Rosa Luxemburg


Die Krise der Sozialdemokratie


VI

Die andere Seite in der Haltung der Sozialdemokratie war die offizielle Annahme des Burgfriedens, das heißt die Einstellung des Klassenkampfes für die Dauer des Krieges. Die im Reichstag am 4. August verlesene Fraktionserklärung war selbst der erste Akt dieser Preisgabe des Klassenkampfes: ihr Wortlaut war im voraus mit den Vertretern der Reichsregierung und der bürgerlichen Parteien vereinbart, der feierliche Akt des 4. August war ein hinter den Kulissen vorbereitetes patriotisches Schaustück fürs Volk und für das Ausland, in dem die Sozialdemokratie bereits die von ihr übernommene Rolle neben anderen Teilnehmern spielte.

Die Bewilligung der Kredite durch die Fraktion gab das Stichwort allen leitenden Instanzen der Arbeiterbewegung. Die Gewerkschaftsführer veranlaßten sofort die Einstellung aller Lohnkämpfe und teilten dies ausdrücklich unter Berufung auf die patriotischen Pflichten des Burgfriedens den Unternehmern offiziell mit. Der Kampf gegen die kapitalistische Ausbeutung wurde für die Dauer des Krieges freiwillig aufgegeben. Dieselben Gewerkschaftsführer übernahmen die Lieferung städtischer Arbeitskräfte an die Agrarier, um ihnen die ungestörte Einholung der Ernte zu sichern. Die Leitung der sozialdemokratischen Frauenbewegung proklamierte die Vereinigung mit bürgerlichen Frauen zum gemeinsamen „nationalen Frauendienst“, um die wichtigste nach der Mobilmachung im Lande gebliebene Arbeitskraft der Partei statt zur sozialdemokratischen Agitation zu nationalen Samariterdiensten, wie Verteilung von Suppen, Erteilung von Rat usw. zu kommandieren. Unter dem Sozialistengesetz hatte die Partei am meisten die Parlamentswahlen ausgenützt, um allen Belagerungszuständen und Verfolgungen der sozialdemokratischen Presse zum Trotz Aufklärung zu verbreiten und ihre Position zu behaupten. Jetzt verzichtete die Sozialdemokratie bei den Parlamentsnachwahlen zum Reichstag, den Landtagen und den Kommunalvertretungen offiziell auf jeden Wahlkampf, das heißt auf jede Agitation und Aufklärung im Sinne des proletarischen Klassenkampfes, und reduzierte die Parlamentswahlen auf ihren schlichten bürgerlichen Inhalt: auf die Einheimsung von Mandaten, über die sie sich mit den bürgerlichen Parteien schiedlich-friedlich einigte. Die Zustimmung der sozialdemokratischen Vertreter zu dem Etat in den Landtagen und Kommunalvertretungen – mit Ausnahme des preußischen und elsaß-lothringischen Landtags –, unter feierlicher Berufung auf den Burgfrieden unterstrich den schroffen Bruch mit der Praxis vor dem Kriegsausbruch. Die sozialdemokratische Presse, mit höchstens ein paar Ausnahmen, erhob laut das Prinzip der nationalen Einigkeit zum Lebensinteresse des deutschen Volkes. Sie warnte gleich bei Ausbruch des Krieges vor dem Zurückziehen der Guthaben aus den Sparkassen, wodurch sie nach Kräften die Beunruhigung des ökonomischen Lebens im Lande verhütete und die hervorragende Heranziehung der Sparkassen zu den Kriegsanleihen sicherte; sie warnte die Proletarierinnen davor, ihren Männern im Felde von ihrer und ihrer Kinder Not, von der ungenügenden Versorgung durch den Staat zu berichten, und riet ihnen, auf die Krieger lieber durch Schilderungen holden Familienglücks „und durch freundliche Darstellung der Hilfe, die bisher gewährt wurde, beruhigend und erhebend zu wirken“. [1*] Sie pries die erzieherische Arbeit der modernen Arbeiterbewegung als hervorragendes Hilfsmittel der Kriegführung, zum Beispiel in folgendem klassischen Probestück:

Wahre Freunde erkennt man nur in der Not. Dieses alte Sprichwort wird im Augenblick zum Wahrwort. Die drangsalierten, gehudelten und gebüttelten Sozialdemokraten treten wie ein Mann auf zum Schutze der Heimat, und die deutschen Gewerkschaftszentralen, denen man in Preußen-Deutschland das Leben oft so sauer machte, sie berichten übereinstimmend, daß ihre besten Leute sich bei der Fahne befinden. Sogar Unternehmerblätter vom Schlage des Generalanzeiger melden diese Tatsache und bemerken dazu, sie seien überzeugt, daß „diese Leute“ ihre Pflicht erfüllen werden wie andere, und daß dort, wo sie stehen, die Hiebe vielleicht am dichtesten fallen werden.

