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[Entwürfe einer Antwort auf den Brief von V.I. Sassulitsch] |
Karl Marx u. Friedrich Engels – Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 19, 1962, Berlin, S. 384-406.
Dieser Text wurde mit Dank von der ehemaligen ausgezeichneten Webseite Klassiker des Marxismus-Leninimus entnommen, die seit längerem verschwunden ist. An ihrer Stelle befindet sich jetzt die ebenfalls ausgezeichnete Webseite Stimmen der proletarischen Revolution.
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<384> 1. Bei der Behandlung der Genesis der kapitalistischen Produktion habe ich gesagt, daß ihr „die radikale Trennung des Produzenten von den Produktionsmitteln zugrunde liegt“ (p. 315, col. 1, ed. frcs. „Le Capital“) und: „die Grundlage dieser ganzen Entwicklung ist die Expropriation der Ackerbauern. Sie ist auf radikale Weise erst in England durchgeführt... Aber alle anderen Länder Westeuropas durchlaufen die gleiche Bewegung“ (l.c. col. 2).
Ich habe also die „historische Unvermeidlichkeit“ dieser Bewegung ausdrücklich auf die Länder Westeuropas beschränkt. Und warum? Vergleichen Sie, bitte, das Kapitel XXXII, wo zu lesen ist:
„Der Vernichtungsprozeß, der die Verwandlung der individuellen und zersplitterten Produktionsmittel in gesellschaftlich konzentrierte bewirkt, der das zwerghafte Eigentum vieler zum riesigen Eigentum einiger weniger macht, ... diese qualvolle und furchtbare Expropriation des arbeitenden Volkes – das ist der Ursprung, das ist die Genesis des Kapitals ... Das Privateigentum, das auf persönlicher Arbeit gegründet ist ... wird verdrängt durch das kapitalistische Privateigentum, das auf der Ausbeutung der Arbeit andrer, der Lohnarbeit gegründet ist“ (p. 341, col. 2).[2]
Auf diese Weise erfolgt hier in letzter Instanz die Verwandlung einer Form des Privateigentums in eine andere Form des Privateigentums. Da aber das in den Händen der russischen Bauern befindliche Land niemals ihr Privateigentum gewesen ist, wie läßt sich diese Entwicklung auf sie anwenden?
2. Vom historischen Standpunkt aus gesehen ist das einzige ernsthafte Argument, das zugunsten der unvermeidlichen Auflösung der Gemeinde der russischen Bauern angeführt werden könnte, folgendes: Wenn man sehr weit zurückblickt, findet man überall in Westeuropa das Gemeineigentum eines <385> mehr oder weniger archaischen Typus'; es ist mit dem gesellschaftlichen Fortschritt überall verschwunden. Warum sollte es demselben Schicksal allein in Rußland entgehen?
Ich antworte: Weil in Rußland, dank eines einzigartigen Zusammentreffens von Umständen, die noch in nationalem Maßstab vorhandene Dorfgemeinde sich nach und nach von ihren primitiven Wesenszügen befreien und sich unmittelbar als Element der kollektiven Produktion in nationalem Maßstab entwickeln kann. Gerade auf Grund ihrer Gleichzeitigkeit mit der kapitalistischen Produktion kann sie sich deren positive Errungenschaften aneignen, ohne ihre furchtbaren Wechselfälle durchzumachen. Rußland lebt nicht isoliert von der modernen Welt, noch weniger ist es die Beute eines fremden Eroberers wie Ostindien.
Wenn die russischen Verehrer des kapitalistischen Systems die theoretische Möglichkeit einer solchen Evolution verneinten, dann würde ich sie fragen: Ist Rußland wie der Westen gezwungen gewesen, eine lange Inkubationsperiode der Maschinenindustrie durchzumachen, um Maschinen, Dampfschiffe, Eisenbahnen etc. benutzen zu können? Mögen sie mir außerdem erklären, wie sie es zustande gebracht haben, im Handumdrehen den ganzen Tauschmechanismus (Banken, Kreditgesellschaften etc.) bei sich einzuführen, dessen Herausbildung dem Westen Jahrhunderte gekostet hat?
Wenn die Dorfgemeinde im Augenblick der Bauernemanzipation von vornherein in normale Umstände versetzt worden wäre; wenn ferner die ungeheure Staatsschuld, die zum größten Teil auf Kosten und zu Lasten der Bauern abgetragen wird, mit den anderen Riesensummen, die vom Staat (und immer auf Kosten und zu Lasten der Bauern) den „neuen Stützen der Gesellschaft“ gewährt werden, die sich in Kapitalisten verwandelt haben; wenn alle diese Aufwendungen der Weiterentwicklung der Dorfgemeinde gedient hätten, dann würde heute niemand über die „historische Unvermeidlichkeit“ der Vernichtung der Gemeinde grübeln: Alle würden in ihr das Element der Wiedergeburt der russischen Gesellschaft erkennen und ein Element der Überlegenheit über die Länder, die noch vom kapitalistischen Regime versklavt sind.
Ein weiterer für die Erhaltung der russischen Gemeinde (in ihrer Entwicklung) günstiger Umstand ist der, daß sie nicht nur Zeitgenossin der kapitalistischen Produktion ist und auch jene Periode überdauert hat, als sich dieses Gesellschaftssystem noch intakt zeigte, sondern daß sich dieses Gesellschaftssystem heute, in Westeuropa ebensogut wie m den Vereinigten Staaten, im Kampfe befindet gegen die Wissenschaft, gegen die Volks- <386> massen und gegen die Produktivkräfte, die es erzeugt.(1) Mit einem Wort, sie findet den Kapitalismus in einer Krise, die erst mit seiner Abschaffung, mit der Rückkehr der modernen Gesellschaften zum „archaischen“ Typus des Gemeineigentums enden wird, oder, wie ein amerikanischer Autor[3], der keineswegs revolutionärer Tendenzen verdächtig ist und in seinen Arbeiten durch die Regierung in Washington unterstützt wird, es sagt – das neue System, zu dem die moderne Gesellschaft tendiert, „wird eine Wiedergeburt (a revival) des archaischen Gesellschaftstypus in einer höheren Form (in a superior form) sein“. Man darf sich nur nicht allzusehr von dem Wort „archaisch“ erschrecken lassen.
Aber es wäre dann mindestens notwendig, diese Wechselfälle zu kennen. Wir wissen jedoch nichts davon.
Die Geschichte des Verfalls der Urgemeinschaften (man würde einen Fehler begehen, wenn man sie alle über einen Leisten schlagen wollte; ebenso wie in den geologischen Formationen gibt es auch in den historischen Formationen eine ganze Reihe von primären, sekundären, tertiären etc. Typen) ist noch zu schreiben. Bisher hat man dazu nur magere Skizzen geliefert. Aber auf jeden Fall ist die Forschung weit genug vorgeschritten, um zu bestätigen: 1. daß die Lebensfähigkeit der Urgemeinschaften unvergleichlich größer war als die der semitischen, griechischen, römischen etc. Gesellschaften und a fortiori1* als die der modernen kapitalistischen Gesellschaften; 2. daß die Ursachen ihres Verfalls von den ökonomischen Gegebenheiten herrühren, die sie hinderten, eine gewisse Stufe der Entwicklung zu überschreiten, von historischen Milieus herrühren, die mit dem historischen Milieu der russischen Dorfgemeinde von heute keineswegs übereinstimmen.
Beim Lesen der von Bourgeois geschriebenen Geschichten der Urgemeinschaften muß man auf der Hut sein. Sie schrecken nicht einmal vor Fälschungen zurück. Sir Henry Maine z.B., der ein eifriger Mitarbeiter der englischen Regierung bei ihrem Werk der gewaltsamen Zerstörung der indischen Gemeinden war, versichert uns heuchlerisch, daß alle edlen Bemühungen der Regierung, diese Gemeinden zu erhalten, an der spontanen Gewalt der ökonomischen Gesetze gescheitert seien!
