erzengel Gabriel, vor dessen schneeweiß leuchtendem Gewande alle Versucher entsetzt zurückprallen, und er wusste von gar nichts. Nicht einmal etwas davon, dass sein Vorgänger Bernhard Doktor sogar nach dem Urteile eines Gerichtshofes, der die Pressbeteiligungen von Zeitungsunternehmen für eine ehrbare Sache hielt, ein tausendfach bestochenes Subjekt war. Höchstens davon, dass „untergeordnete Organe“ von den Emissionshäusern bestochen würden, hatte Herr Cohnstädt läuten hören. Er meinte damit die armen Teufel, die, wie Kollege Friedenstein vom „Unabhängigen“, der blinden Frau Justitia zufällig unter die Finger geraten sind.

Wie es die reichen Teufel machen, um dieser Gefahr zu entgehen, das schilderte sehr drastisch und auch richtig Herr Müller von der Kreuz-Zeitung. Er entwarf ein anschauliches Bild von dem ganzen System der Bestechungen, womit die Börse, wie Herr Müller sagte, „weitaus die Mehrzahl aller von einem wohlhabenden Publikum gelesenen Zeitungen“ eingewickelt hat. Er folgerte richtig, dass Redakteure, die regelmäßige Gratifikationen, jährlich mehrere tausend Mark, von jeder großen Bank oder doch den meisten bezögen, über diese Institute und Firmen immer nur mit der Devotion eines Angestellten schreiben könnten und tatsächlich auch schrieben. Dennoch hat die Aussage des Herrn Müller nicht entfernt die Sache erschöpft. Wir glauben gern an seine anatomische Unschuld, aber ein Mann prahlt damit sowenig, wie eine Frau mit ihrer Keuschheit. Herr Müller sagte aus, dass er die Sache einmal in der Kreuz-Zeitung an die große Glocke gehängt habe, ohne dass irgendein Echo in anderen Zeitungen entstanden wäre. Soweit es auf die sozialdemokratische Tagespresse ankommt, hat sie mit Recht schon gegen diese irrtümliche Behauptung protestiert. Sie gerade forderte Herrn Müller auf, mit greifbaren Einzelheiten herauszukommen, als er vor etwa anderthalb Jahren die Bestechung der Berliner Presse durch die Diskonto-Gesellschaft im Allgemeinen behauptete. Herr Müller erklärte damals, er habe nur einen Übelstand geißeln, aber keine Personen verletzen wollen. Das war aber vom christlich-germanischen Standpunkt aus sehr inkonsequent. Als Jesus mit den Wechslern von Jerusalem etwas ins Reine zu bringen hatte, machte er nicht allgemeine Redensarten über eine dunkle Sache, sondern stieß den Wechslern die Tische um und trieb ihre Personen zum Tempel hinaus.

Jedoch ist der christlich-germanische Standpunkt überhaupt nicht geeignet, das Pressgewerbe in der kapitalistischen Gesellschaft richtig zu beurteilen. Niemand kann einen Boden, auf dem er selber steht, aus den Angeln heben. Der christlich-germanische Standpunkt gehört ebenso zur bürgerlichen Gesellschaft wie der jüdisch-demokratische. Mögen ihre inneren Fehden noch so gehässig sein: Die gemeinsame Nährmutter schützen beide mit gleichem Eifer, sobald sie gefährdet wird. Je nach den historischen Umständen mögen die einen reinlicher, die anderen unreinlicher erscheinen; im Ganzen und großen wird sich da wohl ein ziemliches Gleichgewicht herstellen. Die Germania und die Kreuz-Zeitung halten sich rein vom Börsenschmutze, aber die konservativen und ultramontanen Organe in Frankreich und Österreich haben um so tiefer darin gewatet. Und wenn Herr Müller reine Hände hat, so gibt es auch in der liberalen und demokratischen Presse Leute mit reinen Händen. In der bürgerlichen Gesellschaft hat keiner besonderen Anlass zum Pharisäertum über den anderen.

Herr Müller ist ein zu guter Sachkenner, um nicht wenigstens eine Ahnung von diesem Zusammenhange zu haben. Er findet einerseits, dass die Großfinanz das Pressgewerbe notwendig brauche, um ihre einzelnen Operationen mit Erfolg durchzuführen, und er findet andererseits, dass die Tintenkulis des Pressgewerbes zu schlecht entlohnt würden, um nicht gar leicht den Bestechungen der Banken zu unterliegen. Nun gut, aber wie soll dieser Zustand geändert werden, da Großfinanz und Pressgewerbe untrennbar zur kapitalistischen Gesellschaft gehören, deren Vorkämpfer Herr Müller geradeso gut ist wie Herr Russell oder Herr Cohnstädt oder der erste beste Börsenwolf? Soll man der Großfinanz Moral predigen, damit sie auf ein notwendiges Mittel zum Gelingen ihrer Operationen verzichte? Mit derselben Wirkung könnte man dem Wolfe vorhalten, dass es unmoralisch sei, die Schafe zu fressen. Oder soll man an die Ehrenhaftigkeit des Pressgewerbes appellieren, dass es seine guten Dienste nicht leiste, wo sie gut bezahlt werden? Aber wozu wäre es dann, wie Herr Russell so schön sagt, ein kaufmännisches Unternehmen? Die schlechte Bezahlung der Tintenkulis ist eine sekundäre Frage und weit eher Wirkung als Ursache. Um eine „ehrliche und ordentliche Leistung“ zu erhalten, sieht die Großfinanz auf eine „ehrliche und ordentliche Gegenleistung“, und das Pressgewerbe sieht „nichts Bedenkliches“ darin, den Lohn des Kulis in demselben Umfange zu drücken, in welchem er Spesen von der Großfinanz erhält oder erhalten kann. Wobei denn freilich noch für Großfinanz und Pressgewerbe der gemeinsame Vorteil abfallen mag, dass solch armes Kuligewissen in dieser Zwickmühle um so eher zermalmt wird.