Wir aber sind der Überzeugung, daß unsere geschulten Gewerkschafter noch mehr können als „dreinhauen“. Mit den modernen Massenheeren ist das Kriegführen für die Generale nicht etwa leichter geworden, das moderne Infanteriegeschoß, mit dem man beinahe bis auf 3.000 Meter, sicher aber bis auf 2.000 Meter noch „Treffer“ erzielen kann, macht es den Heerführern ganz unmöglich, große Truppenverbände in geschlossener Marschkolonne vorwärts zu bringen. Da muß vorzeitig „auseinandergezogen“ werden, und dieses Auseinanderziehen erfordert wieder eine viel größere Zahl von Patrouillen und eine solche Disziplin und Klarheit des Blickes nicht nur bei den Abteilungen, sondern auch beim einzelnen Mann, daß sich in diesem Kriege wirklich zeigen wird, wie erzieherisch die Gewerkschaften gewirkt haben und wie gut man sich auf diese Erziehung in so schlimmen Tagen wie den jetzigen verlassen kann. Der russische und der französische Soldat mögen Wunder an Tapferkeit vollbringen, in der kühlen ruhigen Überlegung wird ihnen der deutsche Gewerkschafter über sein. Wozu noch kommt, daß die organisierten Leute oft in den Grenzgebieten Weg und Steg wie ihre Hosentasche kennen daß manche Gewerkschaftsbeamte auch über Sprachkenntnisse verfügen usw. Wenn es also anno 1866 hieß, der Vormarsch der preußischen Truppen sei ein Sieg des Schulmeisters gewesen, so wird man diesmal von einem Sieg des Gewerkschafsbeamten reden können. (Frankfurter Volksstimme vom 18. August 1914.)

Das theoretische Organ der Partei, Die Neue Zeit (Nr.  23 vom 25. September 1914), erklärte: „Solange die Frage bloß lautet, ob Sieg oder Niederlage, drängt sie alle anderen Fragen zurück, sogar die nach Zweck des Krieges. Also erst recht alle Unterschiede der Parteien, Klassen, Nationen innerhalb des Heeres und der Bevölkerung.[1] [Hervorhebungen – RL] Und in ihrer Nr.  8 vom 27. November 1914 erklärte dieselbe Neue Zeit in einem Artikel Die Grenzen der Internationale:/p>

Der Weltkrieg spaltet die Sozialisten in verschiedene Lager und vorwiegend in verschiedene nationale Lager. Die Internationale ist unfähig, das zu verhindern. [Hervorhebung –RL]

Das heißt, sie ist kein wirksames Werkzeug im Kriege, sie ist im wesentlichen ein Friedensinstrument. [2]

Ihre „große historische Aufgabe“ sei „Kampf für den Frieden, Klassenkampf im Frieden“.

Der Klassenkampf ist also von der Sozialdemokratie mit dem 4. August 1914 und bis zum künftigen Friedensschluß für nicht existierend erklärt. Deutschland verwandelte sich mit dem ersten Donner der Kruppkanonen in Belgien in ein Wunderland der Klassensolidarität und der gesellschaftlichen Harmonien.