<387> Auf die eine oder andere Weise ist diese Gemeinde in den unaufhörlichen äußeren und inneren Kriegen zugrunde gegangen; sie starb wahrscheinlich eines gewaltsamen Todes. Als die germanischen Stämme Italien, Spanien, Gallien etc. eroberten, hat ihre Gemeinde von archaischem Typus nicht mehr existiert. Ihre natürliche Lebensfähigkeit ist jedoch durch zwei Tatsachen erwiesen. Es gibt einige verstreute Exemplare, die alle Wechselfälle des Mittelalters überlebt und sich bis auf unsere Tage erhalten haben, z.B. in meiner Heimat, der Gegend von Trier. Aber am wichtigsten ist, daß sie der Gemeinde, von der sie verdrängt wurde, einer Gemeinde, in der das Ackerland Privateigentum geworden ist, während Wälder, Weiden, Ödland etc. immer noch Gemeineigentum bleibt, ihre charakteristischen Wesenszüge so deutlich aufgeprägt hat, daß Maurer, als er diese Gemeinde sekundärer Formation entdeckte, den archaischen Prototyp rekonstruieren konnte. Dank der diesem Prototyp entlehnten charakteristischen Züge wurde die neue, von den Germanen in allen eroberten Ländern eingeführte Gemeinde während des ganzen Mittelalters zum einzigen Hort der Volksfreiheit und des Volkslebens.
Wenn wir nach der Epoche des Tacitus weder etwas vom Leben der Gemeinde noch von der Art und der Zeit ihres Verschwindens wissen, so kennen wir doch dank der Beschreibung Julius Cäsars wenigstens den Ausgangspunkt dieses Prozesses. Zu seiner Zeit wurde der Boden schon jährlich aufgeteilt, aber unter die Gentes und Stämme der germanischen Stammesverbände und noch nicht unter die einzelnen Mitglieder einer Gemeinde. Die Dorfgemeinde ist also in Germanien aus einem archaischeren Typus hervorgegangen, sie war hier das Produkt einer natürlichen Entwicklung, statt völlig fertig aus Asien eingeführt zu werden. Dort – in Ostindien – begegnen wir ihr auch und immer als der letzten Stufe oder letzten Periode der archaischen Formation.
Um die möglichen Schicksale der Dorfgemeinde von einem rein theoretischen Standpunkt zu beurteilen, d.h. immer unter der Voraussetzung normaler Lebensbedingungen, muß ich jetzt gewisse charakteristische Züge anführen, die die „Ackerbaugemeinde“ von den archaischeren Typen unterscheidet.
Zunächst beruhen alle früheren Urgemeinschaften auf der Blutsverwandtschaft ihrer Mitglieder; indem sie dieses starke, aber enge Band zerreißt, kann die Ackerbaugemeinde sich besser anpassen, ausdehnen und dem Kontakt mit Fremden standhalten.
Dann sind in ihr das Haus und sein Zubehör, der Hof, schon Privateigentum des Ackerbauern, während bereits lange vor dem Aufkommen des <388> Ackerbaus das gemeinsame Haus eine der materiellen Grundlagen der vorangegangenen Gemeinschaften war.
Schließlich wird das Ackerland, obwohl es Gemeineigentum bleibt, periodisch zwischen den Mitgliedern der Ackerbaugemeinde derart aufgeteilt, daß jeder Ackerbauer die ihm zugewiesenen Felder auf eigene Rechnung bewirtschaftet und sich deren Früchte individuell aneignet, während in den archaischeren Gemeinschaften gemeinsam produziert und nur das Produkt aufgeteilt wurde. Dieser primitive Typus der genossenschaftlichen oder kollektiven Produktion war wohlbemerkt das Ergebnis der Schwäche des einzelnen isolierten Individuums und nicht der Vergesellschaftung der Produktionsmittel.
Es ist leicht zu verstehen, daß der der „Ackerbaugemeinde“ innewohnende Dualismus sie mit großer Lebenskraft erfüllen kann, denn einerseits festigen das Gemeineigentum und alle sich daraus ergebenden sozialen Beziehungen ihre Grundlage, während gleichzeitig das private Haus, die parzellenweise Bewirtschaftung des Ackerlandes und die private Aneignung der Früchte eine Entwicklung der Persönlichkeit gestatten, die mit den Bedingungen der Urgemeinschaften unvereinbar war. Aber es ist nicht weniger offensichtlich, daß der gleiche Dualismus mit der Zeit zu einer Quelle der Zersetzung werden kann. Abgesehen von allen Einflüssen eines feindlichen Milieus, wirken schon die graduelle Akkumulation von beweglichem Reichtum, der mit dem Viehreichtum beginnt (und sogar den Reichtum an Leibeigenen zuläßt), die immer bedeutender werdende Rolle, die das bewegliche Element im Ackerbau selber spielt, und eine Menge anderer von dieser Akkumulation untrennbarer Umstände, deren Darlegung mich jedoch zu weit führen würde, als das zersetzende Element der ökonomischen und sozialen Gleichheit, und lassen innerhalb der Gemeinde selbst einen Interessenkonflikt entstehen, der zunächst die Umwandlung des Ackerlandes in Privateigentum nach sich zieht und mit der privaten Aneignung der bereits zu Gemeindeanhängseln des Privateigentums gewordenen Wälder, Weiden, des Brachlandes etc. endet. Deshalb stellt die „Ackerbaugemeinde“ überall den jüngsten Typus der archaischen Gesellschaftsformation dar, und deshalb erscheint in der historischen Entwicklung des alten und des modernen Westeuropa die Periode der Ackerbaugemeinde als Übergangsperiode vom Gemeineigentum zum Privateigentum, als Übergangsperiode von der primären zur sekundären Formation. Aber heißt das, daß unter allen Umständen die Entwicklung der „Ackerbaugemeinde“ diesen Weg nehmen muß? Keineswegs. Ihre Grundform läßt diese Alternative zu: entweder wird das in ihr enthaltene Element des Privateigentums über <389> das kollektive Element, oder dieses über jenes siegen. Alles hängt von dem historischen Milieu ab, in dem sie sich befindet ... diese beiden Lösungen sind a priori möglich, aber für jede von ihnen ist offensichtlich ein völlig anderes historisches Milieu Voraussetzung.
3. Rußland ist das einzige europäische Land, m dem sich die „Ackerbaugemeinde“ im nationalen Maßstabe bis auf den heutigen Tag behauptet hat. Sie ist nicht, wie Ostindien, die Beute eines fremden Eroberers, und sie lebt auch nicht isoliert von der modernen Welt. Einerseits gestattet ihr das Gemeineigentum am Boden, den parzellierten und individualistischen Ackerbau unmittelbar und allmählich in kollektive Bearbeitung umzuwandeln; und die russischen Bauern betreiben dies ja bereits auf den ungeteilten Wiesen. Die physische Beschaffenheit des russischen Bodens lädt zu einer maschinellen Bearbeitung in großem Maßstabe geradezu ein; das Vertrautsein des Bauern mit den Artelbeziehungen erleichtert ihm den Übergang von der Parzellen- zur genossenschaftlichen Arbeit, und schließlich schuldet ihm die russische Gesellschaft, die so lange auf seine Kosten gelebt hat, die notwendigen Vorschüsse für einen solchen Übergang.(2) Andererseits wird es Rußland ermöglicht, durch die Gleichzeitigkeit mit der westlichen Produktion, die den Weltmarkt beherrscht, der Gemeinde alle positiven Errungenschaften, die durch das kapitalistische System geschaffen worden sind, einzuverleiben, ohne durch das Kaudinische Joch[4] gehen zu müssen.
Falls die Wortführer der „neuen Stützen der Gesellschaft“ die theoretische Möglichkeit der Evolution der heutigen Dorfgemeinde verneinen würden, dann könnte man sie fragen, ob Rußland wie der Westen gezwungen gewesen sei, eine lange Inkubationsperiode der Maschinenindustrie durchzumachen, um zu Maschinen, Dampfschiffen, Eisenbahnen etc. zu gelangen? Man könnte sie auch fragen, wie sie es fertiggebracht haben, bei sich im Handumdrehen den ganzen Tauschmechanismus (Banken, Aktiengesellschaften etc.) einzuführen, dessen Herausbildung dem Westen Jahrhunderte gekostet hat?
