Franz Mehring

 

Über Geschäfts- und Prinzipblätter

(30. November 1892)


Die Neue Zeit, 11. Jg. 1892/93, Erster Band, S. 329–334.
Nach Gesammelte Schriften, Band 14, S. 16–23.
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Ihr Wochenchronist muss ausnahmsweise einmal um die Erlaubnis bitten, mit einer persönlichen Bemerkung beginnen zu dürfen. In der Frankfurter Zeitung vom 24. November findet sich eine Kritik des sozialdemokratischen Parteitags, die im allgemeinen noch einmal wiederholt, was in nationalliberalen Blättchen schon einige Tage früher gesagt worden war, aber im Besondern also anhebt:

„Als der ruhende Pol in der Erscheinungen Flucht, nicht mehr und nicht weniger, war im vorletzten Heft des ‚wissenschaftlichen‘ Organs der deutschen Sozialdemokratie der Parteitag der Sozialdemokratischen Partei in einem hochtrabenden Artikel von einem ‚Genossen‚ bezeichnet worden, der den Mund noch weiter aufzureißen pflegt, als dies im allgemeinen bei den Sozialdemokraten der Partei Brauch ist, der in jeder Nummer des ‚wissenschaftlichen‘ Organs die ganze kapitalistische Gesellschaft mit Haut und Haaren verspeist, und, wenn ihm einmal unglücklicherweise der eigene Schimpfwörtervorrat gegen die erbärmliche Bourgeois-Demokratie ausgeht, vorurteilsfrei genug ist, um bei der in diesem Artikel allerdings reich assortierten publizistischen Vertreterin und Freundin der rheinisch-westfälischen Schlotbarone eine Anleihe zu machen.“

Es folgen dann noch folgende Lieblichkeiten: Bourgeoisvertilger, Bramarbas, leere Prahlerei und hochmütige Aufgeblasenheit, mit Blut statt mit Tinte schreiben, Berliner Schwadroneur des „wissenschaftlichen“ Organs in Stuttgart, Kübel voll klobiger Liebenswürdigkeiten und so weiter.

Die persönliche Bemerkung Ihres „Berliner Schwadroneurs“ ginge nun dahin, dass es ihm bitter leid ist, dies verheerende Gewitter einer zornmütigen Mannesseele auf die Neue Zeit gelenkt zu haben. Sie ist wirklich ganz unschuldig, und Ihr „Bramarbas“ hat das ganze Unheil angerichtet, zu einer Zeit, als er noch in gar keiner publizistischen Verbindung mit Ihnen stand. Im Juni v. Js. gab er ein Schriftchen heraus, worin einige Urkunden und gerichtliche Urteile enthalten waren, die ganz und gar nicht mit romantischem Blut, sondern mit dauerhafter Kanzleitinte geschrieben sind und über die „den Mund noch weiter aufzureißen“ der Frankfurterin dann ja freilich wohl als der Verbrechen unverzeihlichstes erscheinen muss. Lange hat sie den nagenden Grimm in ihrer untadeligen Brust gebändigt, aber nachdem einiges Gras über die böse Geschichte gewachsen ist, möchte sie gern – und wer wollte es ihr verdenken! – ihre Revanche nehmen. Leser der Neuen Zeit, die den zornigen Ausbrüchen der Frankfurterin die freilich kaum verdiente Ehre einer genaueren Prüfung erweisen wollen, seien auf die erwähnten Urkunden verwiesen. [A] Sonst kein Wort weiter über die persönliche Seite der Sache; dass ein kochender und seit anderthalb Jahren versetzter Grimm, wenn er dann endlich den Zapfen aus dem Spundloche stößt, sich nur in den feinen und gewählten Formen der Frankfurter Zeitung entladen kann, versteht sich am Rande.