Wie soll man sich dies Wunder eigentlich vorstellen? Der Klassenkampf ist bekanntlich nicht eine Erfindung, nicht eine freie Schöpfung der Sozialdemokratie um von ihr beliebig und aus freien Stücken für gewisse Zeitperioden abgestellt werden zu können. Der proletarische Klassenkampf ist älter als die Sozialdemokratie; ein elementares Produkt der Klassengesellschaft, lodert er schon mit dem Einzug des Kapitalismus in Europa auf. Nicht die Sozialdemokratie hat erst das moderne Proletariat zum Klassenkampf angeleitet, sie ist vielmehr selbst von ihm ins Leben gerufen worden, um Zielbewußtsein und Zusammenhang in die verschiedenen örtlichen und zeitlichen Fragmente des KIassenkampfes zu bringen. Was hat sich nun daran mit dem Ausbruch des Krieges geändert? Hat etwa Privateigentum, kapitalistische Ausbeutung, Klassenherrschaft aufgehört? Haben etwa die Besitzenden in der Aufwallung des Patriotismus erklärt: jetzt, angesichts des Krieges, geben wir für seine Dauer die Produktionsmittel: Grund und Boden, Fabriken, Werke in den Besitz der Allgemeinheit, verzichten auf die alleinige Nutznießung der Güter, schaffen alle politischen Privilegien ab und opfern sie auf dem Altar des Vaterlandes, solange es in Gefahr ist? Die Hypothese ist höchst abgeschmackt und gemahnt an die Kinderfibel. Und doch wäre dies die einzige Voraussetzung, auf die logisch die Erklärung der Arbeiterklasse hätte folgen können: der Klassenkampf wird eingestellt. Aber es erfolgte natürlich nichts derartiges. Im Gegenteil: alle Eigentumsverhältnisse, die Ausbeutung, die Klassenherrschaft, selbst die politische Entrechtung in ihrer mannigfachen preußisch-deutschen Gestalt sind intakt geblieben. An der ökonomischen, sozialen und politischen Struktur Deutschlands hat der Donner der Kanonen in Belgien und Ostpreußen nicht das geringste geändert.

Die Aufhebung des Klassenkampfes war also eine ganz einseitige Maßnahme. Während der „innere Feind“ der Arbeiterklasse, die kapitalistische Ausbeutung und Unterdrückung, geblieben ist, haben die Führer der Arbeiterklasse: Sozialdemokratie und Gewerkschaften, in patriotischem Großmut die Arbeiterklasse diesem Feinde für die Dauer des Krieges kampflos ausgeliefert. Während die herrschenden Klassen in voller Rüstung ihrer Besitzer- und Herrscherrechte blieben, wurde dem Proletariat von der Sozialdemokratie die „Abrüstung“ anbefohlen.

Das Wunder der Klassenharmonie, der Verbrüderung aller Schichten in einer modernen bürgerlichen Gesellschaft hat man schon einmal erlebt – im Jahre 1848 in Frankreich.

In der Idee der Proletarier – schreibt Marx in seinen Klassenkämpfen in Frankreich –, welche die Finanzaristokratie mit der Bourgeoisie überhaupt verwechselten; in der Einbildung republikanischer Biedermänner, welche die Existenz selbst der Klassen leugneten oder höchstens als Folge der konstitutionellen Monarchie zugaben; in den heuchlerischen Phrasen der bisher von der Herrschaft ausgeschlossenen bürgerlichen Fraktionen war die Herrschaft der Bourgeoisie abgeschafft mit der Einführung der Republik. Alle Royalisten verwandelten sich damals in Republikaner und alle Millionäre von Paris in Arbeiter. Die Phrase, welche dieser eingebildeten Aufhebung der Klassenverhältnisse entsprach, war die fraternité, die allgemeine Verbrüderung und Brüderschaft. Diese gemütliche Abstraktion von den Klassengegensätzen, diese sentimentale Ausgleichung der sich widersprechenden Klasseninteressen, diese schwärmerische Erhebung über den Klassenkampf, die Fraternité, sie war das eigentliche Stichwort der Februarrevolution... Das Pariser Proletariat schwelgte in diesem großmütigen Fraternitätsrausche... Das Pariser Proletariat, das in der Republik seine eigene Schöpfung erkannte, akklamierte natürlich jedem Akt der provisorischen Regierung, der sie leichter in der bürgerlichen Gesellschaft Platz greifen ließ. Von Caussidière ließ es sich willig zu Polizeidiensten verwenden, um das Eigentum in Paris zu beschützen, wie es die Lohnzwiste zwischen Arbeitern und Meistern von Louis Blanc schlichten ließ. Es war sein Point d’honneur, vor den Augen von Europa die bürgerliche Ehre der Republik unangetastet zu lassen. [3]

