Rosa Luxemburg


Friede und Schiedsverträge [1]

(Dezember 1916)


Spartacus, Nr. 3 vom Dezember 1916.
Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 228–231.
Mit freundlicher Genehmigung des Karl Dietz Verlag Berlin.
Transkription: Oliver Fleig und Sozialistische Klassiker.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Als vor Jahr und Tag auf Konferenzen neutraler Sozialisten [2] der Abschluß internationaler Schiedsverträge als eine Hauptaufgabe des Friedensschlusses bezeichnet wurde, erhoben wir alsbald Einspruch.

Nicht als ob wir bezweifelten, das Schiedsverträge möglich sind, sie bestehen ja schon in Menge. Auch nicht, weil wir ihnen im kapitalistischen Zeitalter jeden Nutzen für die Beilegung internationaler Streitigkeiten absprächen, das hieße die Tatsachen verleugnen.

Aber sie waren und sind Instrumente kapitalistischer Regierungen. Die Fälle, in denen sie sich bewährten, hätten auch ohne sie nicht zum Kriege geführt; die Regelung, zu der sie verhalfen, war eine Angelegenheit der herrschenden Klassen. Und solange die imperialistischen Machthaber das Heft in den Händen halten, kann es nicht anders sein.

Das wir solche Verträge, wenn sie praktisch an uns herantreten, ablehnen müßten, wäre eine törichte Meinung. Aber nicht nur töricht, sondern verhängnisvoll ist der Wahn, als seien sie Heilmittel für die internationalen Gebresten, unter denen das Proletariat seufzt. Nicht nur töricht, sondern verhängnisvoll ist es, den Kampf gegen den Krieg durch einen Kampf um Schiedsgerichte zu ersetzen oder dem Kampf um Schiedsgerichte im Kampf gegen den Krieg auch nur eine nennenswerte Rolle einzuräumen.

Für das klassenbewußte Proletariat kommt es darauf an, die Mittel zu erkennen und zu propagieren, die den jetzigen Krieg im sozialistischen Geist beenden, die Beziehungen der Völker im Interesse des internationalen Proletariats regeln und den künftigen Frieden sichern können.

Verträge kapitalistischer Regierungen aber, die nicht aus sozialistischem, sondern aus kapitalistischem Geiste geboren sind, können ihrem Wesen nach nicht im sozialistischen Geiste wirken. Und der künftige Friede kann nicht durch ein Stück Papier gesichert werden, und wenn es mit den schönsten Völkerrechtssätzen und Schiedsverträgen beschrieben wäre, nicht durch ein Stück Papier, das jeden Augenblick in Brand geschossen werden und in Rauch und Flammen aufgehen kann, wenn es einer imperialistischen Räuberbande gefällt, noch durch den „guten Willen“ und die rechtliche „Moral“ kapitalistischer Diplomaten.

Auch wir fordern „reale Garantien“. Freilich nicht im Sinne der herrschenden Klassen.

Was wir brauchen, das ist ein Friede des Proletariats, nicht des Imperialismus, ein Friede, der durch das Eingreifen der Arbeiterklasse herbeigeführt wird, nicht durch die Diplomatie noch durch die Kanonen, nicht durch die Hindenburg, Krupp und Bethmann Hollweg, sondern gegen sie; das ist ein Friede, dessen Gestaltung bestimmt und dessen Erhaltung gesichert ist durch die Macht und den Willen der aktionsfähigen und aktionsbereiten Massen. Und nur ein solcher Friede unter der Garantie des klassenbewußten Proletariats trägt auch die Gewähr der Dauer in sich.

Der Schiedsgedanke, wie ihn die neutralen sozialistischen Konferenzen vertraten, ist nicht nur utopisch, sondern gefährlich und schädlich, weil er Illusionen über den möglichen Sinn und die mögliche Wirksamkeit diplomatischer Abmachungen kapitalistischer Regierungen und Irrtümer über Wesen und Macht des Imperialismus erweckt; gefährlich und schädlich, weil er die politische Orientierung der Massen, ihre Einsicht in die wirklichen Zusammenhänge und Triebkräfte der Entwicklung verbaut und verwirrt, weil er die Aufmerksamkeit des Proletariats von dem ablenkt, worauf es für die Arbeiter allein ankommt, von den einzigen spezifisch proletarischen Mitteln, die ihnen für ihren Friedenskampf zu Gebote stehen.

In diesem Kampf hängt alles, aber auch alles davon ab, das die Arbeiterklasse jede Hoffnung auf fremde Hilfe fahrenläßt, sich auf sich selbst als ihre einzige Rettung besinnt, ihre Ziele aufstellt und zu deren Verfolgung ihre eigene gesellschaftliche Macht ausbildet und einsetzt.

Nur ein Friedenskampf unter solchen Voraussetzungen, in dem das Proletariat als selbständiger politischer Faktor in der ihm als Klasse eigentümlichen Art auftritt, ist imstande, sich über sein unmittelbares Friedensziel hinaus zu dem auszuwachsen, was er kraft der historischen Aufgabe des Proletariats zugleich sein muß: zur entscheidenden Auseinandersetzung mit den imperialistischen Mächten, zum Ringen um die Staatsgewalt, um die sozialistische Gesellschaftsordnung.