Ernsthaften Leuten, die wirklich lesen können und wollen, braucht nicht erst gesagt zu werden, dass die an dieser Stelle dem sozialdemokratischen Parteitage gewidmeten Begrüßungsworte weit mehr aus einer entsagenden als aus einer prahlenden Stimmung heraus geschrieben waren. Der ganze Gedankengang stellte den „nüchternen“ Verlauf der proletarischen dem „glänzenden“ Verlauf der bürgerlichen Revolution entgegen; trotzdem oder vielmehr ebendeshalb war nicht diese, sondern ist erst jene „der ruhende Pol in der Erscheinungen Flucht“. Wir wandten nur in gewiss sehr unzulänglicher Weise einen alten Gedanken von Marx auf die gegenwärtige politische Lage an. Im Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte heißt es:

„Bürgerliche Revolutionen, wie die des achtzehnten Jahrhunderts, stürmen rascher von Erfolg zu Erfolg, ihre dramatischen Effekte überbieten sich, Menschen und Dinge scheinen in Feuerbrillanten gefasst, die Ekstase ist der Geist jedes Tages; aber sie sind kurzlebig, bald haben sie ihren Höhepunkt erreicht, und ein langer Katzenjammer erfasst die Gesellschaft, ehe sie die Resultate ihrer Drang- und Sturmperiode nüchtern sich aneignen lernt. Proletarische Revolutionen dagegen, wie die des neunzehnten Jahrhunderts, kritisieren beständig sich selbst, unterbrechen sich fortwährend in ihrem eignen Lauf, kommen auf das scheinbar Vollbrachte zurück, um es wieder von neuem anzufangen, verhöhnen grausam-gründlich die Halbheiten, Schwächen und Erbärmlichkeiten ihrer ersten Versuche, scheinen ihren Gegner nur niederzuwerfen, damit er neue Kräfte aus der Erde sauge und sich riesenhafter ihnen gegenüber wieder aufrichte, schrecken stets von neuem zurück vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eignen Zwecke, bis die Situation geschaffen ist, die jede Umkehr unmöglich macht, und die Verhältnisse selbst rufen: Hic Rhodus, hic salta! Hier ist die Rose, hier tanze!“ [1]

Für nationalliberale Winkelblättchen und die Frankfurter Zeitung mag das zu hoch sein, aber wenn die „Nation“, das geistig bedeutendste und die Sozialdemokratie immer in anständigen Formen befehdende Organ der kapitalistischen Richtung, von der „Sphäre des kleinlichsten Kleinkrams“ spricht, worin sich der sozialdemokratische Parteitag bewegt habe, so möchten wir ihr die Worte von Marx zu reiflichem Nachdenken empfehlen.

Nicht mit einer Silbe ist an dieser Stelle der Parteitag als ein Brillantfeuerwerk angekündigt worden. Er braucht glücklicherweise nicht mit dem alten Anselm Rothschild und der Frankfurterin zu mauscheln: „Wir haben nichts zu prangen“, aber ebenso oder noch glücklichererweise braucht er auch nichts zu verbergen. Er kann, was der Kongress keiner andern Partei auch nur zu wollen wagen dürfte, seine „grausam-gründliche“ Kritik, von der Marx spricht, an der eigenen Partei üben. Dass eine solche Kritik mitunter dann noch grausamer als gründlich erscheint, oder auch wohl ist, das liegt in der Natur der Dinge. König Friedrich rief den Höflingen, die den alten, an seiner Tafel eingeschlafenen Zieten wecken wollten, unwillig zu: „Lasst ihn schlafen, er hat oft genug für uns gewacht“, und er schrieb demselben General: „Wenn man so lange als Ihr mit Ruhm gedienet hat, alsdann kann man sich ohne alles Bedenken der Vorrechte eines Veterans bei den Römern bedienen.“ Das sieht gewiss viel rührender und auch wohl menschlich schöner aus, als wenn die sozialdemokratischen Delegierten mit peinlicher Strenge untersuchen, ob Liebknecht, der bald ein halbes Jahrhundert „mit Ruhm gedienet“ hat, im „Vorwärts“ einmal geschlafen habe. Aber es sieht auch nur so aus. In Wirklichkeit liegen die Dinge ein wenig anders. Der Despotismus, der alle schindet, mag dem einzelnen leicht ein gütiges Wort gönnen; die Demokratie, die allen gerecht werden will, muss deshalb unter Umständen gegen den einzelnen grausam, hart, selbst ungerecht sein können. Manchem braven Manne hat manches, was gegen Liebknecht auf dem Parteitage gesprochen wurde, in der Seele weh getan, aber der alte, prächtige, immer jugendfrische Veteran der deutschen Arbeiterbewegung wäre der erste, den höhnenden Feinden und den teilnehmenden Freunden das stolze Wort zuzurufen, das er vor zwanzig Jahren den bürgerlichen Geschworenen von Leipzig ins Gesicht warf: „Die Sozialdemokratie steht über Ihnen, wie sie über mir steht“, und vergessen wir doch über dem Krimskrams nicht: Im Herzen der Arbeiterklasse besitzt Liebknecht längst ein Denkmal, um das ihn alle Könige der Welt beneiden können.