Im Februar 1848 hatte also das Pariser Proletariat in naiver Illusion auch den Klassenkampf abgestellt, aber wohlgemerkt nachdem es durch seine revolutionäre Aktion die Julimonarchie zerschmettert und die Republik erzwungen hatte. Der 4. August 1914, das war die auf den Kopf gestellte Februarrevolution: Die Aufhebung der Klassengegensätze nicht unter der Republik, sondern unter der Militärmonarchie, nicht nach einem Siege des Volkes über die Reaktion, sondern nach einem Siege der Reaktion über das Volk, nicht bei der Proklamierung der Liberté, Egalité, Fraternité, sondern bei der Proklamierung des Belagerungszustands, Erdrosselung der Preßfreiheit und Aufhebung der Verfassung. Die Regierung proklamierte feierlich den Burgfrieden und nahm den Handschlag aller Parteien darauf, ihn ehrlich einzuhalten. Aber als erfahrener Politiker traute sie dem Versprechen nicht recht und sicherte sich den „Burgfrieden“ – durch handgreifliche Mittel der Militärdiktatur. Die sozialdemokratische Fraktion akzeptierte auch das ohne jeden Protest und Widerstand. Nicht mit einer Silbe verwahrte sich die Reichstagserklärung der Fraktion vom 4. August und auch die vom 2. Dezember gegen die Ohrfeige des Belagerungszustands. Mit dem Burgfrieden und den Kriegskrediten bewilligte die Sozialdemokratie stillschweigend den Belagerungszustand, der sie selbst geknebelt den herrschenden Klassen vor die Füße legte. Damit erkannte sie zugleich an, daß zur Verteidigung des Vaterlandes der Belagerungszustand, die Knebelung des Volkes, die Militärdiktatur notwendig seien. Aber der Belagerungszustand war gegen niemand anderen als gegen die Sozialdemokratie gerichtet. Nur von ihrer Seite konnte man Widerstand, Schwierigkeiten und Protestaktionen gegen den Krieg erwarten. Im gleichen Atem, wo man unter Zustimmung der Sozialdemokratie den Burgfrieden, also Aufhebung der Klassengegensätze proklamierte, wurde sie selbst, die Sozialdemokratie, in Belagerungszustand erklärt, gegen die Arbeiterklasse der Kampf in seiner schärfsten Gestalt, in der Form der Militärdiktatur proklamiert. Als Frucht ihrer Kapitulation erhielt die Sozialdemokratie, was sie im schlimmsten Falle einer Niederlage bei entschlossenem Widerstand erhalten hätte: den Belagerungszustand! Die feierliche Erklärung der Reichstagsfraktion beruft sich zur Begründung der Kreditbewilligung auf das sozialistische Prinzip: das Selbstbestimmungsrecht der Nationen. Der erste Schritt der „Selbstbestimmung“ der deutschen Nation in diesem Kriege war die Zwangsjacke des Belagerungszustands, in die man die Sozialdemokratie steckte. Eine größere Selbstverhöhnung einer Partei hat die Geschichte wohl kaum je gesehen.

Mit der Annahme des Burgfriedens hat die Sozialdemokratie für die Dauer des Krieges den Klassenkampf verleugnet. Aber damit verleugnete sie die Basis der eigenen Existenz, der eigenen Politik. Was ist jeder ihrer Atemzüge sonst als Klassenkampf? Welche Rolle konnte sie nun während der Dauer des Krieges spielen, nachdem sie ihr Lebensprinzip: den Klassenkampf, preisgegeben hatte? Mit der Verleugnung des Klassenkampfes gab sich die Sozialdemokratie für die Dauer des Krieges selbst den Laufpaß als aktive politische Partei, als Vertreterin der Arbeiterpolitik. Damit schlug sie sich aber auch ihre wichtigste Waffe aus der Hand: die Kritik des Krieges vom besonderen Standpunkt der Arbeiterklasse. Sie überließ die „Vaterlandsverteidigung“ den herrschenden Klassen und begnügte sich damit, die Arbeiterklasse unter deren Kommando zu stellen und für die Ruhe unter dem Belagerungszustand zu sorgen, d. h., die Rolle des Gendarmen der Arbeiterklasse zu spielen.

