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Quelle: Die neue Zeit, 24. Jg. (1905-1906), 1. Bd. (1906), H. 1, S. 18-23 u. H. 2, S. 52-60.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Zwei große Ereignisse, die ins Laufe zweier Wochen eintraten, haben daß in den letzten Jahren so hoch gestiegene Interesse Westeuropas an Rußlands Schicksal verschärft: der Zarenukas vom 19. August über die Einführung der Volksvertretung und der Friede von Portsmouth vom 29. August.
Diese zwei Ereignisse schließen eine ganze Periode von fast zweijähriger Dauer ab, in der sich Rußland bis zur Unkenntlichkeit veränderte.
Die letzten Hauptereignisse der vorhergehenden Periode waren: der kolossale Generalstreik in Südrußland (Juli-August 1903); der unmittelbar darauf erfolgte Aufstand der armenischen Bauern und Kleinbürger gegen die die Konfiskation der Kirchengüter im Kaukasus und zwei großartige Kongresse der demokratischen Intelligenz zu Petersburg (der Ärzte und der Techniker), welche zu antizaristischen Demonstrationen wurden. Darauf folgt eine Zeit verhältnismäßigen Stillstandes.
Erst zu Beginn des Jahres 1904 fängt der diplomatische Horizont an, bewölkt zu werden; am 29. Januar 1904 beginnt Togos Kriegstätigkeit.
Mißglückte Versuche, „patriotische“ Demonstrationen zu inszenieren, führten zu keinem positiven Ergebnis, nur wurden die feigen Liberalen terrorisiert, deren ausländischer Führer, Herr Struve, die Losung gab: „Hoch die Armee!“ und empfahl, nicht gegen den Krieg aufzutreten, während angesehene Liberale in den Semstwos und in den Stadträten heuchlerische patriotische Adressen unterschrieben und – was noch schlimmer – der der Regierung für den Krieg Millionen von Rubeln bewilligten, die man von den hungernden Bauern für die Volksaufklärung eingesammelt hatte.
In dieser Periode tritt – außerhalb der „Grenzgebiete“, in denen die gesamte nichtrussische Bevölkerung gegen den Krieg war – nur die Sozialdemokratie [1] mit der Forderung des Friedens auf; sie organisiert unter den Arbeitern Sympathiekundgebungen für das japanische Proletariat und verbreitet in ungeheuren, für die russischen Verhältnisse überraschend großen Mengen Proklamationen, welche die Abenteuerpolitik brandmarken. In mehreren Städten gelingt es Straßen-Protestdemonstrationen gegen die „patriotischen“ Hurrafeste zu organisieren.
Die Schlacht am Jalu und die erste Niederlage der Russen auf dem Festland ruft eine Belebung der liberalen Opposition hervor. Anfangs noch scheu, beginnt sie doch, trotz Plehwes Verbot, die Kriegführung zu kritisieren. Die weiteren Niederlagen und die mit ihnen verbundenen Enthüllungen über die Mißwirtschaft der zarischen Heerführer vertreiben bald den patriotischen Rausch. Die Regierung fühlt die wachsende Unpopularität des Krieges. Der Kurs der Hofintrigen wendet sich zum Liberalismus, zur Politik des „Vertrauens“. Und als die längst vorhergesehene Bombe der Terroristen am 15. Juli 1904 Plehwe tötet, ist es es jedermann klar, daß die Ära der Liebäugelei des Zarismus mit der „Gesellschaft“ anbrechen wird.
Die Niederlage bei Liaojang zwingt die Regierung, den letzten Zweifeln zu entsagen und die Komödie des „Vertrauens zur Gesellschaft“ zu inszenieren.
Die Opposition antwortet mit der Organisation von Banketts und mit der Abfassung von „alleruntertänigsten Adressen“. Aus der allgemein liberalen Opposition sondern sich die radikal-demokratischen Zeitungen (Nascha schyzn, Baschi Dni, später er Syn Otetschastwa und teilweise Pravo), die neben der „illegalen Oswoboschdenie des Herrn Struve, oftmals ihm voran, die aggressivere und mehr demokratische Agitation mit deutlicher ausgedrücktem konstitutionellen Charakter führen.
In den Oppositionszentren – in den Semstwos und in den städtischen Dumas – herrscht aber um diese Zeit noch der Ton empörender „Mäßigkeit“: die Leute bitten um bürgerliche und politische Rechte (nicht für das Volk, sondern für die „Gesellschaft“), ergehen sich in der Ergebenheit den „Thron“, manchmal auch für das „Selbstherrschertum“, protestieren nicht gegen den Krieg. In diesem Geiste werden die Resolutionen des berühmten ersten Semstwokongresses (6. bis 9. November 1904) verfaßt, wo die liberalen Konstitutionellen eine höchst nebelhafte Deklaration unterzeichnen, die unter dem starken Drucke der Liberalkonservativen (Fraktion Schipoff und Stachowitsch) verfaßt ist und für die Autokratie mit ihrer aggressiv-nationalen Politik(nur ohne die Polizeiwillkür) eintritt.
Nach dem 6. bis 9. November 1904 erscheinen organisierte Arbeiter auf den Versammlungen der Vertreter der Bourgeoisie (Kongresse, Sitzungen der Stadtdumas, Landschaftssessionen), die das liberale Programm verwerfen und, vom demokratischen Publikum unterstützt, die Forderung aufstellen: die Liberalen sollen in ihren Deklarationen die Beendigung des Krieges und die Einberufung einer konstituierenden Versammlung auf Grund des allgemeinen gleichen direkten und geheimen Wahlrechtes fordern. Solche Demonstrationen gehen vor sich in Saratow, Twer, Minsk, Odessa, Jekaterinodar, Rostow, Charkow, Noworossijsk, Simferopol, Tschernigow, Jaroslaw, Nishni-Nowgorod, Smolensk, Petersburg, Tomsk, Ufa und anderen Städten. Dabei liefern die sozialdemokratischen Arbeiter der liberalen Bourgeoisie die erste ernste politische Schlacht um den Einfluß auf den Gang der Ereignisse, indem sie sie enthüllen, wie antivolkstümlich das Programm des Novemberkongresses der Semstwos ist. Einen unmittelbaren Erfolg erzielten die Arbeiter dabei meistenteils nicht, hatten auch gar ncht darauf gerechnet. Die ehrwürdigen Semstwo- und Dumamänner riefen gewöhnlich ganz einfach die zarische Polizei herbei, um die dreisten Arbeiter fortzujagen.
Als bei dem sehr radikalen Bankett der Ärzte in Petersburg (am 1. Dezember 1905) die Arbeiterdelegation forderte, in die von den Ärzten abgegebene Deklaration der Rechte sollte auch die Koalitionsfreiheit eingeschlossen werden, gab man ihnen zur Antwort, die Ärzte hätten nichts gegen die Streikfreiheit, doch würden sie diese Forderung nicht in die Deklaration einschließen, und zwar aus dem Grunde, weil es ihnen durch die Sozialisten „aufgenötigt“ wurde.