Liebknecht gegen die Anzapfungen der Frankfurter Zeitung verteidigen, hieße Liebknecht beleidigen. Aber mit einem Eidhelfer, den sie heranschleppt, möchten wir noch ein Wörtlein im Vertrauen wechseln. Es ist ein kundiger Mann des Sozialpolitischen Zentralblattes, der den feinen und durch das Lob der Frankfurterin gebührend gekennzeichneten Geschmack hatte, am Vorabend des sozialdemokratischen Parteitags eine Fülle weiser Lehren über die Partei auszuschütten und ihr vorzuhalten, dass sie ihre Sache so töricht anfasse, wie er selbst sie nimmermehr angefasst haben würde. Vor allem verlangte er mit dem zitternden Unwillen eines rechtschaffenen, aber tief gekränkten Gemüts, dass der Vorwärts ein bedeutendes, den großen Bourgeoisorganen gleichwertiges Organ werden solle, also, wenn wir den Tiefsinn recht verstehen, ein Blatt nach Art der Frankfurter Zeitung oder der Neuen Freien Presse. Da möchten wir nun aber diesem werten Gönner, ganz unter uns, das Geständnis ablegen, dass er, wenn einem der unweisen Ratschläge, die der Sozialdemokratischen Partei seit einem Vierteljahrhundert gemacht worden sind, der Preis zuerkannt werden soll, unmittelbar vor einer hohen Auszeichnung steht. Glücklicherweise kann der Vorwärts weder, noch will er ein „bedeutendes“ und „gleichwertiges“ Organ sein, aber gesetzt, dass er es könnte und wollte, so würde er einen beispiellosen Verrat an der Sache der Arbeiter begehen.

Es ist nichts weniger als ein Zufall, dass gerade die beiden einzigen, wirklich politischen Organe der hiesigen Tagespresse, d. h. die beiden einzigen Organe, die wirkliche Macht hinter sich haben, die Kreuz-Zeitung und der Vorwärts, vom Standpunkt der journalistischen Mache, vom Standpunkt der Mosse und Sonnemann und sonstiger kundiger Männer aus, mehr oder minder viel zu wünschen übriglassen. Die Kreuz-Zeitung hat den Kern der herrschenden, der Vorwärts den Kern der beherrschten Klasse hinter sich; in ihren Anschauungen und Forderungen die schroffsten Gegensätze, gleichen sie sich in diesem einen Punkte, dass sie keine Geschäfts-, sondern Prinzipblätter sind. Aus der Klasse, welche sie vertreten, sind sie gut unterrichtet, die Kreuz-Zeitung aus der feudal-militärischen, der Vorwärts aus der proletarischen Welt, aber über diese Grenzen hinaus ist ihr Wissen eitel Stückwerk. Sie stehen nicht mit dem lieben Herrgott auf Du und Du; sie hören auch das Gras nicht wachsen. In alledem sind ihnen die „bedeutenden“ und „gleichwertigen“ Organe der Bourgeoisie, der Berliner Börsenkurier und die Frankfurter Zeitung und das Berliner Tageblatt, unendlich überlegen. Die wissen alles und noch einiges, dank ihrer „intimen Beziehungen“ und „weit reichenden Verbindungen“ und „zuverlässigen Quellen“ und „sicheren Informationen“ und „beglaubigten Nachrichten“. Aber alle diese schönen Dinge sind in der kapitalistischen Welt nicht umsonst, ja nicht einmal für sehr viel Geld zu haben; es ist die Preisgabe des Prinzips, womit sie bezahlt werden müssen und bezahlt werden. Und dieser Preis ist für wirkliche Prinzipblätter denn freilich allemal zu hoch.