Deshalb: So inkonsequent es vom christlich-germanischen Standpunkte aus ist, sich um die Personenfrage herumzudrücken, so inkonsequent wäre es vom sozialistischen Standpunkte, die Schuld der bürgerlichen Presskorruption in den Personen zu suchen. Gesetzt den Fall, durch irgendeine geheimnisvolle Macht würden augenblicklich alle Schuldigen beseitigt und ihre Stellen durch lauter Persönlichkeiten von christlich-germanischer Gesinnung besetzt, so würden auf dem Boden der kapitalistischen Gesellschaft binnen kürzester Frist dieselben Zustände bestehen wie heute. Mit Angriffen auf Personen wird nichts geholfen, ja nicht einmal etwas ausgerichtet, es sei denn, dass man die grundsätzliche Nichtswürdigkeit durch einzelne Beispiele deutlich machen will. Insoweit hat sich die sozialistische Presse niemals nehmen lassen und wird sich auch niemals nehmen lassen, bei passender Gelegenheit die Katze eine Katz’ und Rolin einen Schelm zu nennen. Aber mit dem Versuche, das Übel durch die Beseitigung der einzelnen Schuldigen zu beseitigen, rennt man sich stets nur den Kopf an der Mauer ein. Glagau und Perrot starben im Elend, während die von ihnen mit vollstem Recht angeklagten Halunken mit allen Ehren in die Grube fuhren oder heute noch an der Spitze der kapitalistischen Gesellschaft glänzen. Und wenn Herr Müller gewagt hätte, seinen inkonsequenten Standpunkt wenigstens konsequent zu vertreten, so würde er bald das Schicksal von Glagau und Perrot erfahren haben. Namentlich wenn er die Sache einigermaßen im Großen angefasst hätte. „Untergeordnete Organe“, wie Herr Cohnstädt sagt, können wohl einmal in der kapitalistischen Gesellschaft schuldig befunden werden; man opfert sie unter Umständen sogar nicht ungern, weil dadurch der Glanz der „anständigen Organe“ umso heller strahlt. Aber sobald irgendein mächtiges Tier in Großfinanz oder Pressgewerbe angegriffen wird, steht die kapitalistische Gesellschaft alle für einen und einer für alle. Wie das gemacht wird, hat man in den letzten Jahrzehnten ja oft genug erlebt. Erst ein fürchterliches Lamento über „Skandalsucht“, wobei gerade die persönlich unbescholtenen Kulis des Pressgewerbes die schmetterndsten Trompeten blasen müssen; dann die famosen „Ehrengerichte“, wo ein hoher Gerichtshof der Mitschuldigen jeden Schuldigen für einen tadellosen Ehrenmann erklärt; im günstigsten, für den Ankläger günstigsten Falle eine Verhandlung vor den bürgerlichen Gerichten, bei der bebrillte Aktenmenschen alsbald in einen toten Winkel des großkapitalistischen Labyrinths zu geraten und in ihrer juristischen Verlegenheit sich durch ein moralisches Kauderwelsch über die „professionsmäßige Verleumdung“ der „angesehensten Männer“ zu helfen pflegen. In diesen althergebrachten Lauf der Dinge will die Börsen-Enquete-Kommission nun noch eine harmlose Zwischenstation schieben; einen Börsendisziplinargerichtshof, der unter anderem ahnden soll „die Gewährung und Annahme von Geschenken in der Absicht, Äußerungen in der Presse zugunsten oder zum Nachteil gewisser Unternehmungen herbeizuführen oder zu unterdrücken“. Großfinanz und Pressgewerbe müssten viel dümmer sein, als wir sie taxieren, wenn sie sich über diese drakonische Reform nicht sofort mit einem lustigen Augenzwinkern einigen sollten.

Beide stehen und fallen mit der kapitalistischen Gesellschaft. Erst die sozialistische Gesellschaft entzieht ihnen den Boden. Deshalb haben auch die Organe der Arbeiterklasse von Anbeginn die erste Freiheit der Presse darin gesehen, kein Gewerbe zu sein.

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Anmerkungen

1. Karl Marx: Die Verhandlungen des 6. rheinischen Landtags. Von einem Rheinländer. In: Marx/Engels: Werke, Bd. 1, S. 65.

2. Ebenda, S. 68.

3. Ebenda, S. 70 u. 71.


Zuletzt aktualisiert am 11. Juni 2024