Aber der allgemeine Eindruck dieser Demonstrationen, deren einige von bedeutenden Straßen„unruhen“ begleitet waren (in Charkow und besonders in Odessa), war ziemlich stark. Die breiten Kreise der demokratischen Intelligenz und die Organe der radikalen Presse begannen die Forderung des allgemeinen gleichen Wahlrechtes aufzustellen. Die zu jener Zeit erst gebildeten politischen Vereine der Advokaten, der Ingenieure, der Agronomen und anderer Mitglieder liberaler Berufe schrieben schon alle die „viergliedrigen“ (allgemein, gleich, direkt, geheim) Formel in ihr Programm ein. Und als Anfang Januar 1905 der Semstwo von Saratow die Novemberresolutionen bespricht, beantragen diejenigen, die Saratow auf dem Novemberkongreß vertreten hatten, selbst, das allgemeine und gleiche Wahlrecht in die Resolution des Saratowschen Semstwo einzuschließen, und motivieren ihre veränderte Ansicht (auf deni Novemberkongreß hatten sie im entgegengesetzten Sinne gestimmt) dadurch, dar das Volk das verlange. Einige Tage vorher wurde demselben Semstwo eine solche Forderung von tausend Arbeitern Saratows eingereicht,
Zu dieser Zeit wird die Öffentlichkeit hauptsächlich von dem Gutsbesitzerliberalismus und der bourgeois-demokratischen Intelligenz beherrscht, und nur die erwähnten friedlichen Manifestationen der Arbeiter stören die Eintönigkeit des Bildes. Aber schon im November und Dezember geht in Polen eine Reihe zahlreicher Arbeiterdemonstrationen gegen den Krieg vor sich, die Massaker durch die zarischen Mamelucken zur Folge haben. Gleichzeitig zeugt eine Reihe stürmischer Emeuten der zur Mobilisierung einberufenen Soldaten von der stetig im Volke wachsenden Abneigung gegen den Krieg, und der im November ausgebrochene „Aufstand“ der Matrosen von Sebastopol, welche sich weigerten, nach dem Kriegsschauplatz zu gehen, trägt schon einen ausgeprägt politischen Charakter. Im Kaukasus bricht ein ungeheurer allgemeiner Streik zu Baku aus.
Unterdessen organisiert Gapon und seine Gesellschaft mit Erlaubnis der Polizei die Arbeitermassen m Petersburg auf den~ Boden der gewerkschaftlichen Selbsthilfe. Versuche der Sozialdemokraten, den bereits von der radikale demokratischen Strömung angesteckten Gapon zu veranlassen, die revolutionäre Bahn zu betreten, stoßen auf seinen heftigen Widerstand. Obgleich unter den Anhängern Gapons, die bis dahin der Politik abweisend gegenübergestanden, der Semstwokongreß im November eine heftige Entrüstung gegen die Liberalen hervorrief [2], welche die Arbeiter des Wahlrechtes berauben wollten, so hielt doch Gapon selbst den Moment für nicht geeignet, zum offenen politischen Kampfe überzugehen. Er wollte seinen Verein noch erweitern und im Kampfe mit den Kapitalisten befestigen; er versprach den Sozialdemokraten, „anzufangen“, wenn Port Arthur genommen worden sei. Der Moment war glücklich gewählt, doch wurden die Anhänger Gapons etwas früher in den Kampf hineinigezpgen durch den Angriff gegen die Mitglieder ihres Vereins durch die geheime Organisation der Petersburger Scharfmacher, welche beschlossen hatten, die Vereinsmitglieder aus den Fabriken hinauszuwerfen. Es brach ein Austand los, der bald zu einem Generalstreik wurde, und, von der Sozialdemokratie getrieben, machen die Anhänger Gapons in ihren Forderungen eine rasche Entwicklung durch bis zur Forderung einer konstituierenden Versammlung und der demokratischen Verfassung. Nun spielen sich die berühmten Januarereignisse in Rußland ab, welche die Periode der offenen Kämpfe des Volkes gegen die Regierung in großem Maßstab einleiten.
Im Laufe des Januar und des Februar gehen die Massenstreiks in ganz Rußland vor sich, von Warschao und Dombrowo an bis nach Tschita und Taschkent, von Archangelsk und Riga bis nach Jekaterinoslaw und Baku. Mehr als eine Million Arbeiter hat an diesen Streiks teilgenommen. Diese kolossale Bewegung gab der Sozialdemokratie neue Kräfte. Das Programm der Petersburger Streikenden hat bei den meisten Streiks dominiert, die Januartage in der Hauptstadt hatten die revolutionärste Bedeutung gehabt. Die politische Szene wurde auf einmal durch die Arbeiterbewegung besetzt.
Das hatte zum unmittelbaren Ergebnis erstens einen energischen Anstoß der liberalen Bewegung unter den Fabrikanten, welche sich entschieden der liberalen Bewegung der Semstwos anschlossen; zweitens eine vollständige Liquidation des „liberalen Kurses“ der Regierung, welcher durch die Trepowsche Diktatur ersetzt wird; drittens die Entstehung einer starken Bauernbewegung, welche im Februar mit großen Unruhen im Süden, im Zentrum und im Osten Rußlands und mit ausgesprochen revolutionären Bewegungen in Polen, den Ostseeprovinzen und Georgien beginnt, wobei in den zwei letztgenannten Gebieten die Bauern unter der Fahne der Sozialdemokratie marschieren. Neben diesen revolutionären Kundgebungen erhebt sich die Welle der friedlichen Bauernmanifestationen in Gestalt von Beschlüssen der Dorfgemeinden über die Notwendigkeit der politischen Freiheit.
Während ganz Rußland durch die grandiosen Streiks erschüttert wird und sich der Kaukasus, Polen und die Ostseeprovinzen beinahe im offenen Aufstand befinden, organisiert die Reaktion die konterrevolutionären Gewalten, indem sie sie aus der Mitte des Lumpenproletariats und des provinzialen verrotteten Kleinbürgertums rekrutiert. Seit Januar 1905 bis jetzt wird systematisch und in immer „grandioserem“ Maße eine Hetzjagd vollführt gegen die studierende Jugend (in Pleskau, Wologda, Kursk, Saratow), gegen die Intellektuellen überhaupt (in Nishni.Nowgorod, Balaschow), gegen die Armenier (in Baku, Eriwan, Nachitschewan), gegen die Juden (in Mohilew, Jekaterinoslaw, Melitopol, Theodosia, Kertsch und mehrere andere) und gegen die sozialdemokratischen Arbeiter (wiederum in Nishni.Nowgorod, Kulebaksche Werke im Gonvernement Nishni-Nowgorod, Tiflis, Kischenew). Die verruchten „schwarzen Hunderte“ arbeiten mit allen Mitteln, von einfachen Schlägereien angefangen bis zu Massenmorden wie in Baku, Nishni-Nowgorod. Das Ergebnis ist, daß die Frage der Organisation einer Volksmiliz aufgeworfen ist, daß die Arbeiter sich Waffen zu verschaffen suchen, daß Bomben eifrig verfertigt und gegen die Helfershelfer der Regierung geworfen werden. Die Dynamitwerkstätten hören auf, ein Zubehör von kleinen terroristischen Organisationen zu sein.