Die Frankfurter Zeitung ist ein demokratisches Blatt, und doch feierte sie den ersten Verwalter des Sozialistengesetzes als einen „Edelmann im besten Sinne des Wortes“. Natürlich, denn sonst würde ihr Berliner Nachrichtenhändler vergebens an die Türen gewisser Ministerialbüros pochen. Die Frankfurter Zeitung ist ein demokratisches Blatt, und doch fließt sie bei jeder Kaiserreise von dem „alten Wetterglück der Hohenzollern“, der „behaglichen Laune“, die nach den Berichten eines zuverlässigen Kellners die hohen Herrschaften bei Tafel gezeigt haben sollen, und der sonstigen byzantinischen Litanei über. Natürlich, denn sonst würde das Hofmarschallamt dem „eigenen Korrespondenten“ das Plätzchen im Lakaienwagen sperren. Die Frankfurter Zeitung ist ein demokratisches Blatt, und doch gab sie der demokratischen Volks-Zeitung am Tage nach deren polizeilicher Unterdrückung den Esels-Fußtritt. Natürlich, denn unter dem Minister Herrfurth hatten die Nachrichtenhändler der „bedeutenden“ und „gleichwertigen“ Bourgeoispresse ihre fettesten Tage. Das sind gleich drei Items, deren wir ebenso gut dreißig oder auch dreihundert anführen könnten. Aber diese drei genügen auch schon zur Beleuchtung unserer Behauptung. Entweder will man „bedeutend“ und „gleichwertig“ sein, und dann darf man vor solchen halsbrecherischen Sprüngen nicht zurückscheuen. Oder man hält noch was auf sein Prinzip, und dann muss man schon mit Fassung das Unglück tragen, „mangelhaft unterrichtet“ zu sein. Das ist nun mal so der Lauf der kapitalistischen Welt, in den wir uns einstweilen gern oder ungern schicken müssen.

Ob der Vorwärts als Prinzipblatt besser sein könnte, als er ist, das ist eine Frage, über die wir uns hier nicht verbreiten wollen. Zwar wären wir dazu immerhin berufener als andere Leute, deren Weisheit umso reichlicher überquillt, je ferner sie sich selbst vom Schuss gehalten haben. Denn wir haben während der fünf letzten Jahre, die der Vorwärts erschien, das damals radikalste Oppositionsblatt der hiesigen Presse [2] in den schlimmsten Tagen der Ära Bismarck und des Sozialistengesetzes geleitet, und wir kennen aus eigener Erfahrung die unendlichen Schwierigkeiten, womit der Vorwärts zu kämpfen hat. Aber ebendeshalb hüten wir uns, ihn anzuklagen oder zu entschuldigen. Nur gegen die Zumutung, dass er um Lorbeeren ringen soll, die von der kapitalistischen Welt allein um die Preisgabe des Prinzips zu haben sind, möchten wir die entschiedenste Verwahrung einlegen. Gerade was die soziale Demokratie zur geschlossensten, kräftigsten, stärksten Partei in Deutschland macht, das macht ihr Zentralorgan mehr oder minder „mangelhaft“. Es ist so ungefähr umgekehrt die Entwicklung der bürgerlichen Demokratie, die ja in der Frankfurter Zeitung das, was wir gern anerkennen, „bedeutendste“ und „gleichwertigste“ Organ der Bourgeoisie besitzt, aber politisch schlechterdings nichts mehr hinter sich hat als ein kleines und auch schon wankendes Häuflein ehrlicher Ideologen im Schwabenlande und im Kanton Badisch. Die bürgerliche Demokratie besaß ehedem als publizistischen Wortführer einen Prinzipmann ersten Ranges; eine so feine, glänzende, tapfere Feder, wie Guido Weiß führte, ist seit den Tagen Börnes und Heines in Deutschland nicht wieder geführt worden. Er hat in wahrhaft tragischer Weise sein Leben daran gesetzt, ein bürgerlich-demokratisches Prinzipblatt zu schaffen, aber entweder scheiterte er, wie bei der Vossischen Zeitung“ und der Frankfurter Zeitung, als nicht „bedeutend“ und „gleichwertig“ genug, oder seine eigenen Blätter, die Reform, die Zukunft, die Wage gingen aus gleichem Grunde ein. Die bürgerliche Demokratie hat leider niemals begriffen, dass man das Geschäft lassen muss, wenn man das Prinzip wahren will. Als Weiß vor einigen Monaten seinen siebenzigsten Geburtstag feierte, verhehlte die Vossische Zeitung nicht nur sorgfältig, dass sie in ihm ihren letzten Redakteur von geistiger Bedeutung gehabt hatte, sondern sie machte ihn gar noch, um die verräterische Spur ganz sicher zu verwischen, zu einem ehemaligen Redakteur des von Böhmert und Gneist herausgegebenen Arbeiterfreundes. Eine Felonie beiläufig, über welche dieselben bürgerlichen Blätter, die jetzt den „Undank“ der Arbeiter gegen Liebknecht nicht genug bejammern können, auch nicht das leiseste Wort des Tadels verloren haben.