Durch ihre Haltung hat die Sozialdemokratie aber auch noch weit über die Dauer des heutigen Krieges hinaus die Sache der deutschen Freiheit, für die nach der Fraktionserklärung die Kruppkanonen jetzt sorgen, aufs schwerste gefährdet. In den führenden Kreisen der Sozialdemokratie wird viel auf die Aussicht gebaut, daß der Arbeiterklasse nach dem Kriege eine bedeutende Erweiterung demokratischer Freiheiten, daß ihr bürgerliche Gleichberechtigung als Lohn für ihr vaterländisches Verhalten im Kriege verliehen werden würde. Aber noch nie in der Geschichte sind beherrschten Klassen politische Rechte als Trinkgeld für ihr den herrschenden Klassen genehmes Verhalten von diesen verliehen worden. Im Gegenteil ist die Geschichte mit Beispielen des schnöden Wortbruchs der Herrschenden selbst in solchen Fällen gesät, wo feierliche Versprechungen vor dem Kriege gemacht worden waren. In Wirklichkeit hat die Sozialdemokratie durch ihr Verhalten nicht die künftige Erweiterung der politischen Freiheiten in Deutschland gesichert, sondern die vor dem Kriege besessenen erschüttert. Die Art und Weise, wie in Deutschland die Aufhebung der Preßfreiheit, der Versammlungsfreiheit, des öffentlichen Lebens, wie der Belagerungszustand nun lange Monate ohne jeden Kampf, ja mit teilweisem Beifall gerade von sozialdemokratischer Seite [2*] ertragen wird, ist beispiellos in der Geschichte der modernen Gesellschaft. In England herrscht völlige Preßfreiheit, in Frankreich ist die Presse nicht entfernt derart geknebelt wie in Deutschland. In keinem Lande ist die öffentliche Meinung derart völlig verschwunden, einfach durch die offiziöse „Meinung“, durch den Befehl der Regierung ersetzt wie in Deutschland. Auch in Rußland kennt man bloß den verheerenden Rotstift des Zensors, der die oppositionelle Meinung vertilgt, gänzlich unbekannt ist dagegen die Einrichtung, daß die oppositionelle Presse von der Regierung gelieferte fertige Artikel abdrucken, daß sie in eigenen Artikeln bestimmte Auffassungen vertreten muß, die ihr von Regierungsbehörden in „vertraulichen Besprechungen mit der Presse“ diktiert und anbefohlen werden. Auch in Deutschland selbst war während des Krieges von 1870 nichts dem heutigen Zustand ähnliches erlebt worden. Die Presse erfreute sich unbeschränkter Freiheit und begleitete die Kriegsereignisse zum lebhaften Verdruß Bismarcks mit teilweise scharfen Kritiken sowie mit einem munteren Kampf der Meinungen, namentlich auch über Kriegsziele, Annexionsfragen, Verfassungsfragen usw. Als aber Johann Jacoby verhaftet wurde [4], da ging ein Sturm der Entrüstung durch Deutschland, und Bismarck hat selbst das dreiste Attentat der Reaktion als einen schweren Mißgriff abgeschüttelt. Das war die Lage in Deutschland, nachdem Bebel und Liebknecht im Namen der deutschen Arbeiterklasse jede Gemeinschaft mit den herrschenden Hurrapatrioten schroff abgelehnt hatten. Und es mußte erst die vaterländische Sozialdemokratie mit ihren 4¼ Millionen Wählern, das rührende Versöhnungsfest des Burgfriedens und die Zustimmung der sozialdemokratischen Fraktion zu den Kriegskrediten kommen, damit über Deutschland die härteste Militärdiktatur verhängt wurde, die je ein mündiges Volk über sich hat ergehen lassen. Daß derartiges heute in Deutschland möglich, ja nicht nur von der bürgerlichen, sondern von der hoch entwickelten und einflußreichen sozialdemokratischen Presse völlig kampflos, ohne jeden Versuch eines namhaften Widerstandes hingenommen wird, diese Tatsache ist für die Schicksale der deutschen Freiheit von verhängnisvollster Bedeutung. Sie beweist, daß die Gesellschaft in Deutschland für die politischen Freiheiten heute in sich selbst keine Grundlagen hat, da sie die Freiheit so leicht und ohne jede Reibung entbehren kann. Vergessen wir nicht, daß das kümmerliche Maß an politischen Rechten, das im Deutschen Reich vor dem Kriege bestand, nicht wie in Frankreich und England eine Frucht großer und wiederholter revolutionärer Kämpfe und durch deren Tradition im Leben des Volkes fest verankert ist, sondern das Geschenk der Bismarckschen Politik nach einer über zwei Jahrzehnte dauernden, siegreichen Konterrevolution. Die deutsche Verfassung war nicht auf Revolutionsfeldern gereift, sondern in dem diplomatischen Spiel der preußischen Militärmonarchie als das Zement, womit diese Militärmonarchie zum heutigen Deutschen Reich ausgebaut wurde. Die Gefahren für die „freiheitliche Entwicklung Deutschlands“ liegen nicht, wie die Reichstagsfraktion meinte, in Rußland, sie liegen in Deutschland selbst. Sie liegen in diesem besonderen konterrevolutionären Ursprung der deutschen Verfassung, sie liegen in jenen reaktionären Machtfaktoren der deutschen Gesellschaft, die seit der Gründung des Reiches einen ständigen stillen Krieg gegen die kümmerliche „deutsche Freiheit“ geführt haben; und das sind: das ostelbische Junkertum, das großindustrielle Scharfmachertum, das stockreaktionäre Zentrum, die Verlumpung des deutschen Liberalismus, das persönliche Regiment und die aus alle den Faktoren zusammen hervorgegangene Säbelherrschaft, der Zabernkurs, der just vor dem Kriege in Deutschland Triumphe feierte. Das sind die wirklichen Gefahren für die Kultur und „freiheitliche Entwicklung“ Deutschlands. Und alle jene Faktoren stärkt jetzt der Krieg, der Belagerungszustand und die Haltung der Sozialdemokratie in höchstem Maße. Es gibt freilich eine echt liberale Ausrede für die heutige Kirchhofsruhe in Deutschland: das sei ja nur „zeitweiliger“ Verzicht für die Dauer des Krieges. Aber ein politisch reifes Volk kann so wenig „zeitweilig“ auf die politischen Rechte und das öffentliche Leben verzichten, wie ein lebender Mensch auf das Luftatmen „verzichten“ kann. Ein Volk, das durch sein Verhalten zugibt, während des Krieges sei Belagerungszustand notwendig, hat damit zugegeben, die politische Freiheit sei überhaupt entbehrlich. Die duldende Zustimmung der Sozialdemokratie zum heutigen Belagerungszustand – und ihre Kreditbewilligung ohne jeden Vorbehalt wie die Annahme des Burgfriedens bedeutet nichts anderes –, muß im gleichen Maße auf die Volksmassen, diese einzige Stütze der Verfassung in Deutschland, demoralisierend wirken, wie sie auf die herrschende Reaktion, den Feind der Verfassung, ermutigend und stärkend wirkt.