Das „liberale“ System des „Vertrauens“, welches am 22. Januar auf den Kopf geschlagen wurde, hatte seinen Epilog in der Einberufung der bis dahin kein einziges Mal zusammengekommenen Kommission des Geheimen Rates Schidlowsky zur Lösung der „Arbeiterfrage“. Die Petersburger Arbeiter weigerten sich, ihre Vertreter in diese Kommission zu senden, bevor Freiheit und Öffentlichkeit der Kommissionsberatuug garantiert würden. Von den 200 Wahlmännern wählten sie 80 offenkundige Sozialdemokraten, und die Mehrzahl der übrigen nahm das von den Sozialdemoraten aufgestellte Programm der Forderungen an. Bei der Wahlmännerwahl unterwerfen sich die Arbeiter nicht den durch die Regierung eingesetzten Einschränkungen des passiven Wahlrechtes in bezug auf Geschlecht und Alter und wählen auch sozialdemokratische Intellektuelle. Als dann die verlangten Garantien nicht gegeben wurden, weigerten sich die Wahlmänner, in die Kommission einzutreten, und hundert von ihnen wandten sich an das Proletariat von ganz Rußland mit einem Aufruf, das Volk möge den Weg des Kampfes für die Republik unter der Fahne der Sozialdemokratie betreten.
Die Niederlage bei Mukden (März 1905) ruft eine neue Welle der liberal-demokratischen Bewegung hervor. Der „Verband der Vereine“ – eine demokratische Organisation der liberalen Professionen – und die konstitutionell-demokratische Semstwopartei organisieren eine ganze Reihe von „illegalen“ Kongressen, welche nach und nach, obgleich mit einer empörenden Langsamkeit, anfangen, radikale Beschlüsse zu fassen und manchmal darüber zu reden, daß sie bereit seien, den revolutionären Kampf des Volkes zu unterstützen. Übrigens stört sie das nicht, schon am folgenden Tage die unschickliche Komödie der Entsendung der Deputation in den Palast von Peterhof zu spielen.
Unterdessen nimmt die Streikbewegung wiederum einen akuten Charakter an. Nach dem 1. Mai streikt wiederum ganz Rußland; wiederum fließt Blut über die Straßen, und immer häufiger zeigt sich die durch zahllose Massaker erzeugte Erbitterung des Volkes, indem Beamte durch Arbeiter ermordet werden, von Polizeichefs und Offizieren angefangen bis zu den niederen Polizisten und Spitzeln allerlei Art. Der weiße Schrecken. steigt auf seinen Gipfel, der „verstärkte Schutz“ wird durch das Standrecht ersetzt, die Militärgerichte sprechen Todesurteile ... und daneben dulden die Behörden ohnmächtig die systematischen Verletzungen von Gesetzen und Erlassen über das Verbot jeglicher Versammlungen. In den Fabriken, in den Schulen, auf den Straßen werden Meetings von vielen Tausenden abgehalten; ganz öffentlich wird unsere Agitation betrieben. [3]
Die Niederlage von Tsuschima fand ebenfalls ihren Widerhall im Bürgerkrieg: dem Aufstand in Odessa, deni dann der Matrosenaufstaud der Kriegsschiffe Potemkin, Prut, Pobiedonosietz folgt, zu Libau Aufstandsversuche der Panzerschiffe Sinop und Katharina, der mißglückte Versuch der gleichzeitigen Besetzung aller Schiffe der Schwarze Meer-Marine und der Sebastopoler Festung, die mißglückte Verschwörung der Soldaten der Garnison von Kiew, bedeutende Unruhen in der Festung Kronstadt, der offene Soldatenaufstand in Cherson, die Unruhen in den Regimentern der polnischen Garnisonen. Diese Welle der Militäraufstände beginnt erst jetzt und in einem so bedeutenden Maßstab, welcher nichts Gutes für dein Zarismus verspricht. In den letzten zwei Monaten sind die Symptome der revolutionären Gärung sogar in den Kosaken- und Garderegimentern aufgetreten.
Die letzte Schlag mußte schon an und für sich, auch wenn er nicht von den fortdauernden Unruhen der Arbeiter, der Bauern, der Grenzgebiete begleitet gewesen wäre, die Autokratie zu einer · raschen Liquidation der ganzen zwanzig Monate langen Periode führen. Dadurch, daß er den Frieden mit Japan unter erniedrigenden Bedingungen schloß und der Komödie der bloßen „Reform“versprechungen durch die Verkündigung der zarischen „Verfassung“ die Krone aufsetzte – durch diese zwei Akte kann der Zarismus sich auf einige Zeit (auf eine ganz kurze Zeit) eine Frist zum „Atemholen“ erkaufen und damit die blutigste Seite seiner Geschichte schließen. Friede und Bulyginsche „Konstitution“ – diese zwei Ereignisse werden zunächst die weitere Gestaltung des Prozesses der Auflösung des Zarismus bestimmen.
Das Fazit dieser zwanzigmonatlichen Periode ist: das Entstehen – zum erstenmal in Rußland – bestimmt ausgesprochener politischer Parteien; das Hineinziehen der breitesten Volksschichten in den Bürgerkrieg; nicht weniger als hundert Fälle blutiger Zusammenstöße der Bürger mit den Truppen, wobei viele Tausende in irgendwelcher Weise zu Schaden kommen; Hunderte von Polizeibeamten verwundet und getötet; das industrielle Leben furchtbar erschüttert. Und daneben – der Verlust einer Armee von zweimalhunderttausend Köpfen, zweier Flotten, Milliarden von Rubels, aller im fernen Osten zusammengeraubten Gebiete, Verlust des Kredits bei den großen Banken, des Prestiges bei den anderen Staaten.
Auf der anderen Seite: ein kolossales Anwachsen der Kampfeskräfte der Revolution (die Sozialdemokratie allein – in ihren beiden Fraktionen – muß jetzt, nach unseren Berechnungen, in ihren Organisationen nicht weniger als 100.000 Arbeiter vereinigen, hinter denen noch eine vielmal größere Masse derjenigen steht, die die Sozialdemokratie zu unterstützen bereit sind); unerhörte Verbreitung der „unterirdischen“ Presse; Hineindringen der Revolution in alle Kasernen, in kleine Städte und Dörfer.