An unserem Teile hatten wir das Glück, in Guido Weiß unseren Lehrer in der Publizistik zu finden. Und seit zwanzig Jahren waren wir mehr oder minder an allen Versuchen beteiligt, ein bürgerlich-demokratisches Prinzipblatt zu schaffen. Die Zukunft, die Demokratische Zeitung, die Wage, die Demokratischen Blätter – es war immer dasselbe Elend, dasselbe Hängen und Würgen: Ihr macht eure Sache ja recht gut und schön, aber ihr habt keine „Informationen“, keine „Nachrichten“, keine „Quellen“, und so müssen wir doch zu Blättern gehen, die ja „auch demokratisch“ sind, aber das Nützliche mit dem Guten zu verbinden wissen. Und all dies Elend war noch der lieblichste Sonnenschein gegenüber dem anderen Elend, das über uns kam, als die Gunst der Zeitumstände denn doch noch einmal gestattete, aus der Volks-Zeitung ein bürgerlich-demokratisches Prinzipblatt zu schaffen. Kaum war der Abonnentenstand um ein paar Tausend gewachsen, als das Profit suchende Auge des Kapitals auf das arme Blatt fiel und irgendein Berliner Sonnemann die Aktien aufkaufte, um aus der Volks-Zeitung ein „bedeutendes“ und der Frankfurterin „gleichwertiges“ Organ zu machen. Was die Durchführung eines solchen Programms, die Erlangung von „Informationen“ usw. in der kapitalistischen Welt, an Bitternissen und Demütigungen, an Opfern des Prinzips kostet, das vermag nur der zu beurteilen, der die gräuliche Quälerei einmal am eigenen Leibe empfunden hat. Nun, wir haben nicht das geringste Zugeständnis gemacht, und als die Übermacht des Kapitalismus uns erdrückte, wohlbedacht der Volks-Zeitung den Todesstoß gegeben, an dem sie jetzt hoffnungslos verblutet. Den Hunderten von Lesern aber, die verzweifelt anfragten, wo sie denn nun bleiben sollten, antworteten wir einfach: Vorwärts zum Vorwärts, denn hier seid ihr vor jeder kapitalistischen Verseuchung des Prinzips sicher.