Durch den Verzicht auf den Klassenkampf hat sich unsere Partei aber zugleich eine wirksame Beeinflussung der Dauer des Krieges und der Gestaltung des Friedensschlusses abgeschnitten. Und hier schlug sie ihrer eigenen offiziellen Erklärung ins Gesicht. Eine Partei, die sich feierlich verwahrte gegen alle Annexionen, d. h., gegen unvermeidliche logische Konsequenzen des imperialistischen Krieges, sofern er militärisch glücklich verläuft, lieferte zugleich durch Annahme des Burgfriedens alle Mittel und Waffen aus, die geeignet wären, die Volksmassen, die öffentliche Meinung in ihrem Sinne zu mobilisieren, durch sie einen wirksamen Druck auszuüben und so den Krieg zu kontrollieren, den Frieden zu beeinflussen. Umgekehrt. Indem sie durch den Burgfrieden dem Militarismus Ruhe im Rücken sicherte, erlaubte ihm die Sozialdemokratie, ohne jede Rücksicht auf andere Interessen als die der herrschenden Klassen seinen Bahnen zu folgen, entfesselte sie seine ungezügelten inneren imperialistischen Tendenzen, die grade nach Annexion streben und zu Annexionen führen müssen. Mit andern Worten: die Sozialdemokratie verurteilte durch die Annahme des Burgfriedens und die politische Entwaffnung der Arbeiterklasse ihre eigene feierliche Verwahrung gegen jede Annexion dazu, eine ohnmächtige Phrase zu bleiben.