Es gibt eine Eigentümlichkeit der „Ackerbaugemeinde“ in Rußland, die sie schwächt und ihr in jeder Hinsicht schädlich ist. Das ist ihre Isolierung, die fehlende Verbindung zwischen dem Leben der einen Gemeinde mit dem der anderen, dieser lokal gebundene Mikrokosmos, den man zwar nicht <390> überall als einen immanenten Charakterzug dieses Typus antrifft, der aber überall, wo man ihn antrifft, einen mehr oder weniger zentralen Despotismus über die Gemeinden aufrichtet. Die Föderation der nordrussischen Republiken beweist, daß diese Isolierung, ursprünglich wahrscheinlich durch die unermeßliche Weite des Territoriums verursacht, zu einem großen Teil durch die politischen Schicksalsschläge gefestigt wurde, die Rußland seit der mongolischen Invasion zu erleiden hatte. Heute ist das ein Hindernis, das ganz leicht zu beseitigen wäre. Man müßte einfach die волоть2*, eine Regierungsinstitution, durch eine Bauernversammlung ersetzen, die die Gemeinden selbst wählen und die als ökonomisches und administratives Organ ihren Interessen dienen würde.
Es ist ein vom historischen Gesichtspunkt aus äußerst günstiger Umstand für die Erhaltung der „Ackerbaugemeinde“ auf dem Wege ihrer Weiterentwicklung, daß sie nicht nur Zeitgenossin der kapitalistischen Produktionsweise des Westens ist, und sich daher deren Ergebnisse aneignen kann, ohne sich ihrem modus operandi3* unterwerfen zu müssen, sondern daß sie auch die Periode überdauert hat, in der sich das kapitalistische System noch intakt zeigte. Jetzt dagegen befindet es sich, in Westeuropa wie in den Vereinigten Staaten, im Kampf sowohl mit den arbeitenden Massen, mit der Wissenschaft, als auch mit den Produktivkräften, die es selbst erzeugt hat – mit einem Wort, es durchlebt eine Krise, die mit der Beseitigung des Kapitalismus und der Rückkehr der modernen Gesellschaft zu einer höheren Form des „archaischen“ Typus des kollektiven Eigentums und der kollektiven Produktion enden wird.
Es versteht sich, daß die Evolution der Gemeinde allmählich vor sich geht und daß der erste Schritt sein müßte, sie auf ihrer gegenwärtigen Basis in normale Bedingungen zu versetzen.(3)
Aber ihr gegenüber erhebt sich das Grundeigentum, das fast die Hälfte des Bodens, und zwar den besseren Teil, in seinen Händen hält, ganz zu <391> schweigen von den Staatsdomänen. Eben deswegen stimmt die Erhaltung der „Dorfgemeinde“ auf dem Wege ihrer Weiterentwicklung mit der allgemeinen Bewegung der russischen Gesellschaft überein, deren Wiedergeburt nur zu diesem Preis erkauft werden kann.
Sogar vom rein ökonomischen Gesichtspunkt aus kann Rußland aus der Sackgasse, in der sich seine Landwirtschaft befindet, nur durch die Entwicklung seiner Dorfgemeinde herauskommen; es würde ein vergebliches Bemühen sein, ihr durch das englische kapitalistische Pachtverhältnis zu entkommen, alle landwirtschaftlichen Bedingungen des Landes widersprechen dem.
Wenn man von allem Elend, das die russische Dorfgemeinde gegenwärtig bedrückt, absieht und nur die Form ihres Aufbaus und ihr historisches Milieu betrachtet, so ist es auf den ersten Blick augenscheinlich, daß einer ihrer charakteristischen Grundzüge, das Gemeineigentum am Boden, die natürliche Grundlage für die kollektive Produktion und Aneignung ist. Außerdem würde das Vertrautsein des russischen Bauern mit dem Artelverhältnis ihm den Übergang von der Parzellen- zur kollektiven Wirtschaft erleichtern, die er schon in gewissem Maße auf den ungeteilten Wiesen, bei den Entwässerungs- und anderen Arbeiten von öffentlichem Interesse durchführt. Aber damit die kollektive Arbeit im eigentlichen Ackerbau die Parzellenwirtschaft, die Quelle der privaten Aneignung, ersetzen kann, sind zwei Dinge notwendig: das ökonomische Bedürfnis zu einer solchen Umwandlung und die materiellen Voraussetzungen für ihre Durchführung.
Was das ökonomische Bedürfnis anbelangt, so würde es sich bei der „Dorfgemeinde“ bereits von dem Augenblick an fühlbar machen, da sie in normale Bedingungen versetzt werden würde, d.h., sobald die Lasten, die auf ihr liegen, beseitigt wären und das von ihr zu bebauende Land eine normale Ausdehnung erlangt hätte. Die Zeit ist vorbei, da die russische Landwirtschaft nur des Bodens und des mit mehr oder weniger primitiven Geräten ausgerüsteten Parzellenbauern bedurfte. Diese Zeit ist um so rascher vorbei, da die Unterdrückung des Ackerbauern sein Feld erschöpft <392> und unfruchtbar macht. Er braucht jetzt die im großen Maßstab organisierte genossenschaftliche Arbeit. Und überdies, würde denn der Bauer, dem die notwendigsten Dinge für die Bebauung von 2 oder 3 Desjatinen fehlen, mit einer zehnfachen Anzahl Desjatinen besser dastehen?
Wo aber das Inventar, den Dung, die agronomischen Methoden etc., all die zur kollektiven Arbeit unerläßlichen Mittel hernehmen? Darin beruht gerade die große Überlegenheit der russischen „Dorfgemeinde“ über die archaischen Gemeinden vom gleichen Typus. Sie allein hat sich in Europa im großen, nationalen Maßstabe behauptet. Sie befindet sich daher in einem historischen Milieu, wo die Gleichzeitigkeit mit der kapitalistischen Produktion ihr alle Voraussetzungen für die kollektive Arbeit liefert. Sie kann sich alle positiven Errungenschaften aneignen, die von dem kapitalistischen System geschaffen worden sind, ohne dessen Kaudinisches Joch passieren zu müssen. Die physische Beschaffenheit des russischen Bodens lädt zu einer mit Hilfe von Maschinen betriebenen, in großem Maßstabe organisierten und auf genossenschaftlicher Arbeit beruhenden Landwirtschaft geradezu ein. Was die ersten Einrichtungskosten – intellektuelle und materielle Kosten – anbelangt, so schuldet die russische Gesellschaft diese der „Dorfgemeinde“, auf deren Kosten sie so lange gelebt hat und in der sie auch ihr „Element der Regeneration“ suchen muß.
Der beste Beweis dafür, daß diese Entwicklung der „Dorfgemeinde“ dem historischen Verlauf unserer Epoche entspricht, ist die verhängnisvolle Krise, die die kapitalistische Produktion in den europäischen und amerikanischen Ländern durchläuft, in denen sie den größten Aufschwung genommen hatte, eine Krise, die mit der Abschaffung des Kapitalismus und mit der Rückkehr der modernen Gesellschaft zu einer höheren Form des archaischsten Typus – der kollektiven Produktion und Aneignung – enden wird.
4. Um sich entwickeln zu können, muß man vor allem leben, und es ist für niemand ein Geheimnis, daß gegenwärtig das Leben der „Dorfgemeinde“ gefährdet ist.
Um die Ackerbauern zu expropriieren, braucht man sie nicht von ihrem Land zu verjagen, wie das in England und anderweitig geschehen ist, man braucht auch nicht das Gemeineigentum durch einen Ukas abzuschaffen. Geht doch und nehmt den Bauern das Produkt ihrer landwirtschaftlichen Arbeit über ein gewisses Maß hinaus weg, und es wird euch trotz eurer Gendarmerie und eurer Armee nicht gelingen, sie an ihre Felder zu fesseln! In den letzten Jahren des Römischen Reichs flohen die Provinzdekurionen, keine Bauern, sondern Grundeigentümer, aus ihren Häusern, ließen ihre Ländereien im Stich, verkauften sich sogar in die Sklaverei, und das alles, <393> um sich von einem Eigentum zu befreien, das nur noch ein offizieller Vorwand war, um sie ohne Gnade und Barmherzigkeit auszupressen.