Und desselbigen Weges wird auch in absehbarer Zeit das Häuflein ehrlicher Ideologen fahren, das vorläufig noch den Glauben hat an die Frankfurter Zeitung. Das Blatt ist ein Organ der Börse und des Handels, nichts weiter; dass es nebenbei auch noch Politik treibt, hat es mit allen Börsen- und Handelsorganen gemein. Die berühmte Redaktionskonferenz, die alle Morgen um zehn Uhr die Weltgeschichte auf die „demokratischen“ Gesichtspunkte der Eschenheimer Gasse visiert, ist gerade das, was die von Gnaden des Besitzers gebildeten Arbeiterausschüsse in den Fabriken sind, in welchen Ausschüssen die Frankfurter Zeitung ja auch einmal komischerweise so etwas wie die Lösung der sozialen Frage erblickte. Aber der Handelsredakteur ist selbst nicht einmal diesem Schattenbilde von Kontrolle unterworfen; er steht über der Redaktionskonferenz und nimmt keinen Teil an ihren Beratungen. Und wie dem politischen Redakteur, der seine den Weltlauf weise ordnende Hand einmal in den nachbarlichen Börsenteil überspielen lässt, die Finger zerquetscht werden, das hat seinerzeit Karl Volckhausen im Frankfurter Journal drastisch geschildert. Überhaupt – von Karl Volckhausen und Guido Weiß im Anfang der siebziger bis zu Max Quarck und Kurt Eisner im Anfange der neunziger Jahre ist eine große Anzahl ehrenwerter Publizisten an dieser unholden Ehe zwischen Demokratie und Kapitalismus um die Ecke gegangen. „Der ruhende Pol in der Erscheinungen Flucht“ war einzig und allein – um ein geflügeltes Wort von Karl Marx anzuziehen – Siebengescheit-Stern. Und deshalb ist Siebengescheit-Stern auch gleich so böse, wenn jenes harmlose Zitat, auf das er sich durch manchen Scheffel sauren, im Joche des Kapitalismus vergossenen Schweißes ein Monopolrecht erworben zu haben glaubt, einmal in anderem Zusammenhange gebraucht wird.

Seine genaue und höfliche Kritik des sozialdemokratischen Parteitags traf hier gleichzeitig mit der Nachricht von Ahlwardts Wahlerfolg in einem neumärkischen Wahlkreis [3] ein. Es war ein Zufall, aber ein bezeichnender. Die Frankfurter Börsendemokratie zählt zu den wirksamsten Hebeln des Antisemitismus. Ahlwardt und Siebengescheit-Stern gehören zusammen wie Pol und Gegenpol der kapitalistischen Welt. Man muss sich dadurch nicht täuschen lassen, dass sie sich zunächst die zärtlichsten Höflichkeiten an die Köpfe werfen. So war es auch zwischen den Nationalliberalen und Volksparteilern nach 1866; damals schrieb Engels trocken: Sie sind die entgegengesetzten Pole derselben Borniertheit [4], und heute wetteifert die Frankfurter Zeitung mit jedem nationalliberalen Winkelblättchen um die Verunglimpfung der Sozialdemokratie. Ahlwardt und Siebengescheit-Stern werden auch noch einmal in einen freundschaftlichen Wettkampf treten, wer die Arbeiterklasse am ärgsten schmähen kann. Diese Klasse treibt nun einmal alle bürgerlichen Fraktionen und Fraktiönchen auseinander, gegeneinander, ineinander; sie ist in dieser Erscheinungen Flucht immer der ruhende Pol.

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Anmerkung

A. F. Mehring, Kapital und Presse, im siebten Kapitel.

1. Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. In: Ebenda, Bd. 8, S. 118.

2. Gemeint ist die in Berlin erschienene Volks-Zeitung. Organ für jedermann aus dem Volk. Seit 1886 war Mehring Leitartikler und seit 1889 Chef- und verantwortlicher Redakteur des Blattes.

3. Hermann Ahlwardt wurde 1892 in den Reichstag gewählt. Im gleichen Jahr wegen antisemitischer Verleumdungen der Waffenfabrik Löwe zu 5 Jahren Gefängnis verurteilt und aus der Deutschen Reformpartei ausgeschlossen.

4. Siehe Friedrich Engels, Vorbemerkung zum zweiten Abdruck (1870), Der deutsche Bauernkrieg. In: Marx/Engels: Werke, Bd. 16, S. 396.


Zuletzt aktualisiert am 11. Juni 2024