Aber damit ist noch ein anderes erreicht: die Verlängerung des Krieges! Und hier ist es mit Händen zu greifen, welcher gefährliche Fallstrick für die proletarische Politik in dem jetzt geläufigen Dogma liegt: unser Widerstand gegen den Krieg könne nur solange geboten werden, als erst Kriegsgefahr bestehe. Ist der Krieg da, dann sei die Rolle der sozialdemokratischen Politik ausgespielt, dann heiße es nur noch: Sieg oder Niederlage, das heißt der Klassenkampf höre für die Dauer des Krieges auf. In Wirklichkeit beginnt für die Politik der Sozialdemokratie die größte Aufgabe nach dem Ausbruch des Krieges. Die unter einmütiger Zustimmung der deutschen Partei- und Gewerkschaftsvertreter angenommene Resolution des Stuttgarter Internationalen Kongresses von 1907 [5], die in Basel 1912 [6] nochmals bestätigt wurde, besagt:

Falls der Krieg dennoch ausbrechen sollte, ist es die Pflicht der Sozialdemokratie, für dessen rasche Beendigung einzutreten und mit allen Kräften dahin zu streben, die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttelung des Volkes auszunutzen und dadurch die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen. [7] [Hervorhebungen – RL]

Was tat die Sozialdemokratie in diesem Kriege? Das direkte Gegenteil von dem Gebot des Stuttgarter und Baseler Kongresses: sie wirkt durch die Bewilligung der Kredite und die Einhaltung des Burgfriedens mit allen Mitteln dahin, die wirtschaftliche und politische Krise, die Aufrüttelung der Massen durch den Krieg zu verhüten. Sie „strebt mit allen Kräften“ darnach, die kapitalistische Gesellschaft vor ihrer eigenen Anarchie im Gefolge des Krieges zu retten, damit wirkt sie für die ungehinderte Verlängerung des Krieges und die Vergrößerung der Zahl seiner Opfer. Angeblich wäre – wie man von den Reichstagsabgeordneten oft hören kann –, kein Mann weniger auf dem Schlachtfeld gefallen, ob die sozialdemokratische Fraktion die Kriegskredite bewilligt hätte oder nicht. Ja, unsere Parteipresse vertrat allgemein die Meinung: wir müßten gerade die „Verteidigung des Landes“ mitmachen und unterstützen, um für unser Volk möglichst die blutigen Opfer des Krieges zu verringern. Die betriebene Politik hat das Gegenteil erreicht: erst durch das „vaterländische“ Verhalten der Sozialdemokratie, dank dem Burgfrieden im Rücken, konnte der imperialistische Krieg ungescheut seine Furien entfesseln. Bisher war die Angst vor inneren Unruhen, vor dem Grimm des notleidenden Volkes der ständige Alpdruck und dadurch der wirksamste Zügel der herrschenden Klassen bei ihren Kriegsgelüsten. Bekannt ist das Wort von Bülows, daß man jetzt hauptsächlich aus Angst vor der Sozialdemokratie jeden Krieg möglichst hinauszuschieben trachte. Rohrbach sagt in seinem Krieg und die deutsche Politik auf S. VII: „Wenn nicht elementare Katastrophen eintreten, so ist das einzige, was Deutschland zum Frieden zwingen könnte, der Hunger der Brotlosen.“ Er dachte offenbar an einen Hunger, der sich meldet, der sich vernehmlich und bemerkbar macht, um den herrschenden Klassen die Rücksichtnahme auf sich nahezulegen. Hören wir endlich, was ein hervorragender Militär und Theoretiker des Krieges, General von Bernhardi, sagt. In seinem großen Werk Vom heutigen Kriege schreibt er:

So erschweren die modernen Massenheere die Kriegführung in den verschiedensten Beziehungen. Außerdem aber stellen sie an und für sich auch ein nicht zu unterschätzendes Gefahrsmoment dar.