Alles, was durch Jahrzehnte gesellschaftlicher Entwicklung und durch jahrelange mühsame Arbeit der Revolutionäre ausgesät wurde, hat üppige Früchte gebracht in dem engen Zwischenraum, der keine vollen zwei Jahre umfaßt.
Die Beendigung des Krieges, mit welchem Preise sie auch erkauft ist, gibt dem Zarismus zweifellos wenigstens eine Möglichkeit, die Kräfte zur Bekämpfung der Revolution zusammen. War doch für ihn jeder neue Ukas über eine Mobilisation eine Quelle immer neuer Befürchtungen, und die Furcht vor irgend einer neuen fürchterlichen Niederlage durch die Japaner nötigte ihn, seine blutdürstigen Instinkte den lieben „Untertanen“ gegenüber mitunter im Zaume zu halten. Für die Beendigung des Krieges trat unter den „Ordnungsmännern“ mit verzweifelter Energie der ultrareaktionäre Fürst Meschtschersky die ganze Zeit nach denk 9. (22.) Januar ein.
Die Beendigung des Krieges bedeutet aber andererseits vor allem eine kolossale Enttäuschung der ganzen Masse der dunklen Philister, auf die sich bis jetzt der Zarismus stützte und die bis zu dem Friedensschluß in dem Glauben verharrte, daß Rußland es doch bis zum Siege bringen werde. Die unumgängliche moralische Zersetzung dieser starrköpfigen „patriotischen“ Masse wird sich sehr bald fühlbar machen, und zwar in manchen für den Zarismus ganz unerwarteten Formen. Der spießbürgerliche Patriotismus wird zu einem der Herde der oppositionellen Stimmung werden. Keine geringe Rolle spielen in dieser Masse die groben und unwissenden russischen Offiziere. Und gerade sie werden es sein, die dem Selbstherrschertum viele Sorgen bereiten werden. Man kann erwarten, daß die meisten Offiziere mehr oder weniger oppositionell werden, und am meisten diejenigen unter ihnen, die aus der Mandschurei und aus der Gefangenschaft zurückkehren. Und auf dem Boden dieser massenhaften Unzufriedenheit wird ganz gewiß eine bewußt revolutionäre Bewegung des intelligenteren Teiles der Offiziere erwachsen.
Aber aus der Mandschurei und Japan kehren nicht nur Offiziere zurück. Es werden noch Hunderttausende von Soldaten zurückkehren, bis zum äußersten durch die Scheußlichkeiten der zarischen Wirtschaft empört, deren Augenzeugen und Opfer sie waren; Soldaten, die jedes Vertrauen zur Regierung verloren haben und die, nach Mitteilungen der reaktionären Presse, in der Mandschurei fortwährend mit Flugblättern des Sibirischen Komitees unserer Partei versehen wurden und in der Gefangenschaft eifrig die revolutionäre russische Literatur lasen. Kasernen, Fabriken und Dörfer werden mit einem Schlage von Hunderttausenden natürlichen Agitatoren überflutet. Die Regierung weiß, was das heißen soll: schon bald nach dem 9. Januar spielte , den Landarbeiterunruhen in den baltischen Provinzen die Rolle eines Führers ein Invalide aus Port Arthur. Unlängst befahl Trepow, aus Petersburg einige hundert Verteidiger von Port Arthur auszuweisen, Arbeiter, die in der belagerten Festung gearbeitet und an der Miliz teilgenommen hatten und die jetzt in stürmischen Demonstrationen forderten, daß man ihnen ihren Lohn bezahle, der von dem tapferen „Helden“ Stössel gestohlen war. Und auf dem aufständischen Potemkin war unter anderen „Aufrührern“ auch ein Soldat, der zwei Militärorden für Tschemulpo und Port Arthur hatte. Und soll man noch von der Masse der verschiedensten Enthüllungen sprechen, die wie aus einem Füllhorn von den Teilnehmern des Krieges ausgeschüttet und die täglich vor der Bevölkerung alle die Geschwüre des Zarismus entblößen werden, die in dem fernen Osten zutage traten? Wird vielleicht die Regierung, aus Furcht vor der Rückkehr der Armee, sie in der Mandschurei lassen und die unter die Fahne gerufenen Reservisten zurückbehalten, wie schon einige Blätter es melden? In diesem Falle wäre sie nicht davor sicher, daß die Armee von einer halben Million sich in einem allgemeinen Aufstand erhebt, einem Aufstand, der zum Anfang eines allgemeinen Aufstandes in Rußland werden kann.
Kurz, wie notwendig auch für das Selbstherrschertum die Beendigung des Krieges war, sie wird seinerseits viel Brennstoff in den Scheiterhaufen bringen, dessen Flamme das Gebäude des Zarismus umloht.
Der Krieg hinterläßt aber dem Selbstherrschertum noch eine andere Erbschaft. Die Kapitulation von Port Arthur und die Ereignisse, die darauf folgten, haben dem Zaren das Reskript vom 18. Februar (3. März) entrissen, worin er versprach, die „Volksvertreter“ zusammenzurufen. Die Schmach von Tsuschima und der Aufstand auf dem Schwarzen Meere haben ihn gezwungen, mit dem weiteren Spielen auf den Saiten der gesellschaftlichen Ungeduld aufzuhören und den vervollkommneten Bulyginschen Entwurf zum Gesetz zu machen.
Die Befugnisse und Funktionen der Reichsduma nach dem Ukas des 19. August geben gewiß kein Recht, sie ein Parlament zu nennen. Es ist einfach eine beratende Kammer, der bureaukratischen Maschine unterworfen, die ihre „Meinung“ über die Gesetzentwürfe der zarischen Minister aussprechen, ihre eigenen Gesetzentwürfe vorschlagen, die Regierung über ihre Politik interpellieren kann, ohne jede Möglichkeit, diese Politik zu verändern, da es keine Spur der Verantwortlichkeit der Minister vor der Duma gibt. Unöffentliche Sitzungen, Fehlen einer wirklichen Unantastbarkeit der „Abgeordneten“ (über deren Vorführung vor Gericht entscheidet nicht die Duma, sondern der vom Zaren ernannte Senat, wobei sie vor Gericht vorgeführt werden für „Delikte, die sie bei der Amtsführung begangen“, das heißt zum Beispiel für Reden in der Duma), Fehlen jeder Freiheit der Agitation bei den Wahlen und bei denn Funktionieren der Duma, und endlich die unerhörte Bestimmung des Dumagesetzes, daß „Mitglieder der Duma vor ihren Wählern unverantwortlich sind“ – dies alles beraubt die Duma nicht nur jener Rechte, sondern auch jenes Ansehens, dessen sich in konstitutionellen Ländern auch die bedeutungsloseste Vertretungskörperschaft erfreut.