Nach der sogenannten Bauernemanzipation wurde die russische Gemeinde durch den Staat in anormale ökonomische Bedingungen versetzt, und seit dieser Zeit hat er nicht aufgehört, sie mit Hilfe der in seinen Händen konzentrierten gesellschaftlichen Kräfte zu unterdrücken. Entkräftet durch die fiskalischen Erpressungen, wurde sie zu einem widerstandslosen Objekt der Ausbeutung durch Handel, Grundbesitz und Wucher. Diese von außen kommende Unterdrückung hat innerhalb der Gemeinde selbst den bereits vorhandenen Interessenkonflikt entfesselt und die Keime der Zersetzung in ihr rasch entwickelt. Aber das ist nicht alles.(4) Auf Kosten und zu Lasten der Bauern hat der Staat jene Zweige des westlichen kapitalistischen Systems wie im Treibhaus großgezogen, die, ohne irgendwie die Produktivkräfte der Landwirtschaft zu entwickeln, am geeignetsten sind, den Diebstahl ihrer Früchte durch die unproduktiven Mittelsmänner zu erleichtern und zu beschleunigen. Er hat auf diese Weise zur Bereicherung eines neuen kapitalistischen Ungeziefers beigetragen, das der ohnehin geschwächten „Dorfgemeinde“ die letzten Blutstropfen aussaugt.
... mit einem Wort, der Staat hat seinen Beistand zu einer voreiligen Entwicklung jener technischen und ökonomischen Mittel geliehen, die am geeignetsten waren, um die Ausbeutung des Ackerbauern, d.h. der größten Produktivkraft Rußlands, zu erleichtern und zu beschleunigen und die „neuen Stützen der Gesellschaft“ zu bereichern.
5. Dieses Zusammenwirken zerstörender Einflüsse muß natürlich, wenn es nicht durch eine mächtige Gegenbewegung zerschlagen wird, zum Untergang der Dorfgemeinde führen.
Aber man fragt sich: Warum verschwören sich wissentlich alle diese Interessengruppen (einschließlich der unter der Vormundschaft des Staates stehenden großen Industrien), die bei dem jetzigen Zustand der Dorfgemeinde so gut auf ihre Kosten kommen, um die Henne zu töten, die ihnen goldene Eier legt? Eben darum, weil sie fühlen, daß „dieser jetzige Zustand“ nicht mehr zu halten ist, daß infolgedessen die jetzige Methode, die Dorfgemeinde auszubeuten, nicht mehr zeitentsprechend ist. Schon hat <394> sich das Elend des Ackerbauern auf die Erde übertragen, die unfruchtbar wird. Die guten Ernten werden durch Hungersnöte aufgewogen. Der Durchschnitt der letzten zehn Jahre offenbarte nicht nur eine stagnierende, sondern sogar rückläufige landwirtschaftliche Produktion. Schließlich muß Rußland zum erstenmal Getreide importieren, statt es zu exportieren. Es gilt also, keine Zeit mehr zu verlieren. Man muß dem ein Ende bereiten. Man muß die mehr oder weniger begüterte Minderheit der Bauern zu einer ländlichen Mittelklasse konstituieren und die Mehrheit der Bauern in gewöhnliche Proletarier verwandeln. Zu diesem Zweck bezeichnen die Wortführer der „neuen Stützen der Gesellschaft“ die von ihnen selbst der Gemeinde geschlagenen Wunden als natürliche Symptome ihrer Altersschwäche.
Da so viel verschiedene Interessengruppen und besonders diejenigen der „neuen Stützen der Gesellschaft“, die unter der wohlwollenden Herrschaft Alexanders II, errichtet wurden, bei dem jetzigen Zustand der „Dorfgemeinde“ auf ihre Kosten gekommen sind, warum verschwören sie sich wissentlich, um ihren Tod herbeizuführen? Warum bezeichnen ihre Wortführer die ihr geschlagenen Wunden als unwiderlegbare Beweise ihrer natürlichen Hinfälligkeit? Warum wollen sie ihre Henne mit den goldenen Eiern töten?
Einfach, weil die ökonomischen Tatsachen, deren Analyse mich zu weit führen würde, das Geheimnis enthüllt haben, daß der jetzige Zustand der Gemeinde nicht mehr zu halten ist und daß schon allein durch den notwendigen Gang der Dinge die augenblickliche Art, die Volksmassen auszubeuten, bald nicht mehr zeitentsprechend sein wird. Also ist etwas Neues notwendig, und dieses unter den verschiedensten Formen insinuierte Neue läuft immer auf folgendes hinaus: das Gemeineigentum abschaffen, die mehr oder weniger begüterte Minderheit der Bauern als ländliche Mittelklasse konstituieren und die große Mehrheit der Bauern in gewöhnliche Proletarier verwandeln.
Einerseits ist die „Dorfgemeinde“ schon bis an den Rand des Untergangs gebracht, und andererseits liegt eine mächtige Verschwörergruppe auf der Lauer, um ihr den Todesstoß zu versetzen. Um die russische Gemeinde zu retten, ist eine russische Revolution nötig. Übrigens tun die politischen und gesellschaftlichen Machthaber ihr Bestes, um die Massen auf eine solche Katastrophe vorzubereiten.
Zur selben Zeit, da man die Gemeinde schröpft, sie martert, ihr Land unfruchtbar macht und aussaugt, bezeichnen die literarischen Lakaien der „neuen Stützen der Gesellschaft“ ironisch die Wunden, die man ihr geschlagen hat, als Symptome ihrer natürlich bedingten Altersschwäche. Man <395> behauptet, daß sie eines natürlichen Todes sterbe und daß man gut daran täte, ihre Agonie abzukürzen. Hier handelt es sich nicht mehr um ein Problem, das es zu lösen gilt, hier handelt es sich einfach um einen Feind, der geschlagen werden muß. Um die russische Gemeinde zu retten, ist eine russische Revolution nötig. Übrigens tun die russische Regierung und die „neuen Stützen der Gesellschaft“ ihr Bestes, um die Massen auf eine solche Katastrophe vorzubereiten. Wenn die Revolution zur rechten Zeit erfolgt, wenn sie alle ihre Kräfte konzentriert, um den freien Aufschwung der Dorfgemeinde zu sichern, wird diese sich bald als ein Element der Regeneration der russischen Gesellschaft und als ein Element der Überlegenheit über die vom kapitalistischen Regime versklavten Länder entwickeln.
<396> 1. Ich habe im „Capital“ gezeigt, daß die Metamorphose der feudalen Produktion in die kapitalistische Produktion die Expropriation des Produzenten zum Ausgangspunkt hatte, und insbesondere, daß die Grundlage dieser ganzen Entwicklung die Expropriation der Ackerbauern ist (p. 315, édit. française). Ich fahre fort: „Sie“ (die Expropriation der Ackerbauern) „ist auf radikale Weise erst in England durchgeführt ... alle anderen Länder Westeuropas durchlaufen die gleiche Bewegung.“ (l.c.)
Ich habe also diese „historische Unvermeidlichkeit“ ausdrücklich auf die „Länder Westeuropas“ beschränkt. Um über meinen Gedanken nicht den geringsten Zweifel zu lassen, sage ich auf p. 341:
„Privateigentum, als Gegensatz zum gesellschaftlichen, kollektiven Eigentum, besteht nur da, wo ... die äußeren Bedingungen der Arbeit Privatleuten gehören. Je nachdem aber diese Privatleute Arbeiter oder Nichtarbeiter sind, hat auch das Privateigentum einen andern Charakter.“
So hat der Prozeß, den ich analysiert habe, eine Form des privaten und zersplitterten Eigentums der Arbeitenden durch das kapitalistische Eigentum einer äußerst geringen Minderheit ersetzt (l.c., p. 342[5]), hat eine Art des Eigentums durch eine andere ersetzt. Wie könnte man das auf Rußland beziehen, wo das Land kein „Privateigentum“ des Ackerbauern ist und es niemals gewesen ist? Die einzige Schlußfolgerung also, die sie berechtigt wären, aus dem Gang der Ereignisse im Westen zu ziehen, ist folgende: Um die kapitalistische Produktion in Rußland einzuführen, müßte man damit beginnen, das Gemeineigentum abzuschaffen und die Bauern, d.h., die große Masse des Volkes, zu expropriieren. Das ist übrigens der Wunsch <397> der russischen Liberalen;(5) aber erweist sich ihr Wunsch begründeter als der Wunsch Katharinas II., das westliche Zunftwesen des Mittelalters auf russischen Boden zu verpflanzen[6]?