Der Mechanismus eines solchen Heeres ist so gewaltig und kompliziert, daß er operationsfähig und lenkbar nur dann bleiben kann, wenn das Räderwerk wenigstens im großen und ganzen zuverlässig arbeitet und starke moralische Erschütterungen in größerem Umfange vermieden werden. Daß derartige Erscheinungen bei einem wechselvollen Kriege vollständig ausgeschaltet werden könnten, darauf freilich kann man ebensowenig rechnen, wie auf lauter siegreiche Kämpfe. Sie lassen sich auch überwinden, wenn sie sich in begrenztem Umfange geltend machen. Wo aber große, zusammengedrängte Massen einmal der Führung aus der Hand gehen, wo sie in panische Zustände verfallen, wo die Verpflegung in größerem Umfange versagt, und der Geist der Unbotmäßigkeit in den Scharen Herr wird, da werden solche Massen nicht nur widerstandsunfähig gegen den Feind, sondern sie werden sich selbst und der eigenen Heeresleitung zur Gefahr werden, indem sie die Bande der Disziplin sprengen, den Gang der Operationen willkürlich stören und damit die Führung vor Aufgaben stellen, die sie zu lösen außerstande ist.

Der Krieg mit modernen Heeresmassen ist also unter allen Umständen ein gewagtes Spiel, das die personellen wie finanziellen Kräfte des Staates aufs äußerste in Anspruch nimmt. Unter solchen Umständen ist es nur natürlich, daß überall Anordnungen getroffen werden, die es ermöglichen sollen, den Krieg, wenn er ausbricht, rasch zu beenden und die ungeheure Spannung rasch zu lösen, die sich aus dem Aufgebot ganzer Nationen ergeben muß. [Hervorhebungen – RL]

So hielten bürgerliche Politiker wie militärische Autoritäten den Krieg mit den modernen Massenheeren für ein „gewagtes Spiel“, und dies war das wirksamste Moment, um die heutigen Machthaber vor der Anzettelung eines Krieges zurückzuhalten wie im Falle des Kriegsausbruchs auf dessen rasche Beendigung bedacht zu sein. Das Verhalten der Sozialdemokratie in diesem Kriege, das nach jeder Richtung dahin wirkt, um „die ungeheure Spannung“ zu dämpfen, hat die Besorgnisse zerstreut, es hat die einzelnen Dämme, die der ungehemmten Sturmflut des Militarismus entgegenstanden, niedergerissen. Ja, es sollte etwas eintreten, was nie ein Bernhardi oder ein bürgerlicher Staatsmann im Traume hätte für möglich halten können: aus dem Lager der Sozialdemokratie erscholl die Losung des „Durchhaltens“, das heißt der Fortsetzung der Menschenschlächterei. Und so fallen seit Monaten Tausende von Opfern, welche die Schlachtfelder bedecken, auf unser Gewissen.

Fußnoten von Rosa Luxemburg

1*. Siehe den Artikel des Nürnberger Parteiorgans, nachgedruckt im Hamburger Echo vom 6. Oktober 1914.

2*. Die Chemnitzer Volksstimme schrieb am 21. Oktober 1914: „Jedenfalls ist die Militärzensur in Deutschland im ganzen genommen anständiger und vernünftiger als in Frankreich oder England. Das Geschrei über die Zensur, hinter dem sich vielfach der Mangel an fester Stellungnahme zum Kriegsproblem verbirgt, hilft nur Deutschlands Feinden die Lüge verbreiten, als sei Deutschland ein zweites Rußland. Wer ernsthaft glaubt, unter der jetzigen Militärzensur nicht nach seiner Gesinnung schreiben zu können, der lege die Feder aus der Hand und schweige.“



Anmerkungen

1. K. Kautsky, Wirkungen des Krieges, in: Die Neue Zeit, 32. Jg. 1913/14, Zweiter Band, S. 975.

2. K. Kautsky, Die Internationalität und der Krieg, in: Die Neue Zeit, 33. Jg. 1914/15, Erster Band, S. 248.

3. Karl Marx, Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850, in: Karl Marx u. Friedrich Engels, Werke, Bd. 7, S. 21/22.

4. Johann Jacoby, ein Arzt und Publizist, gehörte 1830 bis 1870 zu den führenden bürgerlich-demokratischen Politikern. Wegen seines Protestes gegen die Annexion Eslaß-Lothringen wurde er 1870 eingekerkert. 1872 schloß er sich der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei an.

5. Der Internationale Sozialistenkongreß in Stuttgart fand vom 18. bis 24. August 1907 statt.

6. Der Außerordentliche Internationale Sozialistenkongreß in Basel fand vom 24. bis 25. November 1912 statt.

7. Erste Beilage zum Periodischen Bulletin des Internationalen Sozialistischen Bureaus, Brüssel 1912, S. 7.


Zuletzt aktualisiert am 15.1.2012