Es kann überhaupt keine Rede davon sein, daß Rußland durch den Ukas vom 19. August in ein konstitutionelles Land verwandelt worden sei. Es gibt nach wie vor keine Grundgesetze, die dem einseitigen Willen des Monarchen nicht unterworfen wären. Das Gesetz über die Duma selbst kann ebenso durch den Willen des Monarchen verändert oder abgeschafft werden, wie es eingeführt wurde. Im Gesetz selbst wird ausdrücklich bestimmt, dass die von der Duma ausgearbeiteten Gesetzentwürfe alles mögliche berühren können, nur nicht die Grundgesetze Rußlands – und so ein Grundgesetz ist gerade dasjenige, das lautet, daß Rußland einen Staat bildet, der durch den Willen des selbstherrschenden Monarchen regiert wird, der keinen Gesetzen unterworfen ist. Irgendwelche konstitutionell garantierten persönliche Rechte bekommen die russischen Bürger nicht.
Und das Wahlgesetz? Die Staatsmänner des Selbstherrschertum haben sich lange den Kopf zerbrochen über die Frage, wie man mit Hilfe des Wahlgesetzes die Duma zur Opposition absolut unfähig machen soll. Zu diesem Zwecke haben sie vor allem die Beteiligung an den Wahlen zwei Bürgerkategorien völlig vorenthalten: dem Proletariat und der „Intelligenz“, den liberalen Berufen. Das Proletariat hätte den Wählern aus dem Volke (Kleinbürgertum und Bauern) und die Intelligenz den privilegierten Wählern (Fabrikanten, Kaufleute, Gutsbesitzer) allgemeine Ideen gebracht, klare politische Losungen, Gewohnheit zum organisierten Kampfe. Das aber ist gerade gefährlich. Während bei Entfernung dieser beiden Gruppen der Regierung nur zersplitterte soziale Gruppe gegenüberstehen, die es noch nicht verstehen, ihre besonderen Gruppenbestrebungen in allgemeine Klassenforderungen umzuwandeln, die noch nicht gewohnt sind, ihre ökonomischen Bedürfnisse in die Sprache der politischen Programme zu übersetzen, die keine Erfahrung in einem einigermaßen umfangreichen Kampfe in nationalem Rahmen haben, die durch allerlei Kasten-, Korporations-, Religions-, Nationalitäten-, Kirchturmstraditionen und Vorurteile getrennt sind. Es genügt, darauf hinzuweisen, daß noch bis jetzt die liberalen Elemente der Industrie und des bürgerlichen Grundbesitzes keine gemeinsame Organisation haben, und die Partei der „Semstwo~Konstitutionalisten“ hat es nicht verstanden, die Organisationen der progressiven Fabrikanten aufzusaugen. Eine noch größere Kluft besteht zwischen dem unzufriedenen Teile des städtischen Kleinbürgertums und den bürgerlichen Elementen des Bauerntums, geschweige denn den verschiedenen religiösen und nationalen Gruppen derselben Klassen. Kurz, die durch den Ukas abgegrenzte Wählerschaft gibt den günstigsten Boden ab für die reaktionäre Demagogie und polizeiliche Machinationen.
Die Wahlen werden nach dem Zwei- und Vierstufensystem vorgenommen. Mit Ausschluß der zwanzig großen Städte, die besonders vertreten werden, ist das Land in Wahlbezirke nach Gouvernements (1 bis 3 Millionen Einwohner) eingeteilt. Die Abgeordneten werden auf der Gouvernementswahlversammlung gewählt. Diese Versammlung besteht aus einer bestimmten Zahl Wahlmänner, die durch drei Wählerkategorien gewählt werden: freie Grundbesitzer [4], städtische Wähler und Bauern. Für die Grundbesitzer ist ein hoher Zensus (nach Hunderten von Deßjatinen gerechnet), verschieden in verschiedenen Gouvernements, eingeführt; die kleineren Grundbesitzer, die keinen vollen Zensus haben, können einen Bruchteil der Wahlstimme benutzen, indem sie sich zu einer Gruppe vereinigen, die zusammen den vollen Zensus hat, und so einen Bevollmächtigten in die Wählerversammlung entsendet. Eine solche Kreisversammlung der Grundbesitzer sendet eine bestimmte Zahl Wahlmänner in die Gouvernementsversammlung.
Die zweite Kategorie besteht aus den städtischen Hausbesitzern und Zahlern der industriellen und kaufmännischen Steuern (ein sehr hoher Zensus, ohne die Möglichkeit, beim Fehlen des vollen Zensus einen Bruchteil der Wahlstimme zu haben). Sie versammeln sich auch zur Kreisversammlung in der Kreisstadt und senden die Wahlmänner in die Gouvernementsstadt.
Die dritte Kategorie besteht au~ den Bauern. Den Zensus für die Urwähler bildet der Besitz einer Hauswirtschaft (eines Bauernhofs). Die Landlosen, Pächter, erwachsene Mitglieder in großen Bauernfamilien (mit Ausnahme des pater familias) bleiben also rechtlos. Die Verwaltung der Dorfgemeinden geschieht durch von ihnen erwählte Bevollmächtigte, die eine Körperschaft ausmachen, „volostnoi shod“ genannt. Dieser „volostnoi shod“, der auf eine bestimmte Frist zur Führung der laufenden administrativen wirtschaftlichen Geschäfte gewählt wird (also gar keine speziell für die Wahlen gebildete Körperschaft ist), soll nun als Wahleinheit für die Bauern funktionieren, obgleich, wie wir gesehen haben, er in der Leiter der indirekt Wahlen selbst schon eine Organisation zweiten Grades bildet. Die Bevollmächtigten der „volostnoi shod“ sammeln sich zu bäuerlichen Kreisversammlungen, und diese Kreisversammlungen entsenden bäuerliche Wahlmänner zu der – die Vertreter aller Stände einschließenden – Gouvernementsversammlung, die die Abgeordneten für das Gouvernement wählt.
Man hat da schließlich so etwas vor sich wie ein System von einer Gouvernementsvertretung, aus den Vertretern der drei Stände bestehend, die, den ständischen Charakter der Wahlen, aus denen sie hervorgegangen, vergessend, gemeinsam Abgeordnete ins Parlament wählen sollen. Um sie aber doch diesen ständischen Charakter nicht übersehen zu lassen, enthält das Gesetz folgende interessante Bestimmung. Von den für das Gouvernement zu wählenden Abgeordneten (drei bis zehn) soll einer nur von den bäuerlichen Wahlmännern aus ihrer Mitte gewählt werden, die anderen aber sind von der vereinigten Versammlung aller drei „Kurien“ zu wählen.
Dabei ist aber folgendes bemerkenswert: Ein Bauer, der die Ehre hatte, zum Wahlman gewählt zu werden, muß zur Vollziehung der Wahlen von seinem Dorfe in die Gouvernementsstadt wandern. Da das Territorium eines russischen Gouvernements durchschnittlich einem guten Viertel manches Königtums mittlerer Größe gleicht, und da der russische Bauer arm wie Hiob ist und die Kosten der Reise von dem Staate nicht gedeckt werden, ist es augenscheinlich, daß nur wenige Bauern das ihnen zuerteilte Recht, am politischen Leben teilzunehmen, auch wirklich werden ausnutzen können.