So diente die Expropriation der Ackerbauern im Westen zur „Verwandlung des privaten und zersplitterten Eigentums der Arbeitenden“ in konzentriertes Privateigentum der Kapitalisten. Aber das ist die Ersetzung einer Form des Privateigentums durch eine andere Form des Privateigentums. In Rußland würde es sich im Gegenteil darum handeln, das kapitalistische Eigentum an Stelle des kommunistischen Eigentums zu setzen.
Sicherlich, wenn die kapitalistische Produktion ihre Herrschaft in Rußland aufrichten soll, so muß die große Mehrheit der Bauern, d.h. des russischen Volkes, in Lohnarbeiter verwandelt und folglich durch die vorhergehende Abschaffung ihres Gemeineigentums expropriiert werden. Aber auf alle Fälle würde der westliche Präzedenzfall hier überhaupt nichts beweisen.
2. Die russischen „Marxisten“, von denen Sie sprechen, sind mir völlig unbekannt. Die Russen, mit denen ich in persönlichen Beziehungen stehe, haben, soviel ich weiß, völlig entgegengesetzte Ansichten.
3. Vom historischen Standpunkt aus gesehen ist das einzige ernsthafte Argument zugunsten der unvermeidlichen Auflösung des Gemeineigentums in Rußland folgendes: Das Gemeineigentum hat überall in Westeuropa existiert, es ist mit dem gesellschaftlichen Fortschritt überall verschwunden; wieso würde es dem gleichen Schicksal in Rußland entrinnen können?
Vor allem ist in Westeuropa der Untergang des Gemeineigentums und die Entstehung der kapitalistischen Produktion durch eine riesige Zeitspanne voneinander getrennt, die eine ganze Reihe aufeinanderfolgender ökonomischer Revolutionen und Evolutionen umfaßt, von denen die kapitalistische Produktion nur die jüngste ist. Einerseits hat sie die gesellschaftlichen Produktivkräfte hervorragend entwickelt, andererseits aber hat sie die eigene Unvereinbarkeit mit den von ihr selbst hervorgebrachten Kräften gezeigt. Ihre Geschichte ist nichts weiter als eine Geschichte von Antagonismen, Krisen, Konflikten und Katastrophen. Schließlich hat sie aller Welt, mit Ausnahme derer, die auf Grund ihrer Interessen blind sind, ihren reinen Übergangscharakter offenbart. Die Völker, bei denen sie in Europa und in Amerika den größten Aufschwung genommen hat, streben nur danach, ihre Ketten zu sprengen, indem sie die kapitalistische Produktion durch die ge- <398> nossenschaftliche Produktion und das kapitalistische Eigentum durch eine höhere Form des archaischen Eigentumtyps, d.h. durch das kommunistische Eigentum, ersetzen wollen.
Wenn Rußland in der Welt isoliert wäre, wenn es auf seine eigene Rechnung die ökonomischen Errungenschaften herausbilden müßte, die Westeuropa nur erworben hat, indem es eine lange Reihe von Evolutionen durchgemacht, von der Existenz seiner Urgemeinschaften bis zu seinem heutigen Zustande, dann würde, wenigstens in meinen Augen, kein Zweifel bestehen, daß seine Gemeinden mit der Entwicklung der russischen Gesellschaft unweigerlich zum Untergang verurteilt wären. Aber die Lage der russischen Gemeinde ist vollkommen unterschiedlich von der Lage der Urgemeinschaften des Westens. Rußland ist das einzige Land in Europa, wo sich das Gemeineigentum im großen, nationalen Maßstabe behauptet hat, aber gleichzeitig existiert Rußland in einem modernen historischen Milieu, es ist Zeitgenosse einer höheren Kultur, es ist mit einem Weltmarkt verbunden, auf dem die kapitalistische Produktion vorherrscht.
Indem es sich die positiven Ergebnisse dieser Produktionsweise aneignet, ist es also imstande, die noch archaische Form seiner Dorfgemeinde zu entwickeln und umzuformen, statt sie zu zerstören. (Ich bemerke nebenbei, daß die Form des kommunistischen Eigentums in Rußland die modernste Form des archaischen Typus ist, der wiederum selber eine ganze Reihe von Evolutionen durchgemacht hat.)
Falls die Verehrer des kapitalistischen Systems in Rußland die Möglichkeit einer solchen Kombination leugnen, so mögen sie nachweisen, daß Rußland, um die Maschinen zu benutzen, gezwungen gewesen war, die Inkubationsperiode der Maschinenproduktion durchzumachen. Mögen sie mir erklären, wie sie es sozusagen in einigen Tagen fertiggebracht haben, den Tauschmechanismus (Banken, Kreditgesellschaften etc.) bei sich einzuführen, dessen Herausbildung dem Westen Jahrhunderte gekostet hat!(6)
4. Die archaische oder primäre Formation unseres Erdballs enthält ihrerseits eine Reihe von Schichten verschiedenen Alters, von denen die eine über der anderen liegt. Ebenso enthüllt uns die archaische Formation der Gesellschaft eine Reihe verschiedener Typen, die verschiedene, aufeinanderfolgende Epochen kennzeichnen. Die russische Dorfgemeinde gehört zum jüngsten Typus dieser Kette. Der Ackerbauer besitzt hier schon als Privat- <399> eigentum das Haus, das er bewohnt, und den Garten, der dazu gehört. Da haben wir das erste auflösende Element der archaischen Form, das den älteren Typen unbekannt war. Andererseits beruhen diese alle auf Verhältnissen der Blutsverwandtschaft zwischen den Mitgliedern der Gemeinde, während der Typus, zu dem die russische Dorfgemeinde gehört, von diesen engen Banden befreit und dadurch einer größeren Entwicklung fähig ist. Die Isolierung der Dorfgemeinden, die fehlende Verbindung zwischen dem Leben der einen und dem der anderen, dieser lokalgebundene Mikrokosmos kommt nicht überall als immanenter Charakterzug des letzten der Urtypen vor; aber überall, wo er vorhanden ist, läßt er einen zentralen Despotismus über die Gemeinden aufkommen. Es scheint mir, daß in Rußland diese ursprüngliche Isolierung, die durch die weite Ausdehnung des Territoriums verursacht wurde, leicht zu beseitigen ist, sobald die von der Regierung angelegten Fesseln gesprengt sein werden.
Ich komme jetzt zum Kern der Frage. Man sollte nicht ignorieren, daß der archaische Typus, zu dem die russische Gemeinde gehört, einen inneren Dualismus birgt, der unter gewissen historischen Bedingungen ihren Untergang herbeiführen kann. Das Eigentum am Boden ist gemeinsam, aber jeder Bauer bearbeitet und bewirtschaftet sein Feld auf eigene Rechnung, ähnlich, wie der Kleinbauer im Westen. Gemeineigentum, parzellenweise Bewirtschaftung des Bodens, diese in weiter zurückliegenden Epochen nützliche Kombination wird in unserer Epoche zur Gefahr. Einerseits differenziert die bewegliche Habe, ein Element, das selbst in der Landwirtschaft eine immer bedeutendere Rolle spielt, allmählich das Vermögen der Gemeindemitglieder und ermöglicht dadurch einen Interessenkonflikt, besonders unter dem fiskalischen Druck des Staats; andererseits geht die ökonomische Überlegenheit des Gemeineigentums, als der Basis der genossenschaftlichen und kombinierten Arbeit, verloren. Es darf jedoch nicht vergessen werden, daß die russischen Bauern bei der Nutzung der ungeteilten Wiesen bereits die kollektive Arbeitsweise durchführen, und daß ihr Vertrautsein mit den Artelbeziehungen ihnen den Übergang von der Parzellen- zur kollektiven Bewirtschaftung sehr erleichtern würde, daß die physische Beschaffenheit des russischen Bodens zu einer kombinierten maschinellen Bearbeitung in großem Maßstabe geradezu einlädt, und daß schließlich die russische Gesellschaft, die solange auf Kosten und zu Lasten der Dorfgemeinde gelebt hat, ihr die ersten notwendigen Vorschüsse für diese Umwandlung schuldet. Selbstverständlich handelt es sich nur um eine allmähliche Umwandlung, die damit beginnen müßte, die Gemeinde auf ihrer gegenwärtigen Basis in eine normale Lage zu versetzen.