Die Forderung des Erfurter Programms: „Schlichtung aller internationalen Streitigkeiten auf schiedsgerichtlichem Wege“ [3] steht unsrer Auffassung nicht im Wege. Sie ist nur im Zusammenhang des ganzen „Gegenwartsprogramms“ zu verstehen, von dem sie einen unlöslichen Teil bildet; im Zusammenhang vor allem mit der Forderung der demokratischen Volkswehr und der demokratischen Entscheidung über Krieg und Frieden. Es hieße diese Forderung in ihr Gegenteil verkehren, wollte man sie als ein Vertrauensvotum für kapitalistische Regierungen, als Kundgebung der Zuversicht auf diplomatische Abmachungen des Imperialismus deuten. Es hieße dem Proletariat statt Promethidentrotzes die Rolle eines hoffnungsvollen Toren ansinnen.

Mit gutem Grunde sind unsere Leitsätze vom Januar 1916 [4] der landläufigen Schiedsgerichtduselei entgegengetreten. Mit gutem Grunde haben sie den Blick auf das eine und einzige gelenkt, das dem Friedenskampf der Arbeiterklasse zum Siege verhelfen kann: auf die selbständige opferbereite Aktion der Massen.

Gerade heute muß diese Wahrheit mit feurigen Zungen gepredigt werden.

Immer eifriger beginnen die offiziellen Geschäftsträger der herrschenden Klassen, die den Weltkrieg heraufbeschworen, in ihr Falschspiel der Völkerverwirrung auch die falsche Karte des Schiedsgedankens einzumischen. Wilson, Grey und natürlich auch der deutsche Kanzler – sie allesamt erklären sich bereit, einem „Völkerbunde“ beizutreten, ja sogar – man denke! – „an die Spitze eines Völkerbundes zu treten, der die Friedensstörer im Zaume hält“.

Und „wie der Herre, so’s Gescherre“. Wie die Staatsdiplomatie, so ihre „sozialdemokratischen“ Reklametrommler. In Deutschland am meisten. Eifrig verbreiten sie den demagogischen Humbug und plustern ihn auf, um die Regierung mit einer Glorie zu umgeben und ihr die Massen zuzutreiben, um das Proletariat einzulullen und von seiner eigenen Politik abzulenken. Wie sie die Grundlagen des Parteiprogramms verraten haben, so schlachten sie jetzt seine einzelnen Worte nur noch aus, um die Massen unter das Kommando der herrschenden Klassen zu stellen.

Der Manchester Guardian zerpflückt den Schwindel mit kühler Gelassenheit. Der Friedensbund würde, so sagt er, an sich keinen Krieg verhüten; doch würde er – man denke! – das „traurige Schauspiel verhindern, das die Führer zweier Völker nach 27 Monaten Krieg sich noch darüber streiten können, wie der Krieg in die Welt gekommen ist“.

Wir wissen, das alle kapitalistischen Friedensbünde der Welt nicht einmal auch nur dieses „traurige Schauspiel“ verhindern werden und das es, um die Kriege zugleich mit der diplomatischen Schwarzkunst und ihren höllischen Machenschaften auszurotten, nur ein Mittel gibt: das internationale Proletariat durch Klassenkampf zum bestimmenden Faktor der Geschichte zu machen.

Anmerkungen

1. Der Artikel ist nicht gezeichnet; in Die Rote Fahne (Berlin), Nr. 9 vom 11. Januar 1925, Militärische Beilage Nr. 4 wird Rosa Luxemburg als Verfasserin genannt.

2. Eine Konferenz der sozialdemokratischen Parteien neutraler Länder am 17 und 18. Januar 1915 in Kopenhagen, an der Vertreter aus Schweden, Norwegen, Holland und Dänemark teilnahmen, appellierte an die neutralen Regierungen, zwischen den kriegführenden Ländern zu vermitteln, um einen baldigen und dauerhaften Frieden zu erreichen. Es wurde dabei an die Forderungen des Internationalen Sozialistenkongresses in Kopenhagen 1910 erinnert, die u. a. die Einrichtung obligatorischer internationaler Schiedsgerichte einschlossen.

3. Siehe Das Erfurter Programm im Archiv Geschichte.MIA

4. Diese Thesen wurden mit einigen Änderungsvorschlägen Karl Liebknechts nach der Diskussion auf der Konferenz der Gruppe Internationale am 1. Januar 1916 gebilligt und nach redaktioneller Bearbeitung als Leitsätze über die Aufgaben der internationalen Sozialdemokratie u. a. als Flugblatt, in den Politischen Briefen, Nr. 14 vom 3. Februar 1916, sowie als Anhang zur Junius-Broschüre illegal verbreitet.


Zuletzt aktualisiert am 14.1.2012