Nun einige Zahlen zur Charakteristik des Verhältnisses, worin verschiedene Kategorien bei den Gouvernementswahlen vertreten sein werden.
|
Zahl der Wahlmänner |
||
---|---|---|---|
Gouvernement |
Bauern |
Großgrundbesitzer |
Städtische |
Bessarabien |
48 |
56 |
21 |
Podolien |
82 |
76 |
37 |
Taurien |
42 |
81 |
23 |
Kiew |
80 |
74 |
71 |
Cherson |
50 |
69 |
81 |
Twer |
49 |
41 |
80 |
Überall wählt ein Haufen Grundbesitzer 30 bis 45 Prozent der Wahlmänner. Nirgends aber bekommen sie das absolute Übergewicht über die beiden anderen Kategorien, da dieses, bei der größeren Freiheit der Grundbesitzer von polizeilicher Willkür, in liberalen Gouvernements den Semstwo-Konstitutionalisten einen Sieg verschaffen könnte.
Überall sind die Millionen Bauern ungefähr durch dieselbe Zahl Wahlmänner „vertreten“ wie die Grundbesitzer. Die Gruppe der städtischen Wahlmänner (20 bis 30 Prozent der Gesamtzahl), durch die Masse der Kleinbürger gewählt, aus denen bis jetzt in den kleinen Städten die Regierung die „schwarzen Banden“ rekrutierte, soll die Rolle der „Ordnungs“stütze spielen, indem sie sich mit den Bauern vereinigt, wenn die Grundbesitzerwahlmänner liberal, mit den letzteren, wenn trotz aller polizeilichen Machinationen die bäuerlichen Wahlmänner radikal gestimmt erscheinen. Das ist eben der Grund, warum die städtischen „Krämer“ eine verhältnismäßig so große Vertretung erhalten, die weder ihrer wirklichen numerischen Stärke noch ihrer nichts weniger als „ehrenvollen“ Stellung im traditionellen russischen Staatsrecht entspricht.
In zwanzig größeren Städten wählen die Wähler derselben Kategorien wie in den kleinen (Hausbesitzer, Besitzer der industriellen und kommerziellen Unternehmungen von bestimmtem Werte), sowie sehr reiche Wohnungsmieter (in Petersburg muß die Wohnungsmiete 1.820 Rubel – beinahe 3.000 Mark – betragen!), 80 resp. 160 Wahlmänner, welche die Abgeordneten zu wählen haben, wobei Warschau mit 600.000 Einwohner, Odessa mit 400.000 ebensoviel Abgeordnete wählen wie Orel mit 70.000, Woronesch mit 80.000, Tula mit 110.000 – je einen Abgeordneten von jeder Stadt.
In Moskau und Petersburg wird es ungefähr je 10.000 Wahlberechtigte geben, in den großen Provinzstädten je 1.000 bis 2.000.
So sieht das aberwitzige Bulyginsche Wahlgesetz aus.
De facto wird das Wahlrecht nicht nur den Arbeitern und der Intelligenz vorenthalten, sondern auch den Bauern, da sie sich zu den Wahlurnen erst durch das Dickicht des Wahlreglements und aller der in Kraft bleibenden Bestimmungen, die den Bauern zum Sklaven der Polizei machen, durcharbeiten müssen.
Vielleicht aber ist es gerade dieser Umstand, durch den die elementare Kraft der Revolution das ganze Gebäude der Bulyginschen „Konstitution“ zum Zusammenbruch bringen wird.
Das Bauerntum erwartete gierig das Manifest. Durch alle Ereignisse der letzten Jahre stark aufgeregt und psychologisch schon dazu veranlagt, nach allrussischem Maßstab diejenige revolutionäre Agrarbewegung durchzumachen, die es zu verschiedener Zeit in vielen Gegenden schon durchgemacht hat, sehnt es sich in seiner Masse nach der: Möglichkeit, zum politischen Zentrum des Laudes mit seinen Forderungen der Agrarreform und der bürgerlichen Freiheit „durchzudringen“. So entsteht die Frage, ob der Zarismus sich nicht in seinen eigenen Netzen verwickeln wird? Ob nicht schon die ersten Wahlen auf dem Lande das Signal geben zur allgemeinen Absetzung der zarischen Beamten durch die Bauern, nachdem diese sich überzeugt haben werden, daß die zarische „Duma“ nicht jene Versammlung der freigewählten Vertreter aller Dorfgemeinden sein wird, wie die Bauern sie sich jetzt vorstellen. Vor kurzer Zeit veröffentlichte die Petersburger Wochenschrift Pravo eine Petition einer Dorfgemeinde des Twerschen Gouvernements, wo freilich die Banern, dank den engen Beziehungen zur Fabrikbevölkerung, ein besonders hohes Niveau politischer Kultur besitzen, wo aber doch die revolutionäre Aufregung fehlt, die die die Dörfer der Saratowschen, Kiewschen, Poltawaer und Chersoner Gouvernements so charakteristisch ist. Indem die Bauern die Einberufung der auf Grund des allgemeinen, gleichen, direkten Wahlrechtes mit geheimer Abstimmung gewählten Volksvertreter fordern, sagen sie in ihrer Petition der Regierung: wisset, daß wir durch keine Halbmaßnahmen befriedigt sein werden, denn wir verstehen es sehr gut, daß wir selbst bei der Durchführung unseres ganzen Programms nicht mit einem Rucke aus unserem jetzigen Elend herauskommen werden. Gebt uns also nach oder schießt uns alle nieder. Wir möchten übrigens sehen, fährt die Petition fort, wie euch das gelingen wird, denn unsere Söhne in Soldatenröcken versprechen, auf uns nicht zu schießen.
Solche Sprache führten in ihren Petitionen an den Selbstherrscher noch nie unsere „aufgeklärten“ Liberalen und Demokraten.
Es steht überhaupt dem russischen Bauerntum in naher Zukunft bevor, sein Wort in der russischen Revolution zu reden. Die neue Mißernte, die über Rußland sich verbreitet, muß unbedingt, in Verbindung mit allen vorangehenden Ereignissen, eine noch nie dagewesene Bauernbewegung hervorrufen, und diese Bewegung wird mehr als je zuvor von politischen Bestrebungen durchdrungen sein, die nur erstarken und sich entwickeln können durch die die Berührung des Bauerntums mit der Bulyginschen „Konstitution“.