<400> 5. Jede mehr oder weniger theoretische Frage beiseite lassend, brauche ich Ihnen nicht zu sagen, daß heute die nackte Existenz der russischen Gemeinde durch eine Verschwörung mächtiger Interessengruppen bedroht ist. Eine gewisse Art von Kapitalismus, genährt durch Vermittlung des Staats auf Kosten der Bauern, hat sich gegen die Gemeinde erhoben, dieser Kapitalismus hat ein Interesse daran, sie zu zerstören. Es ist auch im Interesse der Gutsbesitzer, die mehr oder minder begüterten Bauern zu einer ländlichen Mittelklasse zu konstituieren und die armen Ackerbauern – d.h. die Masse – in einfache Lohnarbeiter zu verwandeln. Das würde wohlfeile Arbeit bedeuten! Und wie könnte dem eine durch die Geldeintreibungen des Staats ausgesaugte, durch den Handel ausgeplünderte, durch die Gutsbesitzer ausgebeutete und durch den Wucher von innen ausgehöhlte Gemeinde Widerstand leisten?
Was das Leben der russischen Gemeinde bedroht, ist weder eine historische Unvermeidlichkeit, noch eine Theorie; es ist die Unterdrückung seitens des Staats und die Ausbeutung durch kapitalistische Eindringlinge, die durch den gleichen Staat auf Kosten und zu Lasten der Bauern mächtig geworden sind.
<401> Liebe Bürgerin!
Um die in Ihrem Brief vom 16. Februar vorgebrachten Fragen gründlich zu behandeln, müßte ich auf Einzelheiten eingehen und dringende Arbeiten unterbrechen, aber ich hoffe, daß die gedrängte Erläuterung, die ich die Ehre habe, Ihnen zu übersenden, genügen wird, um jedes Mißverständnis bezüglich meiner sogenannten Theorie zu zerstreuen.
I. Bei der Analyse der Entstehung der kapitalistischen Produktion sage ich: „Dem kapitalistischen System liegt also die radikale Trennung des Produzenten von den Produktionsmitteln zugrunde... Die Grundlage dieser ganzen Entwicklung ist die Expropriation der Ackerbauern. Sie ist auf radikale Weise erst in England durchgeführt... Aber alle anderen Länder Westeuropas durchlaufen die gleiche Bewegung“ („Le Capital“, éd. française, p. 315).
Die „historische Unvermeidlichkeit“ dieser Bewegung ist also ausdrücklich auf die Länder Westeuropas beschränkt. Die Begründung dieser Einschränkung wird im folgenden Absatz des Kapitels XXXII gegeben: „Das Privateigentum, das auf persönlicher Arbeit gegründet ist ..., wird verdrängt durch das kapitalistische Privateigentum, das auf der Ausbeutung der Arbeit andrer, der Lohnarbeit gegründet ist“ (l.c. p. 341).
Bei dieser Bewegung des Westens handelt es sich also um die Verwandlung einer Form des Privateigentums in eine andere Form des Privateigentums. Bei den russischen Bauern würde man im Gegenteil ihr Gemeineigentum in Privateigentum umzuwandeln haben. Ob man die Unvermeidlichkeit dieser Umwandlung bejaht oder verneint, die Gründe für und wider haben nichts mit meiner Analyse der Genesis der kapitalistischen Ordnung zu tun. Man könnte höchstens daraus folgern, daß, angesichts der gegenwärtigen Lage der großen Mehrheit der russischen Bauern, der Akt ihrer Umwandlung in Kleinbesitzer nur der Prolog zu ihrer raschen Expropriation sein würde.
<402> II. Das ernsthafteste Argument, das man gegen die russische Dorfgemeinde erhoben hat, läuft auf folgendes hinaus:
Geht zu den Ursprüngen der westlichen Gesellschaften zurück und Ihr werdet überall das Gemeineigentum an Grund und Boden finden; mit dem gesellschaftlichen Fortschritt mußte es überall vor dem Privateigentum weichen; also würde es dem gleichen Schicksal auch in Rußland nicht entrinnen können.
Ich möchte diesem Argument nur insofern Rechnung tragen, als es sich auf die europäischen Erfahrungen stützt. Was zum Beispiel Ostindien anbelangt, so ist es aller Welt, mit Ausnahme von Sir H. Maine und anderen Leuten gleichen Schlags, nicht unbekannt, daß dort die gewaltsame Aufhebung des Gemeineigentums an Grund und Boden nur ein Akt des englischen Vandalismus war, der die Eingeborenen nicht nach vorn, sondern nach rückwärts stieß.
Die Urgemeinschaften sind nicht alle nach dem gleichen Muster zugeschnitten. Ihre Gesamtheit bildet im Gegenteil eine Reihe von gesellschaftlichen Gruppierungen, die sich sowohl im Typus wie im Alter voneinander unterscheiden und die aufeinanderfolgende Entwicklungsphasen kennzeichnen. Einer dieser Typen, den man übereingekommen ist, „Ackerbaugemeinde“ zu nennen, ist auch der der russischen Gemeinde. Ihr Gegenstück im Westen ist die germanische Gemeinde, die sehr jungen Datums ist. Zur Zeit Julius Cäsars existierte sie noch nicht, und sie existierte nicht mehr, als die germanischen Stamme Italien, Gallien, Spanien etc. eroberten. In der Epoche Julius Cäsars gab es schon eine jährliche Aufteilung des Ackerlands unter Gruppen, den Gentes und den Stämmen, aber noch nicht unter die einzelnen Familien einer Gemeinde; wahrscheinlich erfolgte die Bebauung auch in Gruppen, gemeinschaftlich. Auf germanischem Boden selbst hat sich diese Gemeinschaft von archaischerem Typus durch eine natürliche Entwicklung zur Ackerbaugemeinde umgewandelt, so wie sie Tacitus beschrieben hat. Nach seiner Zeit verlieren wir sie aus den Augen. Sie ging in den unaufhörlichen Kriegen und Wanderungen unbemerkt zugrunde; sie endete vielleicht auf gewaltsame Weise. Aber ihre natürliche Lebensfähigkeit ist durch zwei unbestreitbare Tatsachen erwiesen. Einige verstreute Exemplare dieser Art haben alle Wechselfälle des Mittelalters überlebt und sich bis auf unsere Tage erhalten, z.B. in meiner Heimat, der Gegend von Trier. Aber am wichtigsten ist, wir finden das Gepräge dieser „Ackerbaugemeinde“ so gut auf die neue Gemeinde, die daraus hervorging, übertragen, daß Maurer, da er die eine erforscht hatte, die andere rekonstruieren konnte. Die neue Gemeinde, in der das Ackerland den Acker- <403> bauern als Privateigentum gehört, während Wälder, Weiden, Ödland etc. immer noch Gemeineigentum bleiben, wurde von den Germanen in allen eroberten Ländern eingeführt. Dank der ihrem Prototyp entlehnten Wesenszüge wurde sie während des ganzen Mittelalters zum einzigen Hort der Volksfreiheit und des Volkslebens.
Man begegnet der „Dorfgemeinde“ auch in Asien, bei den Afghanen etc., aber sie stellt überall den allerjüngsten Typus dar, sozusagen das letzte Wort der archaischen Formation der Gesellschaften. Um diese Tatsache hervorzuheben, bin ich auf einige Einzelheiten hinsichtlich der germanischen Gemeinde eingegangen.