Ob nun die liberale Demokratie, die, im Rahmen der durch den Ukas vom 6. (19.) August geschaffenen Wählerschaft, die einzige dem Zarismus oppositionelle Kraft darstellt, ob sie es verstehen wird, die Wahlagitation und – wenn es dazu kommen wird – die Einberufung der Duma zur Vertiefung und Verbreitung der vorliegenden revolutionären Volksbewegung auszunutzen? Es ist schwer, diese Frage zu beantworten. Hat doch die liberale Demokratie bis jetzt am wenigsten die Garantien gegeben dafür, daß sie es es verstehen werde, sei es auch nur temporär, eine revolutionäre Taktik zu verfolgen. Ewiges Schwanken und Sprünge, nie verschwindende Furcht vor den „extremen Elementen“, stete Geneigtheit zu Illusionen, wenn es sich um einen vermeintlichen Windwechsel oben handelt, und ebensolche Geneigtheit zum Pessimismus, wenn es gilt, das Volk aufzurufen, – so sehen die charakteristischen Züge unserer liberalen Demokratie aus. Auf ihrem Julikongreß, der den Kulminationspunkt ihrer Entwicklung darstellt, weigerte sich die liberale Semstwopartei, die Frage über ihre Taktik im Falle der Oktroyierung der Bulyginschen „Konstitution, zu entscheiden und überließ diese Entscheidung dem nächstfolgenden Kongreß. Nach dem Ukas. vom 6. (19.) August führte die liberal-demokratische Presse eine sehr bittere Sprache über ihre zertrümmerten Hoffnungen, brachte aber nur äußerst wenig Hinweise darauf, daß es nun für die Liberalen dringend notwendig sei, mit der Durchführung des im Juli von ihnen angenommenen Beschlusses zu eilen – zum Volke zu gehen und in das Bauerntum und das städtische Kleinbürgertum· die oppositionelle Agitation zu tragen. So wird denn auch dieser Entschluß nur in ganz unbedeutendem Maße durchgeführt, wobei auch meistenteils das ganze Unternehmen dabei stocken bleibt, daß der Semstwo für die Bauern die lakaienhafte Rede drucken läßt, die vom liberalen Sprecher beim Empfang derb Semstwodeputation durch den Zaren gehalten wurde. Beiläufig bemerkt, konfisziert die Polizei sehr oft Sendungen, die diese Rede enthalten, also ganz legale Postsendungen; und damit ist die Agitation beendigt. Charakteristisch ist es, daß auf demselben Julikongreß beschlossen wurde, sich an das Volk mit einem Ausruf zu wenden. Als aber Petrunkewitsch den Text eines derartigen. Aufrufs verfaßte, waren die Semstwoleute über den „scharfen“ Ton erschreckt, und im Auftrag des Kongresses wurde der Aufruf von einigen Professoren in der Weise kastriert, daß er fast ausschließlich auf die Ermahnung hinauslief, die Bevölkerung möge sich in ihrem Kampfe mit der Reaktion nur der „friedlichen“ und „legalen“ Mittel bedienen.
Und doch kann nur ein energischer Versuch, das Kleinbürgertum auf dem Lande und in Städten, die der Einwirkung der revolutionären Parteien unzugänglich sind, um sich zu scharen, die Liberalen vor der Zerschmetterung bei den Wahlen bewahren. Die Liberalen fürchten aber offenbar scharfe ·Zusammenstöße mit der Regierung bei der Durchführung eines solchen Versuchs, weil derartige Zusammenstöße unumgänglich den Kampf für die Freiheit der Wahlen auf den Weg des „illegalen“ revolutionären Kampfes führen müßten. Und wenn wir hören, daß sich die Liberalen in Erwartung der Wahlen organisieren und Parteien bilden, so kommt dies alles nicht über den engen Kreis derjenigen gebildeten Grundbesitzer und städtischen Bourgeois heraus, in denen die Liberalen bis jetzt wirkten.
Die Furcht vor der Zerschmetterung bei den Wahlen durch die Reaktion diktiert vielen Liberalen (hauptsächlich den radikal-demokratischen Elementen) die Losung: „boykottieren“ wir die Wahlen im Namen der Forderung der Einberufung einer wirklichen und freien Vertretung. Die Losung, die einem solchen „Boykott“ in den liberalen Sphären entgegengesetzt wird, lautet eigentlich: „Wir wollen wählen, und dann ... dann wird man schon sehen.“ Und doch, wenn man vor so einem reaktionären Streich wie die Bulyginsche Konstitution steht, kann man den „Boykott“, das heißt die Wahlenthaltung nur dann ablehnen, wenn man den Entschluß gefasst hat, die Duma zu erobern, um sie zum Mittelpunkt der revolutionären Attacke gegen den Zarismus zu machen. Nichts Derartiges aber planen die Liberalen!
Die Idee eines „Boykotts“, von einigen Demokraten proklamiert, hat Zustimmung auch bei einem Teile der Sozialdemokraten gefunden, die meinen,. daß das Proletariat von allen Wählern Enthaltung von den Wahlen fordern muß, um auf solche Weise die irrsinnige Bulyginsche Institution zu „sprengen“. In diesem Sinne sprach sich die von Lenin geleitete Zeitung Der Proletarier und das Zentralkomitee des „Bundes“ aus, wobei das letztere die Arbeiter in seiner Proklamation auffordert, nötigenfalls mit Gewalt die „legalen“ Wahlmänner zu vertreiben. Dieselbe Handlungsweise befürworteten, innerhalb der durch die Iskra vertretenen Fraktion, die Genossen in Petersburg, Astrachan, Marinpol. Für Propaganda und Unterstützung des Boykotts sprach sich auch eine Konferenz der Parteiorganisationen (beider Fraktionen) von Riga, Wilna, Dwinsk, Witebsk, Homel, Minsk und Smolensk aus, die im September tagte.
Ein Boykott aber, der bezweckt, eine einigermaßen bedeutende Zahl der vom Zaren zusammenberufenen „Vertreter“ nicht zusammenkommen zu lassen, hat nur dann einen Sinn, wenn die Hoffnung besteht, ihn in genügend großem Maßstab durchzuführen. Andernfalls bedeutet er bloß eine Ausschaltung aller progressiven Wähler und erleichtert die Bestrebungen der Regierung, eine völlig „unschädliche“ Duma zu bekommen. Dies kann aber als ein positives Resultat nur vom Standpunkt derer eingeschätzt erden, welche die mächtige, die Massen revolutionierende Wirkung unterschätzen, die aus scharfen Parlamentarischen Konflikten hervorgehen muß. Und solche Konflikte müssen sich unumgänglich zwischen Duma und Regierung, und innerhalb der Duma selbst – zwischen der progressiven Bourgeoisie und den reaktionären Elementen entwickeln. Für ein Land, das keine politische Erfahrung hat, muß die agitatorische Wirkung solcher Konflikte eine ungeheure sein. Eine revolutionäre Partei, die keinen Platz innerhalb der Duma findet, wird solche Konflikte im Interesse der Weiterentwicklung der Volksbewegung auszunutzen wissen, und deren Wellen werden dann bald die Duma selbst samt ihrer Urheberin, der Regierung, überfluten. Noch mehr wird sie jenen Kampf um die Wahlfreiheit auszunutzen wissen und notwendigerweise wird er entbrennen beim Versuch der „legalen“ Wähler, die ihnen oktroyierten Rechte zu verwirklichen.
Daß aber die revolutionären Parteien jetzt die Macht besäßen, um die Wahlen wirklich unmöglich zu machen, wird gewiß niemand zu behaupten wagen. Hätten wir solche Macht, so wären wir schon jetzt stark genug, um mit der Bulyginschen „Konstitution“ zusammen auch die Regierung zu stürzen, die sie gebar. Der Versuch aber, nur zur Demonstrierung unseres· Protestes, mit Gewalt die Wahlen zu verhindern, könnte nur zu unliebsamem Konflikt zwischen uns, dem Bauerntum und Kleinbürgertum führen, und vielleicht auch noch dazu, daß es der Regierung gelingen würde, dem letzteren den ganzen polizeilichen Apparat zu verheimlichen, den sie, um auf die Wahlen zu wirken, ins Werk setzen wird.
Dies waren die Gründe, aus denen die Iskra der dem Proletariat empfohlenen Taktik, den „Boykott“ zu unterstützen, entgegentrat. Dieser Taktik setzte sie den Vorschlag entgegen, neben den Wahlen der „legalen“ Vertreter und unabhängig von diesen Wahlen das Volk zur freien Wahl wirklicher, von allen zu wählender Volksvertreter aufzurufen. Ihre Versammlungen würden dem Volke eine temporäre Organisation geben, seine revolutionäre Energie konzentrieren und seine Bewegung zur Erkämpfung der wirklichen Freiheit lenken. Indem der Kampf um die Verwirklichung einer solchen „revolutionären Selbstverwaltung“ die Volkskräfte gesammelt und organisiert hätte, würde er zugleich die Entwicklung der Revolution vorwärts getrieben, die Tätigkeit der bürgerlichen Opposition in der Duma stimuliert, die Konflikte der Nation mit dem Zarismus verschärft und den letzteren dazu gezwungen haben, das Feigenblatt des „Liberalismus“ beiseite zu werfen. Zum Unterschied von der „Boykott“-Taktik, die nur einen Sinn hat, wenn sie mehr oder weniger allerorts mit Erfolg durchgeführt wird, hätte eine solche Agitation eine kolossale revolutionäre Wirkung selbst dann, wenn es gelänge, sie nur in einem bedeutenden Teile des Landes durchzuführen, wo die politischen Verhältnisse genügend revolutioniert sind.
Die Erwideruug, daß der Zarismus das klassenbewußte Proletariat in der Organisation eines solchen Feldzugs verhindernd die Gewählten verhaften und die Versammlungen sprengen wird, trifft nicht zu, denn solche Pläne sind eben auf die wachsende Desorganisation des Zarismus berechnet, die es ihm nicht erlaubt, die üblichen Mittel seiner Politik im vollen Maße auszunutzen. Und soweit diese Repression ihr Ziel erreicht. Und soweit sie nur zu neuen scharfen Zusammenstößen zwischen dem Zarismus und den breiten Volksmassen führen, ohne sie in Konflikt mit jenem kleinbürgerlichen Teile der Wählerschaft zu bringen, der im Interesse der Revolution vom Proletariat nicht „terrorisiert“ werden darf.
Die von der Iskra vorgeschlagene Taktik ist schon von Genossen in Kiew, Moskau, Odessa und von einem Teile der Genossen in Rostow befürwortet worden (in Organisationen der Iskra-Fraktion). Zu derselben Anschauung neigen auch die Genossen in Charkow und Nishni-Nowgorod. Andererseits erwägen die Sozialdemokraten in Tiflis sogar die Möglichkeit eines direkten Eingreifens in den Wahlkampf da und soweit sich dort das Bauerntum (einschließlich der besitzenden Bauern) in vielen Orten unserer Partei anschließt. Die Meinungsverschiedenheiten in dieser taktischen Frage haben eine sehr lebhafte Diskussion in allen sozialdemokratischen Organisationen hervorgerufen und das Bestreben, sich auf dem Boden einer einheitlichen Taktik zu einigen. Beiläufig gesagt, hat dieser Umstand sehr die Chancen jener Tendenz zur Vereinigung der zersplitterten sozialdemokratischen Kräfte in Rußland gehoben, die in der letzten Zeit stark hervortritt. [5]
Wie aber auch die Partei zuletzt vorgehen wird, das Ziel ihrer Taktik wird sein: die Bulyginsche „Konstitution“ zur Mobilisation der ganzen, durch das Wahlgesetz ausgeschalteten Volksmasse zu neuen Angriffen gegen den Zarismus auszunutzen. Ob sich die Duma so gestaltet, wie die Regierung sie zu sehen wünscht, oder ob sie zur Arena eines ernsthaften Kampfes der Bourgeoisie für die politische Freiheit wird – jedenfalls bleibt es die Aufgabe des Proletariats, die Lage, wie sie durch den Ukas vom 6. (19.) August und den Portsmouther Frieden geschaffen ist, auszunutzen und durch seine Agitation und seine Massenkundgebungen den Moment vorzubereiten, dem der siegreiche Aufstand des Volkes mit einem Schlage den gordischen Knoten der russischen politischen Verhältnisse durchhauen kann ...
1. Die Partei der Sozialisten-Revolutionäre hat sich natürlich ebenfalls gegen den Krieg ausgesprochen, aber hierfür keine besondere Agitation unter den Massen entfaltet.
2. Diese Nachrichten habe ich von Gapon persönlich.
3. Besonders haben die Petersburger Arbeiter solche Freiheit genossen (bis zum 1. Mai) und später die Arbeiter in Warschau, Lodz, Riga, Reval, Nishni-Nowgorod, Tiflis, Batum, Baku, Tomsk, Taschkent, Charkow, Kubansches Gebiet, Gomel.
4. Die Bauerngemeinden gehören nicht zum freien Grundbesitz und werden in der russischen Gesetzgebung dem „privaten“, das heißt freien Grundbesitz gegenübergestellt.
5. Die Vereinigung der beiden Fraktionen der sozialdemokratischen Partei Rußlands (Iskra und Proletarier) wird, wie es scheint, bald zur Tatsache. Wenigstens noch nie in den zwei Jahren seit der Spaltung, die die beiden Fraktionen entstehen ließ, war das Streben zur Wiederherstellung der Einigkeit so stark bemerkbar. An einigen Orten haben die Organisationen beider Fraktionen eine ständige föderative Vereinigung gebildet, und die oben erwähnte e Konferenz der westrussischen Parteiorganisationen war der erste gelungene Versuch einer solchen Vereinigung über ein ganzes Gebiet.
Zuletzt aktualisiert am 11.08.2010