Wir müssen jetzt die charakteristischsten Züge betrachten, welche die „Ackerbaugemeinde“ von den archaischeren Gemeinwesen unterscheiden.
1. Alle anderen Gemeinwesen beruhen auf Beziehungen der Blutsverwandtschaft zwischen ihren Mitgliedern. Man gehört zu ihr nur, wenn man blutsverwandt oder adoptiert ist. Ihre Struktur ist die eines Stammbaums. Die „Ackerbaugemeinde“ war die erste gesellschaftliche Gruppierung freier Menschen, die nicht durch Blutsbande eingeengt war.
2. In der Ackerbaugemeinde gehören das Haus und was dazu gehört, der Hof, dem Ackerbauern persönlich. Das gemeinsame Haus und die kollektive Wohnung waren dagegen eine ökonomische Basis der primitiveren Gemeinwesen, und das schon lange vor dem Aufkommen von Viehhaltung und Ackerbau. Gewiß findet man Ackerbaugemeinden, wo die Häuser, obwohl sie aufgehört haben, kollektive Wohnplätze zu sein, periodisch die Besitzer wechseln. Die persönliche Nutzung ist also kombiniert mit dem Gemeineigentum. Aber solche Gemeinden tragen noch ihr Geburtsmal – sie befinden sich im Übergangsstadium von einem archaischeren Gemeinwesen zur Ackerbaugemeinde im eigentlichen Sinne des Wortes.
3. Das Ackerland als unveräußerliches und gemeinsames Eigentum wird periodisch zwischen den Mitgliedern der Ackerbaugemeinde derart aufgeteilt, daß jeder die ihm zugewiesenen Felder auf eigene Rechnung bewirtschaftet und sich die Früchte persönlich aneignet. In den primitiveren Gemeinwesen wird die Arbeit gemeinsam verrichtet und das gemeinschaftliche Produkt bis auf den für die Reproduktion reservierten Anteil je nach den Bedürfnissen aufgeteilt.
Man versteht, daß der der Ackerbaugemeinde innewohnende Dualismus sie mit großer Lebenskraft erfüllen kann. Befreit von den starken, aber engen Banden der Blutsverwandtschaft wird ihr durch das Gemeineigentum an Grund und Boden und die sich daraus ergebenden sozialen Beziehungen eine feste Grundlage gesichert, während gleichzeitig das Haus und der dazu- <404> gehörige Hof, ausschließlicher Bereich der einzelnen Familie, die Parzellenwirtschaft und die private Aneignung ihrer Früchte der Entwicklung der Persönlichkeit einen Auftrieb geben, der mit dem Organismus der primitiveren Gemeinwesen unvereinbar ist.
Aber es ist nicht weniger offensichtlich, daß der gleiche Dualismus sich mit der Zeit zu einem Keim der Zersetzung entwickeln kann. Abgesehen von allen von außen kommenden schädlichen Einflüssen trägt die Gemeinde in ihrem eigenen Innern die sie zerstörenden Elemente. Das Privateigentum an Grund und Boden hat sich bereits dorthin eingeschlichen in Gestalt eines Hauses mit seinem Hof, es kann sich zu einem starken Bollwerk verwandeln, von wo aus der Angriff gegen das gemeinschaftliche Land vorbereitet wird. Dies hat man schon gesehen. Aber das Wesentliche ist die parzellierte Arbeit als Quelle der privaten Aneignung. Sie läßt der Akkumulation beweglicher Güter Raum, z.B. von Vieh, Geld, bisweilen sogar von Sklaven oder Leibeigenen. Dieses bewegliche, von der Gemeinde unkontrollierbare Eigentum, Gegenstand individuellen Tausches, wobei List und Zufall leichtes Spiel haben, wird auf die ganze ländliche Ökonomie einen immer größeren Druck ausüben. Das ist das zersetzende Element der ursprünglichen ökonomischen und sozialen Gleichheit. Es führt heterogene Elemente ein, die im Schoße der Gemeinde Interessenkonflikte und Leidenschaften schüren, die geeignet sind, zunächst das Gemeineigentum an Ackerland, dann das an Wäldern, Weiden, Brachland etc. anzugreifen, die, einmal in Gemeindeanhängsel des Privateigentums umgewandelt, ihm schließlich zufallen werden.
Als letzte Phase der primitiven Gesellschaftsformation ist die Ackerbaugemeinde gleichzeitig eine Übergangsphase zur sekundären Formation, also Übergang von der auf Gemeineigentum begründeten Gesellschaft zu der auf Privateigentum begründeten Gesellschaft. Die sekundäre Formation umfaßt, wohlverstanden, die Reihe der Gesellschaften, die auf Sklaverei, Leibeigenschaft beruhen.
Aber heißt das, daß die historische Laufbahn der Ackerbaugemeinde unvermeidlich zu diesem Ergebnis führen muß? Keineswegs. Der ihr innewohnende Dualismus läßt eine Alternative zu: entweder wird ihr Eigentumselement über das kollektive Element oder dieses über jenes siegen. Alles hängt vom historischen Milieu ab, in dem sie sich befindet.
Sehen wir für einen Augenblick von dem Elend ab, das die russische Gemeinde bedrückt, um allein ihre Entwicklungsmöglichkeiten zu betrachten. Sie nimmt eine einzigartige Stellung ein, die keinen Präzedenzfall in der Geschichte aufweist. Als einzige in Europa ist sie noch die organische, <405> vorherrschende Form im Landleben eines ungeheuren Reiches. Das Gemeineigentum an Grund und Boden bietet ihr die natürliche Basis der kollektiven Aneignung und ihr historisches Milieu, die Gleichzeitigkeit mit der kapitalistischen Produktion, bietet ihr fix und fertig dar die materiellen Bedingungen der in großem Maßstabe organisierten kollektiven Arbeit. Sie kann sich also die von dem kapitalistischen System hervorgebrachten positiven Errungenschaften aneignen, ohne dessen Kaudinisches Joch durchschreiten zu müssen. Sie kann den parzellierten Ackerbau allmählich durch eine kombinierte und mit Hilfe von Maschinen betriebene Landwirtschaft ersetzen, zu der die physische Beschaffenheit des russischen Bodens geradezu einlädt. Nachdem sie erst einmal in ihrer jetzigen Form in eine normale Lage versetzt worden ist, kann sie der unmittelbare Ausgangspunkt des ökonomischen Systems werden, zu dem die moderne Gesellschaft tendiert, und ein neues Leben anfangen, ohne mit ihrem Selbstmord zu beginnen.(7)
Die Engländer haben solche Versuche in Ostindien gemacht; es ist ihnen nur gelungen, die einheimische Landwirtschaft zu ruinieren und die Anzahl und Intensität der Hungersnöte zu verdoppeln.
Doch was ist mit dem Fluch, mit dem die russische Dorfgemeinde beladen ist – ihre Isolierung, die fehlende Verbindung zwischen dem Leben der einen Gemeinde mit dem der anderen, dieser lokal gebundene Mikrokosmos, der ihr bisher jede historische Initiative untersagt hat? Er würde inmitten einer allgemeinen Erschütterung der russischen Gesellschaft verschwinden.
Das Vertrautsein des russischen Bauern mit dem Artel würde ihm speziell den Übergang von der Parzellen- zur genossenschaftlichen Wirtschaft erleichtern, die er übrigens schon bis zu einem gewissen Grade bei der Heuernte und bei Gemeindeunternehmungen, wie Entwässerungsarbeiten etc. anwendet. Eine ganz archaische Eigentümlichkeit – der Alpdruck der modernen Agronomen – wirkt ebenfalls in diesem Sinne. Man komme in irgendein Land, wo das Ackerland Spuren einer eigenartigen Zersplitterung verrät, die ihm das Aussehen eines aus kleinen Feldern zusammengesetzten Schach- <406> bretts verleiht, dann gibt es keinen Zweifel, vor uns ist die Domäne einer untergegangenen Ackerbaugemeinde! Ihre Mitglieder begriffen, ohne ein Studium der Theorie der Grundrente absolviert zu haben, daß eine gleiche Arbeitsmenge, angewandt auf Felder unterschiedlicher natürlicher Fruchtbarkeit und Lage, auch unterschiedliche Erträge ergeben wird. Um die Erfolgsaussichten der Arbeit auszugleichen, teilten sie das Land in eine bestimmte Anzahl von Abschnitten, bedingt durch die natürlichen und ökonomischen Bodenunterschiede, und teilten diese größeren Abschnitte in ebenso viele Parzellen wie es Landleute gab. Dann erhielt jeder einen Anteil von jedem Abschnitt. Diese bis auf den heutigen Tag in der russischen Gemeinde beibehaltene Ordnung widerspricht selbstverständlich den agronomischen Forderungen. Abgesehen von anderen Unzuträglichkeiten erfordert sie eine Verschwendung von Kraft und Zeit. Nichtsdestoweniger begünstigt sie den Übergang zur kollektiven Bewirtschaftung, der sie auf den ersten Blick so zu widersprechen scheint. Die Parzelle[7]
(1) [In der Handschrift gestrichen:] Mit einem Wort, sie hat sich in eine Arena schreiender Antagonismen, Krisen, Konflikte und periodischer Mißgeschicke verwandelt; sie zeigt selbst dem Verblendetsten, daß sie ein vorübergehendes Produktionssystem ist, zum Verschwinden verdammt durch die Rückkehr der Gesellschaft zu
(2) [In der Handschrift gestrichen:] Man müßte natürlich damit anfangen, daß man die Gemeinde auf ihrer jetzigen Grundlage in den Normalzustand versetzt, denn der Bauer ist überall Feind brüsker Veränderungen.
(3) [In der Handschrift gestrichen:] Und die historische Situation der russischen „Dorfgemeinde“ hat nicht ihresgleichen! Als einzige in Europa hat sie sich nicht in Gestalt von Trümmern in der Art jener seltenen und merkwürdigen Miniaturen, jener Überbleibsel des archaischen Typus erhalten, wie man sie noch unlängst im Westen antraf, sondern als quasi vorherrschende Form des Volkslebens und über ein ungeheures Reich verbreitet. Wenn sie im Gemeineigentum am Boden die Grundlage für die kollektive Aneignung besitzt, so bietet ihr das historische Milieu, die Gleichzeitigkeit mit der kapitalistischen Produktion, alle fertigen Bedingungen der gemeinsamen Arbeit im großen Maßstab. Sie ist daher imstande, sich die positiven Errungenschaften des kapitalistischen Systems anzueignen, ohne durch dessen Kaudinisches Joch gehen zu müssen. Sie kann den Parzellenackerbau allmählich durch eine mit Hilfe von Maschinen betriebene Großflächenwirtschaft ersetzen, zu der die physische Beschaffenheit des russischen Bodens geradezu einlädt. Sie kann also der unmittelbare Ausgangspunkt des ökonomischen Systems werden, zu dem die moderne Gesellschaft hinneigt, und ein neues Leben anfangen, ohne sich selbst umzubringen. Man müßte im Gegenteil damit beginnen, sie in eine normale Lage zu versetzen.
(4) [In der Handschrift gestrichen:] Auf Kosten und zu Lasten der Bauern hat der Staat jene Auswüchse des kapitalistischen Systems wie im Treibhaus großgezogen, die am leichtesten zu akklimatisieren sind, Börse, Spekulation, Banken, Aktiengesellschaften und Eisenbahnen, deren Defizite er deckt und deren Profite er durch deren Unternehmer kassieren läßt etc., etc.
(5) [In der Handschrift gestrichen:] die bei sich die kapitalistische Produktion einführen und konsequenterweise die große Masse der Bauern in einfache Lohnarbeiter verwandeln wollen.
(6) [In der Handschrift gestrichen:] Obwohl das kapitalistische System im Westen im Verblühen ist, und sich die Zeit nähert, da es nur noch eine „archaische“ Formation sein wird, sind seine russischen Verehrer ...
(7) [In der Handschrift gestrichen:] Aber ihr gegenüber erhebt sich das Grundeigentum, das fast die Hälfte des Bodens, und zwar den besseren Teil, in seinen Klauen hält. Eben deswegen stimmt die Erhaltung der Dorfgemeinde auf dem Wege ihrer Weiterentwicklung mit der allgemeinen Bewegung der russischen Gesellschaft überein, deren Wiedergeburt nur zu diesem Preis erkauft werden kann. Rußland würde vergeblich versuchen, durch das kapitalistische Pachtverhältnis nach englischer Art, dem alle sozialen Bedingungen des Landes widersprechen, aus seiner Sackgasse herauszukommen ...
1* weitaus stärker
2* den Amtsbezirk
3* ihrer Wirkungsweise
[1] Vera Sassulitsch hatte sich im Namen ihrer Genossen, die später in die Gruppe Befreiung der Arbeit eintraten, am 16. Februar 1881 mit einem Brief an Marx gewandt und ihn gebeten, seine Ansicht über die Perspektiven der historischen Entwicklung Rußlands und insbesondere über das Schicksal der russischen Dorfgemeinde zu äußern.
Vera Sassulitsch schrieb, daß das „Kapital“ in Rußland große Popularität genießt, und daß es auch bei den Diskussionen der Revolutionäre über die Agrarfrage in Rußland und über die Dorfgemeinde eine Rolle spielt. In ihrem Brief heißt es weiter: „Sie wissen besser als jeder andere, wie außerordentlich dringend diese Frage in Rußland ist ... besonders für unsere“ russische „sozialistische Partei... In letzter Zeit hörten wir oft sagen, daß die Dorfgemeinde eine archaische Form ist, die die Geschichte ... zum Untergang verurteilt hat. Jene, die das prophezeien, nennen sich Ihre Schüler: ‚Marxisten' ... Sie verstehen also, Bürger, inwiefern uns Ihre Meinung zu dieser Frage interessiert und welchen großen Dienst Sie uns leisten würden, wenn Sie Ihre Ansichten über das mögliche Schicksal unserer Dorfgemeinde darlegten und über die Theorie der historischen Notwendigkeit, daß alle Länder der Welt alle Phasen der kapitalistischen Produktion durchlaufen.“
Bei der Vorbereitung einer Antwort auf diesen Brief von Vera Sassulitsch fertigte Marx vier Entwürfe an, die in ihrer Gesamtheit einen tiefgründigen verallgemeinernden Abriß der russischen bäuerlichen Dorfgemeinde und der genossenschaftlichen Form der landwirtschaftlichen Produktion geben. Die Entwürfe des Briefes an Vera Sassulitsch (mit Ausnahme des letzten, des vierten, der textlich fast vollständig mit dem Brief übereinstimmt) werden im vorliegenden Band in dem Abschnitt „Aus dem handschriftlichen Nachlaß“ (S. 384-406) veröffentlicht.
[2] Die beiden Zitate sind nach der französischen Ausgabe des „Kapitals“ übersetzt, da sie vom Text der deutschen Ausgabe abweichen.
[3] L.H. Morgan
[4] Kaudinisches Joch – Bei den Kaudinischen Pässen, in der Nähe der Stadt Caudium (im alten Rom), brachten die Samniter im Jahre 321 v.u.Z. während des zweiten Samniterkrieges den römischen Legionen eine Niederlage bei und zwangen sie, durch das „Joch“ zu gehen, was für ein besiegtes Heer als höchster Schimpf galt. Daher der Ausdruck „durch das Kaudinische Joch gehen“, d.h. die schlimmste Erniedrigung erleiden.
[5] Vgl. MEW 23, S. 789/790
[6] Das Bestreben Katharinas II., eine Zunftordnung einzuführen, fand seinen Ausdruck in der am 21. April 1785 veröffentlichten Urkunde über die Rechte und Privilegien der Städte des Russischen Reiches, worin die besondere Stellung des Handwerks und eine ausführliche Zunftordnung festgelegt wurde. Die Eintragung in die Zünfte war für alle städtischen Handwerker obligatorisch, eine Ausübung nichtzünftigen Handwerks war verboten.
[7] Hier bricht das Manuskript ab
Zuletzt aktualisiert am 30.5.2008